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Mittwoch, 30. Dezember 2020

PAATAL LOK (Staffel 1) – Zwischen den drei Welten

Die Amazon-Hindi-Serie PAATAL LOK (2020) ist ein aus neun Folgen bestehender Polizeithriller. Verantwortlich für das Produkt sind vor allem ein Autor, zwei Regisseure und eine Produzentin. Führender kreativer Kopf, der „Creator“, ist Drehbuchautor Sudip Sharma, der zwei der besten Hindi-Filme der letzten Jahre geschrieben hat, zwei Filme von Abhishek Chaubey: UDTA PUNJAB (2016) und SONCHIRIYA (2019). Inszeniert wurde PAATAL LOK von zwei Regisseuren. Einmal Avinash Arun, hauptberuflich Cinematographer, der mit dem Regiedebüt KILLA (2014) einen sehr schönen Filme über und mit Kindern gedreht hat. Und dann Prosit Roy, der bei dem Horrorfilm PARI (2018) Regie geführt hat. Produzentin ist Hindi-Filmstar Anushka Sharma, bei der die Arbeit hinter der Kamera inzwischen weit mehr als nur ein zweites Standbein ist.

Im Mittelpunkt der Story stehen zwei Polizisten. Hauptfigur ist der ältere der beiden, Hathiram Chaudhary, gespielt von dem ausgezeichneten und authentischen Jaideep Ahlawat, der einem zwar schon in Nebenrollen durchaus aufgefallen ist, aber da doch im Schatten der Stars stand. Hathiram hat die Erfahrung, aber auch die ernüchternde und ermüdende Routine von 15 Dienstjahren hinter sich, wobei er unterwegs auf der Karriereleiter steckengeblieben und von untauglicheren, aber anpassungsfähigeren Beamten überholt worden ist. Er ist nicht so gut darin, in die Hintern von Vorgesetzten zu kriechen, aber mit den nötigen großen Ermittlungserfolgen hapert es auch. Er ist kurz vor dem Resignieren und macht seinem neuen jungen und unerfahrenen Partner, dem aber im Gegensatz zu ihm noch eine mögliche große Karriere bevorsteht, nicht viel Hoffnung. Mit dieser von Ishwak Singh verkörperten Figur des noch etwas naiven und zurückhaltenden Imran Ansari lernt der Zuschauer alles kennen. Hathiram und Imran sind ein Hindu-Moslem-Team, was auch thematisiert wird.

PAATAL LOK ist eine Serie über Klasse und Kaste, über getrennt voneinander existierende Welten in einer Gesellschaft, einem Staat. Eine kleine Eingangsrede Hathirams für den Neuling dient als Vorbereitung auf das, was diesen erwartet. Himmel, Erde, Hölle, das wird von Hathiram bezogen auf bestimmte Stadtteile Delhis und was sie für den Polizisten und seine Karriere bedeuten: Was in der Hölle, der Unterwelt, passiert, interessiert sowieso keinen. Und das, was im Himmel passiert, dringt sowieso niemals nach draußen oder es macht Ärger. Karriere macht man mit erfolgreichen Ermittlungen auf der Erde, der Zwischenwelt.

Erste große Szene des Films ist die Verhaftung von vier jungen Leuten aus einem Auto heraus auf einer Brücke. Die Anklage lautet auf Verschwörung zum Mord. Das Opfer soll ein links-liberaler Starjournalist sein, der gerade um seine Karriere kämpfen muss. Mit seinen Recherchen ist er ausgerechnet dem Besitzer des Senders, für den er arbeitet, auf die Füße getreten. Die beiden in diesem Fall zuständigen Polizisten Hathiram und Imran müssen jetzt Beweise heranschaffen und ermitteln erst einmal Namen und die Hintergrundgeschichte der vier Angeklagten. Und so beginnt der Film, zwischen den Welten hin- und herzuspringen. Vom abseitigen Dorf, in dem Kastenverbrechen geschehen, hin zum dekadenten Großstadthotel. Reichtum und Armut. Psychische Wohlstandsprobleme und Kampf ums Überleben. Von der Liebe zu Hunden zum brutalen Serienmörder. Visuell sorgt das für viel Abwechslung – vom sauberen, lichterfüllten Glanz hin zu dunklen Gassen, engen Treppen, schmutzigen Ecken. Es ist eine Ausdehnung in alle Richtungen. In Delhi vertikal von oben nach unten, in allen drei Welten. Dann eine horizontale Ausdehnung in die Provinz, aufs Land, wo die Kaste ein tödlich endendes Problem sein kann, wo legale und illegale Verbrechen Hand in Hand gehen. Da gibt es mehr oder weniger vertauschbare Gangster, Politiker, Geschäftsleute.

