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Samstag, 26. Februar 2022

Leena Yadavs HOUSE OF SECRETS – THE BURARI DEATHS  – Selbstmord, Kult, Mord?

Leena Yadavs DAS HAUS DER GEHEIMNISSE: DIE TOTEN VON BURARI ist ein durch und durch geordneter Film. Obwohl es um ein auf den ersten Blick unheimliches, bizarres Thema geht, bleibt der Film die gesamten drei Folgen der insgesamt zwei Stunden übersichtlich und klar verständlich. Alles ist in Form einer chronologischen Darstellung strukturiert und sehr übersichtlich. Diese leider wahre Geschichte geht den Weg von fiktionswürdiger Erzählung über seltsame Fantasien hin zu dem, was sich tatsächlich vor elf Jahren abgespielt hat im Stadtteil Burari von Delhi, einer Gegend für die untere und mittlere Mittelschicht. Aber Fakten können ja oft viel schlimmer sein als die Fiktion.

Die Sache scheint zunächst klar zu liegen: Es handelt sich scheinbar um den Selbstmord der elfköpfigen Großfamilie Chundawat. Der Film beginnt mit den nächsten Nachbarn, Polizisten sind natürlich auch da, Menschen, die zuerst am Tatort waren. Sie erzählen Tatsachen, die vermeintlich so gesehen wurden, wie sie passiert sind. Und niemand, der am Tatort war, hat diesen Anblick vergessen. Da sind auch riesige Menschenmassen, dazu eine unangenehme Meute an nicht zu stoppenden aufdringlichen Journalisten. Die Polizei hat Schwierigkeiten, für Ordnung zu sorgen. Straßen und Dächer der Gegend sind in jeder Ecke bevölkert von neugierigen Menschen.

Und plötzlich geht es überraschend in eine ganz andere Richtung, mitten in einer verstörenden, aber realistisch scheinenden Selbstmordgeschichte kommt der gar nicht so abwegige Verdacht auf etwas Übernatürliches, Kultiges auf. Viele kleine Dinge scheinen darauf hinzuweisen. Das mehrfache Auftauchen der Zahl elf am Haus und im Leben der Familie.  Eine schuldig scheinende Nachbarin, die man für eine Tantrikerin hält. Alles Dinge, mit denen man die Titelseiten der Sensationspresse füllen kann. Eine Gelegenheit, die diese auch nutzt. Der Höhepunkt sind elf geheimnisvolle Tagebücher des Sohnes Lalit Singh, versteckt im ganzen Haus, verfasst im Lauf der vergangenen elf Jahre. Sie enthalten vermeintliche Botschaften des Geistes des verstorbenen Vaters, dessen Willen befolgt werden soll, damit es der Familie gut geht. Und es ist tatsächlich gerade eine Zeit, in der es der Familie scheinbar gut geht. Aber diese Spur verläuft sich.

Am Ende kommt der Film zum Kern des Geschehens. Eine Wissenschaftlerin bemängelt, dass sich bisher niemand für die kleinen Details, für das wahre Geschehen interessiert hat. Jeder bewertet das Vorgefallene nach seinen eigenen Vorstellungen, den persönlichen Werten und Erwartungen. Die sachlichen Befragungen von Arzt und Psychiaterinnen und einer ernst zu nehmenden Journalistin bringen die Dinge in ein klareres Licht. Wie angenommen, steht der Sohn im Mittelpunkt. Aber anders als angenommen. Er hatte zwei traumatische Erlebnisse, von denen alles seinen Ausgang nahm. Zum einen hatte er einen schweren Sturz. Außerdem versuchte man, nach einem Streit mit dem Arbeitgeber, ihn anzuzünden. Fast wäre er verbrannt.

Das führt zur Entstehung eines Traumas, wie es jeden treffen kann. Lalit redet nicht mehr, schweigt, singt dann plötzlich bei einer Familien-Pooja, einem gemeinsamen familiären Anbetungsritual. So verschafft er sich die patriarchalische Herrschaft, stattet sich mit Autorität aus, an der seine Familie nicht einen Momnent zu zweifeln scheint... So hat er in seinen privaten,vertraulichen Tagebüchern selbst nie von der väterlichen Stimme aus dem Totenreich gesprochen, denn dann hätte sich der überirdische Glaube an seine Worte in Luft aufgelöst. Die Familie hätte nicht mehr geglaubt, dass er überirdische Inhalte transportierte.

