Filmregisseur Amit V. Masurkar war für seinen Hindi-Film Film SHERNI (2021) also erneut im Dschungel. Und diesmal ist diese Wildnis mehr als ein angeblich bedrohliches Versteck für Terroristen, vor denen der unfreiwillige Wahlhelfer Rajkummar Rao in Masurkars NEWTON (2017) lange Zeit zittert. Der Dschungel in SHERNI ist nicht nur Zentrum des Geschehens, er ist der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Denn auch wenn die Handlung um von einem Tiger getötete Landbewohner und um die versuchte Rettung eines weiteren Tigers die eigentliche Spannungs-Story ausmacht, hat die von Vidya Balan gespielte Hauptfigur einer leitenden Wildhüterin es mit sämtlichen komplexen Problemen des durch den Menschen in seiner Existenz und Substanz bedrohten Dschungels zu tun. Für Viehzucht und Getreideanbau, aber auch für die Ausbeutung von Bodenschätzen, was riesige Löcher in die Erde reißt, werden die dicht bewaldeten Flächen immer kleiner und auch unzusammenhängender, flickenteppichartig, was die Bewegung von Tieren einschränkt.
Und der Dschungel bestimmt auch die Struktur und den Stil des Films, der aus vielen Fragmenten, Mosaiksteinen besteht, um so nach und nach den Zuschauer mit dem, was der Dschungel bedeutet, fürs Klima, für die Tiere, für die Menschen, vertraut zu machen. Dabei geht es ganz explizit nicht um die menschliche Vorstellung vom Dschungel, etwa den mystischen, bedrohlichen oder – wie in Bimal Roys MADHUMATI (1958) – den märchenhaften Dschungel. Auch wenn es sehr schöne Bilder wie etwa Kleintiere in Großaufnahme, dazu auch düster poetische Nachtaufnahmen, gibt, steht der Dschungel in seiner biologischen, ökologischen und ökonomischen Funktion im Mittelpunkt.
Vom Menschen konstruierte Mystik entsteht allenfalls durch den unsichtbar bleibenden Blick des Tigers, der überall sein kann. Es fällt der Satz, dass, wenn man einmal einen Tiger sieht, er einen vorher schon 99 Mal gesehen hat. Doch im Ganzen demystifiziert Masurkar außer dem Dschungel auch den Tiger, der einfach nur die richtigen Lebensumstände braucht, um für die an der Peripherie lebenden Menschen keine Gefahr zu sein. Aber die Gesellschaft ergeht sich lieber in Tigerpanik, in Menschenfresserhysterie. Hier wird der Film kurz sehr böse und satirisch, was ja die Stärke von NEWTON war: Die Bilder schütten Verachtung und Hohn über die bewusst und mit offensichtlicher Freude Panik verbreitenden TV-Sender aus, die damit wie gewohnt ihre Quoten in die Höhe treiben wollen. Die ganze Nation sitzt davor und lässt sich mit wohligem Schauder manipulieren.
Die von Vidya Balan
gespielte Wildhüterin ist für den Tigerbestand verantwortlich. Ein
Tiger hat Dorfbewohner getötet. Man weiß nicht genau, um welches
Tier es sich handelt. Der Film besteht aus den folgenden, kein Ende
nehmenden Konflikten um das Tigerproblem. Balan spielt ihre Figur mit
konzentrierter Innerlichkeit. Sie ist Beamtin und zeigt nicht so
leicht Gefühle. Sie befiehlt mit sanfter Autorität, wird nie
verbissen. Aber man spürt, dass ihre Arbeit ihr am Herzen liegt. Der Ehemann arbeitet woanders, was sie offensichtlich gut
verschmerzen kann. Eine der Qualitäten des Films ist das Dokumentarische, das beispielsweise die Wildhüter einfach nur bei der Arbeit zeigt.
Masurkar interessiert sich für jedes kleinste Detail der technischen
Aufspürung von Tigern. Da folgt die Kamera auch mal zwei unwichtigen
Nebenfiguren, um ihre Tätigkeit visuell festzuhalten.
Und es geht in SHERNI um die Bürokratie, die die Dinge oft nur komplizierter macht, selbst wenn sie mal Gutes im Sinne hat. So müssen die Bewohner eines Dorfes gezwungenermaßen zur Fütterung von Tieren auf den gefährlichen Dschungel ausweichen, weil aus dem alten Feld eine Teak-Baum-Plantage wurde. Allerdings erfüllte man damit nur einen Regierungsauftrag, nach dem pro Jahr 100.000 Bäume gepflanzt werden müssen. Deshalb kann man Balans Figur auch dabei sehen, wie sie mit Dorfbewohnern an Projekten arbeitet, die sie unabhängiger vom Dschungel machen sollen. Für klassische Spannung sorgt ein wild gewordener Jäger mit seiner Besessenheit, einen Tiger zu töten. Die Genehmigung hat er natürlich. Privilegierte bekommen alles. Überall. Erst ganz am Ende verliert die Beamtin die Selbstkontrolle, wird gegenüber Vorgesetzten immer deutlicher, fordernder und nicht zuletzt vorwurfsvoller und sorgt so natürlich für eine Versetzung ins Nirgendwo.
Der Film hat zwar ein
heimliches Happy End für zwei kleine Tiere. Aber da wir hier nicht
bei Disney sind, erspart Masurkar uns nicht einen ironisch pessimistischen, deprimierend muffig riechenden Schluss, bei dem alle
Lichter über einer toten, ausgestopften Erinnerungswelt ausgehen.
Falsche Hoffnung wird hier nicht geweckt. Und bis zum Schluss bewahrt
der Film seine Ruhe und sein Gleichgewicht. Eine Kritikerin hat
SHERNI vorgeworfen, das Drehbuch sei „unflashy“, also
unauffällig, unaufdringlich. Wo doch gerade darin die große
Qualität des Films besteht. SHERNI gehört zu den besten Hindi-Filmen des Jahres.