Auch wenn fast ein bisschen zu mustergültig indische Problembereiche durchexerziert und es zu jedem Gangster oder Verbrechen gefühlsmäßig eine soziologische oder psychologische Erklärung gibt, wie das heutzutage in Mode ist, entkommt der Film der Gefahr, ein Themenfilm zu sein. Denn PAATAL LOK hat, verstärkt noch in der zweiten Hälfte, eine mitunter fast schon irritierend lockere Struktur, sodass man nie das Gefühl des ideologischen Zeigens oder der politischen Belehrung hat. Alles wird ohne große Empörung, ohne künstliche Aufregung registriert. Trotz der Action-Szenen, trotz großer Nähe zu den Figuren behält die Serie einen ruhigen Rhythmus. Es gibt Abschweifungen, Rückblenden. Es geht darum, die drei Welten sichtbar, fühlbar zu machen.

Die Auflockerung der Erzählstruktur ab der fünften Folge hängt auch zusammen mit dem Bruch in der Geschichte. Die ersten vier Folgen sind noch ein relativ dichter, erzählerisch stringenter Thriller und plötzlich erfolgt die Suspendierung der Hauptfigur vom Dienst und dessen Erkenntnis, dass man einer Scheinspur gefolgt ist, der man brav folgen sollte. Aber Hathiram will es sich selbst beweisen und stolpert von nun an auf eigene Faust durch die drei Welten, um die Wahrheit herauszufinden, und stößt dabei auf das System, das hinter allem steht. Es mag die Trennung der Welten geben, aber im Endeffekt hängt doch alles zusammen und dahinter steht das System. Wie jemand sagt: das System funktioniert, ist immer da, und bloß die Menschen werden ausgetauscht.

Daher ist in PAATAL LOK der Weg, der Akt der Aufklärung wichtiger als die Auflösung. Es ist keine Rebellen-Serie von einem, der auszog, die Welt zu verändern. Denn das System ändert sich nicht. Man kann es eine Weile verlangsamen, Strukturen offenlegen, aber es bleibt unaufhörlich in Gang. Egal ob in Indien oder auch in den USA, wo man sich heutzutage bei der Wahlfälschung sogar ungestraft filmen lassen kann, ohne dass es die System-Medien auch nur im Geringsten interessiert. So schafft PAATAL LOK es, durchgehend politisch ambivalent zu bleiben, wodurch ein abstraktes und kein politisch korrektes Unwohlsein entsteht. Auf der einen Seite gibt es abscheuliche Verbrechen an Menschen niedriger Kasten, auf der anderen Seite spielen die Dalits gewalttätige Hilfsarmee für zweifelhafte Politiker, die sich für sie einsetzen, nur um bei Wahlen ihre Stimmen zu bekommen. Um sich dann nach persönlichen Kontakten mit heiligem Wasser zu waschen.

Der liberale Journalist wird, wie bei uns im Westen, ein Vertreter der gleichgeschalteten Fake-News-Medien, spielt aber weiter den Linken, ist aber bloß nur noch ein Teil des internationalen Reichensozialismus, wo alles nur dafür da ist, die Reichen reicher und die Mächtigen mächtiger zu machen. Folglich bleibt dem einzelnen Menschen nur das Individuelle, das Private, dem ab der fünften Folge viel mehr Raum gegeben wird. Und so besteht das Happy-End nicht darin, dass der Held irgendwelche Bürokraten-Hintermänner ausfindig gemacht hat, sondern dass er mit seiner so lange dysfunktionalen Familie, mit Frau und Sohn, gemeinsam auf der Kirmes ist und dass er in seiner Arbeit seine Würde und sein Selbstvertrauen wiedergewonnen hat.