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Sonntag, 27. Dezember 2020

PAAVA KADHAIGAL – Die seelische Leere der Ehre

 

Auf Netflix erscheint PAAVA KADHAIGAL (2020) als kleine vierteilige tamilische Serie, jeder 35-minütige Abschnitt mit jeweils eigenem Vor- und Nachspann, aber eigentlich handelt es sich um einen Episodenfilm, in dem die Einzelteile lose thematisch verbunden sind. Der eher seltsame Titel PAAVA KADHAIGAL (2020), also „Sündhafte Geschichten“, könnte irgendwie übrig geblieben sein von dem ursprünglichen Plan, ein Remake des Hindi-Episodenfilms LUST STORIES (2018) zu machen. Und eigentlich hat man das Thema umgedreht. In einer Gesellschaft mit engmaschigen Kasten- und Moralregeln erscheint normal menschliches Verhalten schnell als sündhaft. Hier handelt es sich übrigens um die erste tamilische Eigenproduktion von Netflix, wo ja leider immer noch ein großes Übergewicht an Hindi-Filmen herrscht.

PAAVA KADHAIGAL enthält vier Geschichten mit sozial-politischer Thematik, und wenn man schon einen Katalog gesellschaftlicher Probleme abarbeiten will, dann tatsächlich am besten auf die episodische Art. Eins nach dem anderen in einer abgeschlossenen Geschichte. Es gibt ja bei uns heutzutage gerne die Tendenz, in Filmen und Serien die cool angesagten Sorgenthemen strichlistenartig abzuarbeiten, um im Sinne der staatspolitisch wertvollen Kultur der Problem- und Bevölkerungsdiversität möglichst alles in einem Werk unterzubringen, ganz ohne Rücksicht auf Dramaturgie und erzählerisches Gleichgewicht. Aber zurück nach Südindien.

Der gemeinsame Nenner der vier Filme auf PAAVA KADHAIGAL ist die sogenannte Ehre, die ja in dem Wort Ehrenmord auftaucht, das man ruhig benutzen sollte, wenn man denn diese Ehre als geistige Perversion definiert. Es geht vorwiegend um Eltern und um Kinder, deren reine Existenz plötzlich ein Stigma, einen Schandfleck im engmaschigen Netz der gesellschaftlichen Normen darstellt. Mord ist da eine ganz logische Lösung. Und so sehr in diese Verbrechen auch religiöse Vorschriften und Gesetze hineinspielen, vollzieht sich der Mechanismus auf einer rein gesellschaftlichen, materiellen Ebene. Aber es ist ein ambivalentes Thema, und da sollte jeder in sich selbst hineingucken, um die eigenen Dämonen zu sehen. Und auch die entsprechende Episode „Vaanmagal“ macht es sich nicht leicht. Denn wenn etwa ein Bruder den oder die Vergewaltiger seiner Schwester umbringt, nicken wir da nicht vielleicht zustimmend, spüren ein bisschen Befriedigung angesichts der vollbrachten Gerechtigkeit? Aber das ist doch auch ein Ehrenmord!

Ein verbreitetes Verhalten herauszuholen aus der Normalität, das macht PAAVA KADHAIGAL inhaltlich bedeutsam. Die Geschehnisse wirken in der verkürzten Form umso heftiger, da sie nicht durch endlose Erzählebenen überlagert werden, die die Laufzeit eines Spielfilms füllen sollen. Rein filmisch hat mich allerdings nur ein Beitrag wirklich beeindruckt. Vieles ist eben sehr vorhersehbar, da es möglichst grässlich und schwer erträglich sein soll.

Sehr vorhersehbar ist „Oor Iravu“ von Vetrimaaran, nur dass es ganz bewusst weit über die Schmerzgrenze hinaus geht. Ein Vater lockt die schwangere Tochter zurück ins Heimatdorf, um sie da zu vergiften. Das Gift wirkt anders als gedacht, und es gibt einen unendlich langen Todeskampf. Dabei ruht die Kamera die meiste Zeit auf dem Vater, gespielt von Prakash Raj, der eine beängstigende, seelenlose Präsenz entwickelt und neben den vielen ausgezeichneten Darstellern die bleibende Erinnerung des Gesamtfilms ist.

In „Thangam“ von Sudha Kongara, geht es um einen jungen homosexuellen Mann, der eine Frau sein will und Geld für eine Operation spart. Er opfert sich für seine Schwester und seinen Freund, die gemeinsam durchbrennen und in der Großstadt heiraten. Ein Jahr später erfahren sie, dass der Bruder und Schwager umgebracht wurde. Interessant an dem Film ist, trotz der vorhersehbaren Handlung, die Charakterisierung des jungen Mannes, der sich in seiner Angst und Verlorenheit ein prophylaktisch aggressives Verhalten angewöhnt hat. Er hat sich in seinen besten Freund verliebt, was kein Wunder ist, da dieser vermutlich der einzige Mensch ist, der jemals wirklich nett zu ihm gewesen ist. „Vaanmagal“ von Gautham Menon schildert das Dilemma einer glücklichen Familie angesichts des Problems, wie sie mit der Vergewaltigung der 12-jährigen Tochter durch Freunde des Bruders umgehen soll. Kein einfacher Weg wird aufgezeigt, es sei denn, man befreit sich von der Angst darüber, was die anderen sagen, man erkennt das Konzept der Ehre als Konzept der kollektiven Unterdrückung an.

„Love Panna Uttranum“ von Vignesh Shivan ist der Beste der vier Filme. Ein Politiker muss gegen seine Überzeugung handeln und lässt seine Tochter und deren Freund umbringen. Da reist die Zwillingsschwester aus der Großstadt an. Diese Episode meidet den reinen Sozialrealismus und legt angesichts eines bedrückenden Themas keine falsche, ehrfürchtige Pietät an den Tag. Sie führt nicht in die geistige Verzweiflungssackgasse. Durch kruden Humor und einen Sinn für das Absurde ist Shivan so dem Wahnsinn des Kastensystems besser auf der Spur als die, die einfach nur zeigen, was da ist. Der Politiker, der mit Kaste Wahlkampf macht, ist plötzlich im eigenen Haus wie ein Gefangener der in der Vergangenheit selbst herbeigerufenen Dämonen.