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Gitanjali Raos
Animationsfilm BOMBAY ROSE (2019), der auf dem Filmfest Hamburg 2019
zu sehen war, bewegt sich zwischen Traum und Wirklichkeit, Alltag und
Phantasie, zwischen Leben in der Gegenwart und lebendiger Nostalgie.
Nicht zufällig benutzt der Filmtitel das alte Wort Bombay und nicht
die neue Bezeichnung Mumbai. Und die Phantasie wird in Bombay ganz
besonders von der Fiktion des Hindifilms gespeist, wo sie im Kopf
weiterlebt, sich selbstständig macht und den Blick auf die Welt um
einen herum verändert. Die Welt des Kinos ist schon im filmischen
Stadtbild von BOMBAY ROSE verankert, beispielsweise sehr direkt durch
die Filmplakate mit dem fiktiven Filmstar-Hero Raja Khan, aber auch indirekt,
versteckt, wie etwa die Bar „Pyaasa“, wobei „Durst“ natürlich
ein nicht unpassender Name für eine Bar mit Tanzmädchen ist. Aber
natürlich denkt man dabei an Guru Dutts Klassiker PYAASA (1957), wo der Dichter-Protagonist von einer abstoßenden Tanzveranstaltung flieht,
sich betrinkt und, in einem poetischen Lied den moralischen Zustand
der Nation beklagend, durch das Rotlichtviertel geht. BOMBAY ROSE
nimmt inhaltlich die Aktionen der heutigen indischen Polizei gegen
Tanzbars auf.
BOMBAY ROSE hat keine
Handlung, die direkt durch Identifikation Emotionen erzeugt. Der Film
schwebt ein wenig über dem Geschehen und erzeugt vor allem eine
tagtraumhafte Stimmung, hervorgerufen durch einen langsamen Rhythmus,
den sorgfältig abgestimmten Soundtrack, die visuelle Poesie, einer
Collage aus Bildern, Melodien, Zitaten. Im Mittelpunkt von BOMBAY
ROSE steht eine junge Hindi-Frau, die als Mädchen mit einem alten
Mann verheiratet wurde und mit dem Großvater, einem Uhrmacher, und
kleiner Schwester nach Mumbai floh. Sie ist eine Straßenverkäuferin,
die sich gern als eine ihren Märchenprinzen treffenden Prinzessin
träumt. Sie liebt den Blick aufs Meer, denn dort „haben Träume
keine Grenzen“. Ein Schurke will ihr angeblich einen guten Job in
Dubai besorgen.
Dann ist da ein junger Moslem-Mann vom Land, der
gerne Helden-Filme guckt und mit seinem offenen gelben Hemd seinem heroischen Ideal nacheifert. Er sucht
einen Job. Vorerst verkauft er vom Friedhof gestohlene Rosen auf der
Straße. Hero und Prinzessin, die perfekte und klassische
Hindifilm-Konstellation, dazu die unerschiedliche Religion und ein
echter schleimiger Bösewicht als zu überwindende Hindernisse, wobei
der Schurke ja im Kino gewöhnlich mit ein paar einprägsamen
Sprüchen für die Ewigkeit und ein paar gezielten Schlägen außer
Gefecht gesetzt wird. Das Thema der Einwanderung nach Mumbai
beherrschte übrigens schon Raos Kurzfilm CHAI (2013) über drei
Tee-Verkäufer, die von sich erzählen, angereichert mit bunten
Animationsszenen der fernen Heimatregion.
Eine schöne,
stimmungsvolle Nebenfigur, die leibliche Verkörperung von Nostalgie,
ist die alte Witwe Shirley d'Souza, bei der sich alles vermischt,
eigenes Leben und Filmleben. In ihrer Symbolisierung einer
vergangenen Zeit erinnert sie ein wenig an die Figur Violet Stoneham,
einem Überbleibsel des britischen Empires in Aparna Sens Regiedebüt
36 CHOWRINGHEE LANE (1981). Bei d'Souza sind es die 50er, 60er,
gleichbedeutend mit dem Goldenen Zeitalter des indischen Kinos und
den moderneren, etwas zupackenderen Romantikern wie Shammi Kapoor.
Die Zeit ihrer Jugend, ihrer Romanze, kurz der Erinnerung an schöne
Zeiten. Sie redet von Shakila und Guru Dutt und der cool im
Mundwinkel hängenden Zigarette. Beide wirkten gemeinsam in Dutts AAR
PAAR (1954) mit. Zu einem älteren Mann sagt sie „Johnny Walker“
nach dem klassischen Filmkomiker jener Zeit, ein Synonym für
Witzbold. Und als sie sich für ein Treffen zurecht macht, erklingt
„Baar Baar Dekho“ aus dem Shammi-Kapoor-Film CHINA TOWN (1962).
Dabei es ist ganz und gar nicht diese lexikonartige Präzision der
Filmgeschichte, von der sie besessen ist. Die Filme und die Musik
sind untrennbar verbunden mit dem persönlichen Erleben.
