Das Warten hatte also
endlich ein Ende. SUPER 30 (2019) kam in die Kinos. Und die Zuschauer können einen spannenden und flüssig erzählten Film entdecken, der
gleichzeitig eine soziale Botschaft beinhaltet. Daher wurde er in
einigen indischen Bundesstaaten von der Steuer ausgenommen. Der Film handelt
von Anand Kumar, dem international bekannten Lehrer, der mittellose
junge Menschen auf die Zugangsprüfung der indischen technischen Elite-Unis, ITT genannt,
vorbereitet. Da die Geschichte an sich bekannt und vorhersehbar ist,
bestand die Kunst also darin, es trotzdem interessant zu machen. Und
da ist zu aller erst natürlich der Star, und zwar mit Hrithik Roshan
einer der charismatischsten. Aber auch einer der
hellhäutigsten. Über seine leichte Gesichtsbräunung rümpften
manche Kritiker die Nase. Mir ist so was egal.
Woran ich mich auch nicht
festbeißen werde, und auch gar nicht könnte, selbst wenn ich
wollte, das ist sein Akzent, bei dem ich natürlich nicht beurteilen
kann, ob er falsch klingt oder nicht. Obwohl ich durchaus höre, dass er
sehr, stark ist. Aber es gab ja schon andere Schauspieler, die in der
Beziehung zu viel Ehrgeiz hatten. Kim Novak hat mit ihrem
unnatürlichen, verkrampften Cockney-Akzent in ON HUMAN BONDAGE
(1964) ihre Regisseure zur Verzweiflung gebracht. Und so gut mir
Roshan vor allem in den kämpferischen, tatkräftigen oder auch
düsteren Szenen gefällt, so sehr geht er mir auf die Nerven als
junger Naiver mit diesem Lächeln und den großen, großen Augen. Das
erinnerte mich an seine Darstellung in KOI MIL GAYA (2003) und den
Film habe ich bis heute nicht bis zum Ende geguckt.
Bei der visuellen
Gestaltung schon spürt man den Willen, bei dem Thema bloß nicht
dröge zu wirken, es nicht wie ein graues Sozialdrama aussehen zu lassen. Die
Naturgewalten spielen eine große Rolle, steigern die Dramatik, sind
aber auch symbolisch, so wie Regen und Gewitter, als die Brüder
versuchen, den Vater mit dem Fahrrad zum Krankenhaus zu bringen und
dann die Kette reißt. Da geht die Kamera weit nach oben in die
Vogelperspektive, als guckte das Schicksal mitleidlos von oben zu.
Aber dann sind es auch wieder Stationen zu dem, was im Film
jedenfalls wie Kumars Bestimmung wirkt. Denn nur durch den Tod des
Vaters fährt er selbst als Verkäufer herum, um die Familie zu
ernähren. Und nur dadurch rutscht er in das Geschäft mit der
Nachhilfe.
Der Film ist sehr
temporeich, intensiv erzählt, dicht geschnitten und passt sich dem
schnell denkenden Hirn der Protagonisten und der energiegeladenen
Darstellung Roshans an. Dennoch habe ich mich während der
Kinovorstellung immer wieder gefragt, ob der Film in der Beziehung
eigentlich noch ein Film von Vikas Bahl ist oder ob Anurag Kashyap
dem Ganzen sehr heftig seinen Stempel aufgedrückt hat. Oder sagen
wir es anders herum: Ich hätte den Film zwar vom Thema her, aber
nicht vom Stil her für einen Film von Vikas Bahl gehalten. Der ist
der entspannte Regisseur der Träume, des Wirklichwerdens des Unmöglichen. Sein
letzter, sehr schöner, sehr poetischer und, wenn ich mich recht
erinnere, zwischendurch sehr witzige Film war ja SHAANDAAR (2015),
ein unverdienter Riesenflop, den aber jetzt auf einmal alle
wunderschön finden. Wo waren die Leute bloß damals im Kino? Davor
hatte er mit Kangana Ranaut QUEEN (2014) gedreht, die Geschichte
einer jungen Frau, die entdeckt, dass sie ein eigenes Leben haben
kann. Sie realisiert sozusagen den Traum von sich selbst. Und ganz am
Anfang stand der auch für Erwachsene empfehlenswerte Kinderfilm
CHILLAR PARTY (2011), eine gemeinsame Arbeit mit Nitesh Tiwari, der
zuletzt den Aamir-Khan-Erfolg DANGAL inszeniert hat. Wenn die armen
Jugendlichen sich in SUPER 30 mit selbstgebastelten Waffen gegen
einen mörderischen Angriff wehren, dann erinnert das an den
Erfindungsreichtum, mit dem die solidarischen Kinder in CHILLAR 30
gegen die Eltern und die Erwachsenenwelt vorgehen. Was alle diese
Filme gemeinsam haben, ist, dass sie dem Zuschauer zwischendurch
Ruhe, etwas Luft zum Atmen gönnen. SUPER 30 zieht einen aber von der
ersten bis zur letzten Minute unaufhörlich mit.
