Aashiq Abus neuer
Malayalam-Film VIRUS (2019) beruht auf wirklichen Ereignissen des vergangenen Jahres. 2018 brach in einer nördlichen Region des südindischen
Bundesstaates Kerala der Nipah-Virus aus. 17 Menschen starben. Die
Symptome des Nipah-Virus, der in Indien eine durchschnittliche
Sterblichkeitsrate von 75% hat, sind Kopfschmerzen, Schwindel,
Fieber und Übergeben. Das erste Mal ist dieser Virus 1998 in
Malaysia aufgetreten. In Indien gab es 2001 und 2007 Ausbrüche in
Westbengalen. Man hatte in Kerala also keine Erfahrung mit dieser
speziellen Bedrohung. Die ergriffenen Maßnahmen sorgten aber schließlich
für eine totale Eindämmung.
VIRUS ist entstanden mit Unterstützung
der Regierung und ihrer beteiligten Ministerien. Denn in der
Bekämpfung der Epidemie haben sich ja alle Institutionen als
funktionsfähig erwiesen. Und angesichts der vielen Kinofilme mit
gangsterähnlichen korrupten Politikern, die nur an das eigene und nicht das allgemeine Wohl denken, ist es schön, auch wieder einmal so etwas zu
sehen. Daher ist VIRUS trotz der ständigen Anwesenheit von Krankheit
und Tod im Endeffekt ein positiver Film, der den Erfolg kollektiver
Anstrengungen unter völliger Zurückstellung der eigenen Person
feiert.
VIRUS beginnt ganz
alltäglich mit ein paar jungen Männern, die abends Fußball
spielen, nach Hause fahren. Dann sieht man einen von ihnen am
nächsten Morgen bei der Arbeit als Arzt in einem überfüllten, hektisch
betriebsamen Krankenhaus mit dem entsprechenden Durcheinander und der
Einlieferung schwerer Fälle. Mal kann man ein Leben retten, mal
nicht. Und dann wird auch noch gerade gestreikt, weil den Arbeitern seit sechs
Monaten keine Löhne mehr gezahlt wurden. Versinnbildlicht wird diese
Existenz an der Belastungsgrenze durch eine Mauer von nicht
abtransportierten Müllsäcken an der Rückseite des Gebäudes. Sie
steht da wie eine erstarrte riesige Welle, die droht, das Gebäude zu
verschlingen.
In diese stressige Routine kommt ein seltsamer Fall,
der Aufsehen erregt. Es gibt weitere solche Fälle in anderen
Krankenhäusern. Man testet im Labor, bis man sicher ist, dass es der
Nipah-Virus ist. Es beginnt die intensive Behandlung und Isolierung und Quarantäne von
Kranken und Kontaktpersonen, die emsige Nachforschung über die
Ursache, aber auch die politische Diskussion. Denn findet man keine
natürliche Ursache, kann es auch ein Terroranschlag sein. All das
findet gleichzeitig statt und der Film folgt genauso gleichzeitig
allen Maßnahmen in allen Richtungen. Erschreckend, aber nicht
ungewöhnlich ist am Ende dann die Erkenntnis, dass die größte und
schnellste Ausbreitung in einem Ambulanzfahrzeug und dann im
Krankenhaus stattfand. Bekanntlich kann man sich ja nirgendwo so
schnell mit etwas Gefährlichem anstecken wie in einem Hospital.
VIRUS ist, von der ersten
bis zur letzten Minute, ein konsequenter Ensemblefilm. Der Film
wiederholt so im Prinzip das, was die Eindämmung des Virus erst
möglich gemacht – die funktionale Einordnung ins Kollektiv.
Natürlich riskiert hier keiner der Darsteller sein Leben, so wie es
bei den realen Beteiligten der Fall der Fall war. Und natürlich
spielen bekannte Schauspieler die Menschen an den zentralen Stellen
der Maßnahmen und sind somit im Laufe des Films öfter als andere zu
sehen. Auf einem der Filmplakate werden ja auch drei Gesichter
hervorgehoben, aber alle verrichten ihre Arbeit unspektakulär und
sachlich, sodass sie sich völlig in das große Ganze integrieren.
Allesamt verkörpern sie auf zurückhaltende Weise Alltagsmenschen, die eine Aufgabe verrichten, weil sie kein
anderer machen kann oder würde. Niemand reißt sich darum. Denn die
meisten haben ein Privatleben, Verantwortung für Angehörige.
Denn es handelt sich bei
VIRUS eben nicht nur um ein rein sachliches Doku-Drama, das die
Ereignisse wiedergibt. Die Drehbuchautoren haben ein solides, detailversessenes Gerüst
geliefert, dass Regisseur Abu aber wirkungsvoll mit Leben füllt. Die
150 Minuten vergehen ohne jede Leerstelle. Und das allein schon ist
ein Qualitätsmerkmal. Das liegt daran, dass der Film eben auch auf
Wirkung hin gemacht wurde. Es gibt reichlich Emotionen, nicht nur
durch die bedrohliche Tod-Leben-Situation, sondern auch auf einer
ruhigeren Ebene durch die kurzen, aber wirkungsvollen und völlig
ausreichenden Einblicke in das Privatleben der Beteiligten, sodass
man sie kennenlernt. Auch dadurch schafft der Film trotz
seines weit umfassenden Ansatzes eine Intimität und Nähe zum
Zuschauer, die seine größte Qualität ausmacht.
Es geht aber auch
um die allgemeinen Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft, um die
Panik, um das doppelte Leid von moslemischen Hinterbliebenen, wenn sie die Leiche
nicht ausgehändigt bekommen, weil sie sofort verbrannt werden. Das Problem wird dann übrigens nach dem Vorbild von
Bangladesch durch Tiefenbegräbnisse gelöst. Es gibt ausreichend
Spannung wie in einem Detektivfilm durch die Nachforschungen nach der
Ursache. Da ist der Film wie ein klassischer Whodunit, wo man auf der
Suche nach dem Mörder ist. Und auch wenn Aashiq Abu jeden
Sensationalismus vermeidet, hat diese wahre Geschichte natürlich
auch etwas von einem Horrorthriller, wo fast unerträglich viel gehustet und gekotzt wird. Das Gruselige verstärkt der Film ganz bewusst in
mysteriösen Szenen, wenn etwa in einem Schockmoment aus einem
tiefen Brunnen plötzlich Fledermäuse nach oben jagen. Der Film
spinnt mit Mitteln wie kurzen Rückblenden oder effektvollen
Parallelmontagen ein so feines, immer weiter sich ausdehnendes Netz,
das man sich unmöglich alle Namen merken kann und manchmal glaubt,
den Anschluss verloren zu haben, um ihn aber immer wiederzufinden. Im Ganzen entseht so ein großes und emotional aufgeladenes Gesamtbild.
Schön und beängstigend
in ihrer Stille und Friedlichkeit ist dann am Ende die kurze Epilog-Szene,
die den Beginn der Übertragung in Kerala auf den Menschen zeigt. Da weiß man
ja, was folgen wird. Und dadurch ist die scheinbare Ruhe infiziert,
so wie die kleine Fruchtfledermaus, von der vermutlich alles ausging.
Aber gleichzeitig ist diese tierische Ursache der Epidemie ja selbst
bloß offensichtlich krank und ein stilles, ratloses Opfer von etwas
Unbekanntem, Rätselhaftem, Zerstörerischen. Und Anfang Juni 2019 wurde ein neuer Nipah-Fall in Kerala gemeldet.