Wiederholt sieht man Bilder der Toten, von den Beinen, vom Haus, der Wohnung, den knapp über dem Boden baumelnden Füßen. Dabei geht es auch um die Folgen, die das Geschehen auf Nachbarn und Bekannte hat. Sie reden über die Auswirkungen, hören nicht auf zu rätseln. Bei der Beerdigung hat man zu wenig Priester. Der Sohn zündet notgedrungen alle Scheiterhaufen selbst an.  Die Story ist voll solcher scheinbar kleiner und unbedeutender Details, die aber emotionale Folgen für das ganze Leben haben werden. Es gibt beispielsweise eine aussagekräftige Szene, wo eine Frau in einer Art Abwehrhaltung abwinkt, weil man die Dinge hinnehmen müsse ohne viel zu fragen, während die andere Frau nicht aufhört zu weinen. Und immer wieder sieht man den Stadtteil Burari aus allen Perspektiven, zu jeder Tages- und Nachtzeit, in allen Dimensionen. So holt der Film das Geschehen in unseren eigenen Alltag. Man kann es nicht einfach wegschieben als etwas Fremdes, Skurriles. Es  kann jedem passieren.

Mittwoch, 23. Februar 2022

Shakun Batras GEHRAIYAAN – Liebe, Geld und Betrug

 

Geschichten übers Fremdgehen waren mal eine haarige Angelegenheit im indischen Kino. Es gab sie, aber sie erregten oft Aufmerksamkeit. Selbst beliebte Filme wie SILSILA (1981) von Yash Chopra und der davon inspirierte KABI ALIVIDA NAA KEHNA (2006) von Regisseur und Drehbuchautor Karan Johar konnten in ihrer Entstehungszeit in konservativen Kreisen noch moralische Kritik hervorrufen. Ein anderes umstrittenes, aber auch beliebtes Thema war der verliebte Psychopath, der oft auf viel Sympathie stieß. Der Psychopath war vor allem eine Gelegenheit, schauspielerisch zu glänzen. Shah Rukh Khan hat zwei legendäre Psychofiguren in seiner Filmografie. Im Endeffekt geht es dann aber doch wie gewohnt um Liebe und Romantik. In Shakun Batras brandneuer Regiearbeit GEHRAIYAAN (2022), seinem dritten Spielfilm, ist dies anders. Interessanterweise hat Johar den Film zum Teil mitproduziert.

GEHRAIYAAN kann mit zwei Stars aufwarten, einmal Deepika Padukone in der Hauptrolle und Naseeruddin Shah in einer Nebenrolle als ihr Vater. Es ist eine auf einige wenige Figuren konzentrierte Geschichte. Vier junge Leute, zwei Pärchen um die 30, machen zu Beginn einen Ausflug ins Wochenendhaus. Gerade zwischen den beiden, wo es nicht funken sollte, beginnt das Feuer zu glimmen. Zwischen Padukones Alisha, einer Yoga-Lehrerin, unzufrieden verlobt, und dem Unternehmer, Siddhart Chaturvedis Zain, der eigentlich kurz vor der Hochzeit mit der reichen Tia steht. Es geht hin und her, zwischen Leidenschaft und Zögern, schlechtem Gewissem und Ausleben der Gefühle.

GEHRAIYAAN (2022) spielt in der Welt der Reichen und der Kapitalisten, die oft gar nicht so reich sind, wie es den Anschein hat. Es geht hier vor allem um Geld, für das man alles tut, vor allem, wenn die Existenz der Firma auf dem Spiel steht. Die materialistische Welt des Kapitalismus kennt kein Mitleid. Es ist eine Haifischwelt der Betrüger. Motto: Bevor ich gefressen werde, muss ich andere fressen. Ist man Opfer eines Betrügers in großem Stil geworden, stellt sich einfach nur die Frage, wie oder ob man aus dieser Notlage wieder herauskommt. Und dafür muss man bereit sein, zu jeder Methode zu greifen. Hier ist nicht das Individuum psychopathisch, sondern das System, in dem es existiert.