SUPER 30 ist vor allem
ein Film über einen Lehrer und seine Schüler, die unbestreitbar
intelligent sind, Wissen haben, das Lernen lieben, aber angesichts
ihrer armen Herkunft zunächst mit Sperren im Kopf herumlaufen, weil
sie ihre Position in der Klassengesellschaft verinnerlicht haben. Das
Betreten des ITTs stellen sie sich vor als Spießrutenlaufen zwischen
feinen, gut gekleideten, des Englischen fließend mächtigen
Studenten. Daher besteht die Hauptaufgabe von Anand Kumar darin, ihre
Köpfe frei zu machen für all die Prüfungsfragen bezüglich Logik und
Zusammenhängen. Der Film zeigt sehr schön, dass er mehr als Wissen
in sie hineinprügelt, dass alles vornehmlich eine Bewusstseinssache
ist. Da kann er auch grausam sein, wie bei der peinlichen
Schüler-Aufführung auf Englisch, bei der die Reichen sich kringelig
lachen, was dann aber in ein selbstbewusstes, rhythmusbetontes Lied mündet. Ich habe
mir mal die Prüfungen der letzten Jahre angeguckt und aus Spaß zwei
Aufgaben in der Originalsprache Englisch herausgesucht. Wie man
sieht, kann man mit den Fragen auch als Nicht-Naturwissenschaftler
einiges an Gehirnjogging-Spaß haben:
1. Beispiel:
The Buddha said,
“Holding on to anger is like grasping a hot coal with the intent of
throwing it at someone else; you are the one who gets burnt.
Select the word below
which is closest in meaning to the word underlined above.
(A)burning (B)igniting
(C)clutching (D)flinging“
2. Beispiel
Among 150 faculty members
in an institute, 55 are connected with each other through Facebook®
and 85 are connected through WhatsApp®. 30 faculty members do not
have Facebook® or WhatsApp® accounts. The number of faculty members
connected only through Facebook® accounts is ______________.
(A)35 (B)45 (C)65 (D)90
[Quelle:
http://gate.iitm.ac.in/gateqps.php]
Was man übrigens nicht
vergessen darf, ist, dass der Film als Rückblende erzählt wird.
Einer von Kumars Schülern spricht Jahre später als erfolgreicher
Wissenschaftler vor einem großen Auditorium. Und es ist bezeichnend,
dass er ganz individuell von der Verbesserung der Lebensumstände
seiner eigenen Familie spricht, was sich dann über Generationen
hält. Das ist ein bisschen ironisch, denn wenn man erst einmal oben
ist, profitiert man von dem, wogegen man als Armer gekämpft hat. Es
ist also kein Film gegen die Klassengesellschaft oder für ein
anderes System. Auch wenn sich durch den Aufstieg von Menschen
niedriger sozialer Herkunft in die Elite von ganz alleine zumindest ein bisschen innerhalb des Systems ändert.
Es geht in SUPER 30 darum, dass jeder
nach seinen Fähigkeiten leben kann. Und wenn jemand brillant und von
Mathematik besessen ist, soll er das auch ein ganzes Leben lang machen
dürfen. Das System, das mehrmals als "feudalistisch" bezeichnet wird, muss
also durchlässig sein, was nicht von jedem gewünscht
wird. Daher gibt es einen Klassenkampf im Film. Und zwar wird er
von oben mit aller Härte initiiert und geführt. Das bietet Roshan Gelegenheit,
seine Hero-Qualitäten im Kampf gegen das Böse unter Beweis zu
stellen. Da gibt es das wirklich entlarvende Porträt eines indischen
Provinzpolitikers, der sich in das einträgliche Nest des
groß organisierten Nachhilfeunterrichts gesetzt hat. Und Kumar gefährdet seine Henne mit den goldenen Eiern. Außerdem
geht es natürlich ums Prinzip. Jeder Studienplatz für einen Armen
ist einer weniger für einen Reichen.