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Freitag, 16. August 2019

Ritesh Batras PHOTOGRAPH – Ein Foto und zwei Fremde

Zwei Menschen, die etwas neben sich stehen, während sie leicht automatisiert ihr Leben in immer denselben Bahnen leben, sind die Hauptfiguren von Ritesh Batras neuem Film PHOTOGRAPH (2019), der in seinem deutschen Titel noch das schwerfällige und eher abschreckende Anhängsel EIN FOTO VERÄNDERT IHR LEBEN FÜR IMMER bekommen hat. Da ist einmal die schweigsame Einserstudentin, eine angehende Wirtschaftsprüferin, Tochter einer gut bürgerlichen Familie. Und dann ist da der Straßenfotograf mit seinem Hauptstandort Gateway of India, dem Touristensammelpunkt, in dessen direkter Nähe auch das berühmte Taj-Mahal-Hotel liegt. Beide funktionieren perfekt, leben aber etwas auf Distanz zu den Menschen in ihrer Nähe. Bei einem dieser Bilder, die der Photograph von Touristen und Passanten macht und dann auf seinem kleinen portablen Drucker ausdruckt, gerät er an das Mädchen, doch sie verschwindet, bevor sie das Foto bekommen und es bezahlen kann. Einer angehenden Wirtschaftsprüferin sollte so was eigentlich nicht passieren.

Der Clou des Films besteht nun darin, dass es hier keine Liebe auf den ersten Blick gibt. Da sucht nicht der eine den anderen mit brennendem Herzen. Es ist eine ganz sachliche Angelegenheit, die die beiden wieder zusammenkommen lässt. Denn um Ruhe zu haben vor seiner auf dem Land lebenden Großmutter, damit die ihn endlich mit ihrem Drängen auf eine Heirat in Frieden lässt, schreibt er ihr eines Nachts einen Brief und legt das Foto dieser Fremden als seine vermeintliche Braut dazu. Dass er damit rechnen muss, dass die Oma das Mädchen jetzt kennen lernen will, hätte ihm natürlich klar sein müssen, aber dann gäbe es ja keinen Film. Und das wäre doch schade. Durch einen Zufall findet er das Mädchen wieder und bittet sie, für die scharfsinnige Oma so zu tun, als wäre sie seine Braut. Indem sie dann gemeinsam Ehepaar und zusammen mit der alten Frau sogar Familie spielen, lernen diese beiden Menschen sich langsam näher kennen, was wegen der Klassen- und Herkunftsunterschiede normalerweise nicht passieren würde. Es ist wie eine von Gott arrangierte Ehe. Die Liebe kommt später, still und ganz langsam.

Vor einigen Jahren war Ritesh Batras kleiner Liebesfilm LUNCHBOX (2013) mit Nawazuddin Siddiqui ein viel beachteter internationaler Erfolg. Das Muster dieses Films hat der Regisseur für PHOTOGRAPH wiederholt: Zwei Fremde finden langsam zueinander und vielleicht auf lange Sicht aus ihrem einschläfernden Alltagstrott heraus in etwas Neues. Dann drehte Batra zwei Filme im Ausland. Erst die Netflix-Produktion OUR SOULS AT NIGHT (2017) mit Robert Redford und Jane Fonda. Und dann fürs Kino die britische Literaturverfilmung DAS ENDE EINER GESCHICHTE (2018) mit Jim Broadbent und Charlotte Rampling. Gut besetzt sind alle seine Spielfilme, das ist sozusagen die halbe Miete für das Gelingen seiner Filme. Das gilt auch für PHOTOGRAPH mit Nawazuddin Siddiqui und der aus dem Ringer-Film DANGAL (2016) bekannten Sanya Malhotra, die beide zu einer stillen und subtilen Spielweise fähig sind. Zwei im Vergleich zu Batras internationalen Filmen also wieder jüngere Helden, auch wenn da natürlich noch die extrovertierte alte Großmutter in der Gestalt von Farrukh Jaffar ist, die man aus Filmen wie UMRAO JAAN (1981), SWADES (2004) mit Shah Rukh Khan oder SULTAN (2016) mit Salman Khan kennt. Dann ist da noch Jim Sarbh als etwas zu zudringlicher Lehrer. Eine echte kleine Starbesetzung also, die ganz wunderbar funktioniert.

Batra benutzt eine Story des populären Kinos, erzählt sie nur etwas einfacher, realistischer, stiller, aber auch mit leisem Humor und Ironie. Obwohl der Realismus ein bisschen auch ein Schein-Realismus ist, wenn man mal anfängt, die logischen Details der Geschichte genauer zu untersuchen. Aber es ist ein sympathisches Kino, dass es weder auf das große stilistische, visuelle Meisterwerk anlegt, noch durch aufgesetzte Düsternis auf den internationalen Festivals um Aufmerksamkeit fleht. Batra scheut die großen Konflikte, die tiefen Abgründe. Egal, was passiert, es herrscht immer eine gewisse Harmonie vor, aber immer eingebettet in eine realistische, authentische, bodenständige Atmosphäre und eine ökonomische Erzählweise mit Leerstellen, also ohne dass es diese unangenehme, ausgedehnte, alles aussprechende Feelgood-Movie-Anbiederung ohne jedes Geheimnis gibt, die bei mir eine dumpfe geistige Leere erzeugt. Um jetzt mit dieser Aussage nicht zu abstrakt zu bleiben, hier zwei Beispiele: Trotz der wunderbaren Schauspieler, die mitspielen, fallen für mich in diese Kategorie die beiden Filme von Gauri Shinde, ENGLISH VINGLISH (2012) und DEAR ZINDAGI (2016). Und übrigens viele der französischen bürgerlichen Komödien der letzten Jahre.

Aber so groß die Distanz zum knallig-bunten Bollywood-Film bei Batra auch ist, so ist die Musik im indischen Alltag nun mal so allgegenwärtig, dass es auch in PHOTOGRAPH ein bisschen muntere Klänge gibt. Und ins Kino geht man auch, aber nicht in ein Multiplex, sondern in ein billiges, ein One-Screen-Kino, das ältere Filme zeigt und in dem die eine oder andere Ratte auch ohne Dauerkarte durch die Zuschauerreihen huscht. Denn anhand der beiden Figuren erzählt Batra vor allem von zwei Lebenswelten. Einmal die der städtischen, bürgerlichen, wohlgeordneten Welt. Und dann die der Welt der Zuwanderer vom Land, die zwar in der Stadt arbeiten, deren Gedankenwelt aber noch sehr ländlich und traditionell ist und die ihr Geld meist an die Familie schicken. Und das Mädchen findet nicht nur Gefallen an dem Mann, sondern vor allem auch an der Welt, die er und seine Großmutter verkörpern. Die schönste und ironischste Darstellung der Unterschiede zwischen beiden Welten ist, dass die einen von Straßenständen essen können, ohne krank zu werden. Das Mädchen jedoch bekommt von hausgemachtem Wassereis eine kleine Darmverstimmung. Wie eine Touristin also, die das echte Indien nicht gewohnt ist. Und bei aller Harmonie schwelt eine gewisse Düsternis unter der Oberfläche, denn einer der Zimmerbewohner der Zuwanderer hat sich vor einiger Zeit am Ventilator aufgehängt und spukt seitdem durch den Raum. Tatsächlich erscheint er in einer Szene dem Protagonisten, der ihn fragt, warum er das getan habe. Tiefe Ursache war wohl das, was auch der Film erzählt. Eine ungleiche Liebesgeschichte.