Vieles ist nicht so, wie es scheint, wird von einem Geheimnis umgeben. Auch zwischen Deepika Padukone und ihrem Film-Vater Naseeruddin Shah lebt die Lüge. Denn GEHRAIYAAN ist eine Familiengeschichte – wie schon KAPOOR &  SONS (2016) --  ein Film über Familiengeheimnisse. Es ist ein nüchterner Film, mit einer abgedunkelten Optik, die sich intensiv und ruhig seinen Figuren und ihren Handlungsmotiven annähert. So haben die Szenen auf dem Meer ein tiefes, kräftiges Blau. Das Meer spielt eine Schlüsselrolle. Die Gefahr des Untergangs in der haltlosen Tiefe besteht jederzeit.

Samstag, 19. Februar 2022

Shoojit Sircars SARDAR UDHAM – Die Ideologie des Revolutionärs

 

Am 13. April 1919 fand im Punjab, in Amritsar, ein brutales Massaker mit knapp 400 Toten statt. Die Briten hatten im Vorfeld eine Ausgangssperre mit Schießbefehl verkündet, aber niemand rechnete damit, dass die, wohlgemerkt, vorwiegend aus Indern bestehende Armee, auf friedliche Menschen, darunter viele Kinder und Alte, schießen würde.Versammelt hatte sich die große Menge in dem zu allen Seiten von einer Mauer verschlossenen Park Jallinwallah Bagh. Hauptverantwortlicher war der Vize-Gouverneur des Punjab, Michael O'Dwyer. Befehlshabender Offizier war Colonel Reginald Dyer. Hauptweck war, ganz einfach formuliert, erzieherischer Terror durch die Verbreitung von Angst, damit die Menschen zu Hause bleiben und gehorchen.

1940 wurde der inzwischen nach England zurückgekehrte O'Dwyer von einem den Kommunisten nahestehenden Attentäter erschossen. Aus diesem Stoff hat Shoojit Sircar mit SARDAR UDHAM (2021) seinen bis jetzt besten Film gemacht. Lange hatte er diesen Film geistig in Planung. Sircars Filme sind ja sehr wechselhaft. Er ist am besten, wenn es um Klares, Ernsthaftes, Politisches geht wie in YAHAAN (2005), MADRAS CAFE (2013) oder OCTOBER (2018). Bei einem Film wie GULABO SITABO (2020) allerdings, mit seinem schwer verdaulichen skurrilen Humor, wird er sehr schnell gewollt, verkrampft, banal und, ohne auch nur ansatzweise komisch zu sein.

Beginnend mit der Entlassung Udham Singhs aus dem Gefängnis nach einigen Jahren Haft, wird die auf Tatsachen beruhende Geschichte dieses Attentäters erzählt, wobei man sich natürlich dramaturgische Freiheiten nimmt. Gezeigt werden die Auswirkungen dieses schicksalhaften Tages auf einen glücklich verlobten jungen Mann.

Er ist aber vor allem geprägt von aktiver politischer Arbeit, denn der Sikh Singh gehört ja zu den Kommunisten. Er ist Teil des Umfelds des Märtyrers des antibritischen Widerstands Bhagat Singh, der bekanntlich nicht mit einer Gefängnisstrafe davonkam, sondern am 23.3.1931 wegen der Ermordung eines Polizisten hingerichtet wurde. Alles bleibt ganz persönlich. Das Innenleben Udham Singhs ist hier ebenso wichtig wie die äußeren Ereignisse. Ideologischer Unterbau der revolutionären Handelns ist eine Grundlage. Die Beziehung zu Bagath Singh ist vor allem eine persönliche, freundschaftliche, bei der man sich auch gemeinsam betrinkt.

