Zwei Menschen, die etwas
neben sich stehen, während sie leicht automatisiert ihr Leben in
immer denselben Bahnen leben, sind die Hauptfiguren von Ritesh Batras
neuem Film PHOTOGRAPH (2019), der in seinem deutschen Titel noch das schwerfällige und eher abschreckende Anhängsel EIN FOTO VERÄNDERT IHR LEBEN FÜR IMMER bekommen hat. Da ist einmal die schweigsame
Einserstudentin, eine angehende Wirtschaftsprüferin, Tochter einer
gut bürgerlichen Familie. Und dann ist da der Straßenfotograf mit
seinem Hauptstandort Gateway of India, dem Touristensammelpunkt, in
dessen direkter Nähe auch das berühmte Taj-Mahal-Hotel liegt. Beide
funktionieren perfekt, leben aber etwas auf Distanz zu den
Menschen in ihrer Nähe. Bei einem dieser Bilder, die der Photograph
von Touristen und Passanten macht und dann auf seinem kleinen
portablen Drucker ausdruckt, gerät er an das Mädchen, doch sie
verschwindet, bevor sie das Foto bekommen und es bezahlen kann. Einer
angehenden Wirtschaftsprüferin sollte so was eigentlich nicht
passieren.
Der Clou des Films
besteht nun darin, dass es hier keine Liebe auf den ersten Blick
gibt. Da sucht nicht der eine den anderen mit brennendem Herzen. Es
ist eine ganz sachliche Angelegenheit, die die beiden wieder zusammenkommen lässt. Denn um Ruhe zu haben vor seiner auf dem Land lebenden
Großmutter, damit die ihn endlich mit ihrem Drängen auf eine Heirat
in Frieden lässt, schreibt er ihr eines Nachts einen Brief und legt das
Foto dieser Fremden als seine vermeintliche Braut dazu. Dass er damit
rechnen muss, dass die Oma das Mädchen jetzt kennen lernen will,
hätte ihm natürlich klar sein müssen, aber dann gäbe es ja keinen
Film. Und das wäre doch schade. Durch einen Zufall findet er das
Mädchen wieder und bittet sie, für die scharfsinnige Oma so zu tun, als wäre sie seine Braut. Indem sie dann gemeinsam Ehepaar und zusammen mit der alten Frau sogar Familie
spielen, lernen diese beiden Menschen sich langsam näher kennen, was
wegen der Klassen- und Herkunftsunterschiede normalerweise nicht
passieren würde. Es ist wie eine von Gott arrangierte Ehe. Die Liebe
kommt später, still und ganz langsam.
Vor einigen Jahren war
Ritesh Batras kleiner Liebesfilm LUNCHBOX (2013) mit Nawazuddin
Siddiqui ein viel beachteter internationaler Erfolg. Das Muster
dieses Films hat der Regisseur für PHOTOGRAPH wiederholt: Zwei Fremde finden
langsam zueinander und vielleicht auf lange Sicht aus ihrem
einschläfernden Alltagstrott heraus in etwas Neues. Dann drehte
Batra zwei Filme im Ausland. Erst die Netflix-Produktion OUR SOULS AT
NIGHT (2017) mit Robert Redford und Jane Fonda. Und dann fürs Kino
die britische Literaturverfilmung DAS ENDE EINER GESCHICHTE (2018)
mit Jim Broadbent und Charlotte Rampling. Gut besetzt sind alle seine
Spielfilme, das ist sozusagen die halbe Miete für das Gelingen
seiner Filme. Das gilt auch für PHOTOGRAPH mit Nawazuddin Siddiqui
und der aus dem Ringer-Film DANGAL (2016) bekannten Sanya Malhotra,
die beide zu einer stillen und subtilen Spielweise fähig sind. Zwei
im Vergleich zu Batras internationalen Filmen also wieder jüngere
Helden, auch wenn da natürlich noch die extrovertierte alte
Großmutter in der Gestalt von Farrukh Jaffar ist, die man aus Filmen
wie UMRAO JAAN (1981), SWADES (2004) mit Shah Rukh Khan oder SULTAN
(2016) mit Salman Khan kennt. Dann ist da noch Jim Sarbh als etwas zu
zudringlicher Lehrer. Eine echte kleine Starbesetzung also, die ganz
wunderbar funktioniert.
Batra benutzt eine Story
des populären Kinos, erzählt sie nur etwas einfacher,
realistischer, stiller, aber auch mit leisem Humor und Ironie. Obwohl
der Realismus ein bisschen auch ein Schein-Realismus ist, wenn man
mal anfängt, die logischen Details der Geschichte genauer zu
untersuchen. Aber es ist ein sympathisches Kino, dass es
weder auf das große stilistische, visuelle Meisterwerk anlegt, noch
durch aufgesetzte Düsternis auf den internationalen Festivals um
Aufmerksamkeit fleht. Batra scheut die großen Konflikte, die tiefen
Abgründe. Egal, was passiert, es herrscht immer eine gewisse
Harmonie vor, aber immer eingebettet in eine realistische,
authentische, bodenständige Atmosphäre und eine ökonomische
Erzählweise mit Leerstellen, also ohne dass es diese unangenehme,
ausgedehnte, alles aussprechende Feelgood-Movie-Anbiederung ohne
jedes Geheimnis gibt, die bei mir eine dumpfe geistige Leere erzeugt. Um jetzt mit dieser Aussage nicht zu abstrakt zu bleiben, hier zwei Beispiele: Trotz der wunderbaren Schauspieler, die
mitspielen, fallen für mich in diese Kategorie die beiden Filme von
Gauri Shinde, ENGLISH VINGLISH (2012) und DEAR ZINDAGI (2016). Und
übrigens viele der französischen bürgerlichen Komödien der
letzten Jahre.
Aber so groß die Distanz
zum knallig-bunten Bollywood-Film bei Batra auch ist, so ist die
Musik im indischen Alltag nun mal so allgegenwärtig, dass es auch in
PHOTOGRAPH ein bisschen muntere Klänge gibt. Und ins Kino geht man
auch, aber nicht in ein Multiplex, sondern in ein billiges, ein
One-Screen-Kino, das ältere Filme zeigt und in dem die eine oder
andere Ratte auch ohne Dauerkarte durch die Zuschauerreihen huscht.
Denn anhand der beiden Figuren erzählt Batra vor allem von zwei
Lebenswelten. Einmal die der städtischen, bürgerlichen,
wohlgeordneten Welt. Und dann die der Welt der Zuwanderer vom Land,
die zwar in der Stadt arbeiten, deren Gedankenwelt aber noch sehr
ländlich und traditionell ist und die ihr Geld meist an die Familie
schicken. Und das Mädchen findet nicht nur Gefallen an dem Mann,
sondern vor allem auch an der Welt, die er und seine Großmutter
verkörpern. Die schönste und ironischste Darstellung der
Unterschiede zwischen beiden Welten ist, dass die einen von
Straßenständen essen können, ohne krank zu werden. Das Mädchen
jedoch bekommt von hausgemachtem Wassereis eine kleine
Darmverstimmung. Wie eine Touristin also, die das echte Indien nicht
gewohnt ist. Und bei aller Harmonie schwelt eine gewisse Düsternis
unter der Oberfläche, denn einer der Zimmerbewohner der Zuwanderer
hat sich vor einiger Zeit am Ventilator aufgehängt und spukt seitdem
durch den Raum. Tatsächlich erscheint er in einer Szene dem
Protagonisten, der ihn fragt, warum er das getan habe. Tiefe Ursache
war wohl das, was auch der Film erzählt. Eine ungleiche
Liebesgeschichte.