Am Ende steht er Aug in Auge mit dem Tod. Eine äußerst lange Rückblende, die die Details des Massakers zeigt, ist die Schlüsselszene. Es ist eine starke Szene, die an die Grenze des Erträglichen geht, eine bewusst lange Szene, die kein Ende zu nehmen scheint, sodass man es kaum noch aushält als Zuschauer. Man versteht Singhs persönliche Involviertheit in dieses Kolonialverbrechen. Er kümmert sich wie ein Bessener um Verletzte, transportiert sie mit einer Schubkarre weg, immer mehrere auf einmal. Eine Anwohnerin hilft, dann bringt er die Menschen in ein riesiges,  restlos überfülltes Krankenhaus. Blut, Wunden, die Leichen und Verletzten liegen dicht beieinander und in engen Haufen zusammen.

Singh wird in London sogar Angestellter von O'Dwyer. Dieser gibt kein Wort des Bedauerns von sich. Er bemüht sich nicht einmal, eine Entschuldigung zu erfinden. Er ist überzeugt von der Tat, da sie ihren Zweck erreicht hat. Singh selbst zögert zunächst damit, zu töten. Er ist kein Killer, hat offensichtlich den Wunsch, den Verantwortlichen zu verstehen. Aber nach und nach sieht er das rettungslos Böse. Übrigens ja auch stellvertretend für die Zeit an sich. Den zeitlichen Rahmen bilden Radiosendungen, in denen es um Mussolini und Hitler geht.

Der stimmungsmäßig passende visuelle Rahmen wird durch eine abwechslungsreiche ausgeklügelte Nutzung von Licht und Schatten erzeugt, das ebenso weich-grell wie weich-weiß sein kann. Manchmal zerfasert es im Halbdunkel. Schneeweißes Licht fällt durch die Fenster der dunklen Räume. In Britannien, in Nordeuropa herrscht eine kühle Atmosphäre mit viel Schnee vor. Es berzeichnet die Abgründe, in denen der Revolutionär lebt, während der staatliche Mörder sich unter allen Umständen das Leben leicht macht.

Sonntag, 21. November 2021

Rakeysh Omprakash Mehras TOOFAAN – Ein Solo für Farhan

 

Zunächst schaue man sich mal sorgfältig das offizielle Amazon-Prime-Plakat – hier handelt es sich ja um eine Streaming-Premiere – zu dem neuen Hindi Box-Film TOOFAAN (2021) an. Inszeniert hat das Ganze MILKA-Regisseur Rakeysh Omprakash Mehra, und Farhan Akhtar spielt die alles dominierende Hauptrolle. Jedenfalls sieht man auf diesem Plakat einen jungen Mann im Boxring, der angriffslustig nur nach vorne schaut. Schwer zu sagen, auf jeden Fall vermittelt es das Gefühl, da wäre doch ein junger Boxer. Und die Kriterien kann der 47-jährige Farhan Akhtar nicht erfüllen, auch wenn man ihn großzügig als 40-Jährigen durchgehen lassen kann. Da ich vorher von dem Film nichts wusste, war ich ehrlich erstaunt, als mir klar wurde, dass er selbst diesen Boxdebütanten spielt, der sich vom prügelnden Geldeintreiber zum Boxchampion wandelt. Natürlich nicht ohne vorher viele Hindernisse, die so ein Filmboxer eben überstehen muss, hinter sich zu bringen.

Nicht, dass es das nicht gäbe. Auch US-Boxer George Foreman hat sich in dem Alter noch in den Ring geschleppt, aber er war unübersehbar langsam und etwas übergewichtig. Er wollte halt verständlicherweise noch einmal abkassieren. Und auch jemand wie SCREAM-Schauspieler David Arquette ist noch einmal im Alter in den aktiven Wrestling-Kampf eingestiegen, aber er hat die Gegner nicht wie in einem Wirbelsturm weggefegt. Er wollte einfach sich und anderen beweisen, dass er ein echter Wrestler ist.

Dabei will ich gar nicht sagen, dass TOOFAAN ein schlechter Film. Er hat seine Augenblicke und technisch ist er perfekt und hübsch anzugucken. Es ist kein B-Film. Und Akhtar scheint es ernst zu sein mit der Rolle, bei der er gleichzeitig subtil arbeitet und schwitzend schauspielert. Vor dem Film wurden seine muskelbildenden Trainingseinheiten in der Presse ja auch genügend ausgeschlachtet. Was den Film als Ganzes angeht, so kommt es mir übrigens vor, als hätte man sich gesagt: „Wir haben das Geld für einen großen Boxfilm und Material für drei. Bringen wir unter, was wir können. Und dann bringt man wirklich alles unter, was irgendwie geht und wo Akhtar vor allem seine Starqualitäten und das Training ausstellen kann.

Es wird in TOOFAAN eben so viel der Reihe nach abgehakt, was in so einem Film alles passieren kann. Es gibt eine problemlose Loslösung vom alten Gangsterjob, denn der Gangster ist ein echter Ersatzpapa. Die Frau, die er kennenlernt, ist natürlich die Tochter seines Trainers, was er erst ganz spät herausbekommt. Und der Trainer mag zufälligerweise keine Moslems, zumindest nicht in seiner Familie, wegen des Todes seiner Frau bei einem Terroranschlag. Und dann folgen Bestechung, Sperre, Comeback: Der Boxer darf Jahre später und noch älter erneut mal trainieren und bei Wettbewerben kämpfen. Da gibt es Schiedsrichterbetrug, aber der wird ausgerechnet vom Moslemhasser-Papa aufgedeckt. Ein echtes Märchen. Masala in Realismus-Verpackung. Aber wir sind ja noch nicht durch. Ich hatte vergessen, dass die Frau des Boxers in einer Massenpanik stirbt und er jetzt alleinerziehender Vater ist.. Man müsste ja denken, dass angesichts all dieser Ereignisse zumindest eine gewisse Intensität geschaffen wird. Vorherrschend ist aber eine übervolle Langsamkeit, die irgendwann ganz einfach Langeweile erzeugt. Mit seiner Länge von 162 Minuten hat man sich aber auch wirklich keinen Gefallen getan.

Freitag, 10. September 2021

Amit Masurkars SHERNI – Vidya Balan im Dschungel

Filmregisseur Amit V. Masurkar war für seinen Hindi-Film Film SHERNI (2021) also erneut im Dschungel. Und diesmal ist diese Wildnis mehr als ein angeblich bedrohliches Versteck für Terroristen, vor denen der unfreiwillige Wahlhelfer Rajkummar Rao in Masurkars NEWTON (2017) lange Zeit zittert. Der Dschungel in SHERNI ist nicht nur Zentrum des Geschehens, er ist der Mittelpunkt, um den sich alles dreht. Denn auch wenn die Handlung um von einem Tiger getötete Landbewohner und um die versuchte Rettung eines weiteren Tigers die eigentliche Spannungs-Story ausmacht, hat die von Vidya Balan gespielte Hauptfigur einer leitenden Wildhüterin es mit sämtlichen komplexen Problemen des durch den Menschen in seiner Existenz und Substanz bedrohten Dschungels zu tun. Für Viehzucht und Getreideanbau, aber auch für die Ausbeutung von Bodenschätzen, was riesige Löcher in die Erde reißt, werden die dicht bewaldeten Flächen immer kleiner und auch unzusammenhängender, flickenteppichartig, was die Bewegung von Tieren einschränkt.

Und der Dschungel bestimmt auch die Struktur und den Stil des Films, der aus vielen Fragmenten, Mosaiksteinen besteht, um so nach und nach den Zuschauer mit dem, was der Dschungel bedeutet, fürs Klima, für die Tiere, für die Menschen, vertraut zu machen. Dabei geht es ganz explizit nicht um die menschliche Vorstellung vom Dschungel, etwa den mystischen, bedrohlichen oder – wie in Bimal Roys MADHUMATI (1958) – den märchenhaften Dschungel. Auch wenn es sehr schöne Bilder wie etwa Kleintiere in Großaufnahme, dazu auch düster poetische Nachtaufnahmen, gibt, steht der Dschungel in seiner biologischen, ökologischen und ökonomischen Funktion im Mittelpunkt.

Vom Menschen konstruierte Mystik entsteht allenfalls durch den unsichtbar bleibenden Blick des Tigers, der überall sein kann. Es fällt der Satz, dass, wenn man einmal einen Tiger sieht, er einen vorher schon 99 Mal gesehen hat. Doch im Ganzen demystifiziert Masurkar außer dem Dschungel auch den Tiger, der einfach nur die richtigen Lebensumstände braucht, um für die an der Peripherie lebenden Menschen keine Gefahr zu sein. Aber die Gesellschaft ergeht sich lieber in Tigerpanik, in Menschenfresserhysterie. Hier wird der Film kurz sehr böse und satirisch, was ja die Stärke von NEWTON war: Die Bilder schütten Verachtung und Hohn über die bewusst und mit offensichtlicher Freude Panik verbreitenden TV-Sender aus, die damit wie gewohnt ihre Quoten in die Höhe treiben wollen. Die ganze Nation sitzt davor und lässt sich mit wohligem Schauder manipulieren.

Die von Vidya Balan gespielte Wildhüterin ist für den Tigerbestand verantwortlich. Ein Tiger hat Dorfbewohner getötet. Man weiß nicht genau, um welches Tier es sich handelt. Der Film besteht aus den folgenden, kein Ende nehmenden Konflikten um das Tigerproblem. Balan spielt ihre Figur mit konzentrierter Innerlichkeit. Sie ist Beamtin und zeigt nicht so leicht Gefühle. Sie befiehlt mit sanfter Autorität, wird nie verbissen. Aber man spürt, dass ihre Arbeit ihr am Herzen liegt. Der Ehemann arbeitet woanders, was sie offensichtlich gut verschmerzen kann. Eine der Qualitäten des Films ist das Dokumentarische, das beispielsweise die Wildhüter einfach nur bei der Arbeit zeigt. Masurkar interessiert sich für jedes kleinste Detail der technischen Aufspürung von Tigern. Da folgt die Kamera auch mal zwei unwichtigen Nebenfiguren, um ihre Tätigkeit visuell festzuhalten.

Und es geht in SHERNI um die Bürokratie, die die Dinge oft nur komplizierter macht, selbst wenn sie mal Gutes im Sinne hat. So müssen die Bewohner eines Dorfes gezwungenermaßen zur Fütterung von Tieren auf den gefährlichen Dschungel ausweichen, weil aus dem alten Feld eine Teak-Baum-Plantage wurde. Allerdings erfüllte man damit nur einen Regierungsauftrag, nach dem pro Jahr 100.000 Bäume gepflanzt werden müssen. Deshalb kann man Balans Figur auch dabei sehen, wie sie mit Dorfbewohnern an Projekten arbeitet, die sie unabhängiger vom Dschungel machen sollen. Für klassische Spannung sorgt ein wild gewordener Jäger mit seiner Besessenheit, einen Tiger zu töten. Die Genehmigung hat er natürlich. Privilegierte bekommen alles. Überall. Erst ganz am Ende verliert die Beamtin die Selbstkontrolle, wird gegenüber Vorgesetzten immer deutlicher, fordernder und nicht zuletzt vorwurfsvoller und sorgt so natürlich für eine Versetzung ins Nirgendwo.

Der Film hat zwar ein heimliches Happy End für zwei kleine Tiere. Aber da wir hier nicht bei Disney sind, erspart Masurkar uns nicht einen ironisch pessimistischen, deprimierend muffig riechenden Schluss, bei dem alle Lichter über einer toten, ausgestopften Erinnerungswelt ausgehen. Falsche Hoffnung wird hier nicht geweckt. Und bis zum Schluss bewahrt der Film seine Ruhe und sein Gleichgewicht. Eine Kritikerin hat SHERNI vorgeworfen, das Drehbuch sei „unflashy“, also unauffällig, unaufdringlich. Wo doch gerade darin die große Qualität des Films besteht. SHERNI gehört zu den besten Hindi-Filmen des Jahres.