Einen Geist vom Friedhof
treibt offensichtlich die Musiknostalgie um. Wenn der auftaucht, wird
die Perspektive kreisförmig, das außerhalb liegende Bild etwas
unscharf. Dazu ertönt das Lied einer Jazzinterpretin. Wenn ich nicht
ganz schief liege, ist das Lorna Codeiro, die legendäre
Goa-Jazz-Sängerin. Ein Geist, für den diese Zeit wohl die Zeit
seines Lebens war, untrennbar verbunden mit Musik. Und dazu tanzen
die menschlichen Schemen auf dem Friedhof. Vielleicht in der
Erinnerung, vielleicht sind es aber auch andere Geister.
Und wenn ich
jetzt nebenbei erwähne, dass Anurag Kashyaps schändlich verkanntes
Meisterwerk BOMBAY VELVET auch eine Hommage an den Goa-Jazz, an das
wilde Prohibitions-Bombay der 60er ist, dann ist das eine
Abschweifung, die absolut Sinn macht, denn es ist Anurag Kashyap, der
seine einprägsame Stimme dem Hero Raja Khan – dem Filmhelden
im Film im Film – leiht. In einem wichtigen Punkt hält BOMBAY
ROSE sich übrigens an die ungeschriebenen Hindifilm-Regeln. Es gibt
trotz aller Tragik ein Happy End für die weibliche Hauptfigur und
ihre Familie. Und nebenbei wird dem Hero-Spiel junger Männer eine
düstere Absage erteilt, da die normale Welt so nicht funktioniert.
Es ist also allenfalls das moderne Bollywood-Männerkino, das als
Vorbild abgelehnt wird. Das Muster des klassischen Hindifilms, mit
seiner Mischung aus Sozialem und Poesie, ist ja im Grunde auch das
Prinzip von BOMBAY ROSE, nur eben mit den Mitteln des fantasiereichen
Animationsfilms.
BOMBAY ROSE ist das
selbst gezeichnete Langfilmdebüt von Gitanjali Rao: Es beruht auf
Raos eigenem Kurzfilm TRUE LOVE STORY (2014), in dem der visuelle
Stil der Haupthandlung schon festgelegt ist. Aber der Wechsel der
Stile, der Übergang vom äußeren zum inneren Leben, beschäftigt
sie schon viel länger künstlerisch, so wie in PRINTED RAINBOW
(2006), das in grobkörnigem Schwarzweiß den Alltag einer alten Frau
mit einer Katze in einer Hochhauswohnung zeigt. Phantastisch wird es,
wenn sie sich die Etiketten ihrer Streichholzsammlung anschaut. Aber
so ist es auch in Raos jeweils einer Farbe gewidmeten Filmen BLUE
(2000), wo ein kleines Mädchen zu französischen Akkordeonklängen
vom Weltraum träumt, und ORANGE (2002), der das visuell abstrahierte
Liebesleben einer jungen Frau zeigt.
Der Übergang zwischen den
Zeitebenen in BOMBAY ROSE ist absolut fließend. Man sieht etwa, wie
ein moderner Bazar sich in einen aus der moslemischen Herrscherzeit
verwandelt, wie sich die Häuser schwarzweiß entfärben und zum
Bombay des Goldenen Kinozeitalters des Hindifilms werden. Besonders
für die Märchenträume bedient sich Rao bei der sehr bunten
indischen Volkskunst. Dazu gibt es eine schöne Anekdote, die sie oft
in Interviews erzählt, weil sie so einschneidend für ihren
künstlerischen Weg war. Als sie ihrem Mentor, dem polnischen
Animationskünstler Jerzy Kucia, ihren Film ORANGE zeigte, bemängelte
der trotz aller Qualität, dass da nichts Indisches, nichts wirklich
Persönliches in dem Film wäre, der tatsächlich mit seiner Bar und
seinem Großstadtjazz überall in einer Großstadt auf diesem
Planeten spielen könnte.
Der visuelle Stil der
Haupthandlung von BOMBAY ROSE ist eine Mischung aus einerseits sehr
klarem und detailliertem Realismus, einer großen Präzision mit
klaren Linien, andererseits aber auch aus Andeutungen in Form von
verschwommenen Flächen. Manchmal sind bei Personen sogar die
Augen verwischt. Der Film bleibt so in einem Grenzbereich, der die ständigen
Wechsel der Realitätsebenen und künstlerischen Stile möglich macht, ohne
dass der Bruch so groß und eindeutig ist wie in PRINTED RAINBOW.
Und auch wenn in den Alltagsszenen eher gedämpfte Farben vorherrschen, wirkt das Bild dennoch sehr bunt, da es ungeheuer reich an unterschiedlichen Farbtönen und Schattierungen
ist. Das ist übrigens etwas, das sogar innerhalb des Films
thematisiert wird. Rosen, ein wichtiges und immerhin titelgebendes
Leitmotiv des Films, sind nicht einfach rot, erfährt die kleine
Schwester im angewandten Englischunterricht im Garten von Shirley
d'Souza: Sie sind beispielsweise scharlachrot oder karminrot. Es ist
nicht zuletzt diese präzise Sorgfalt, weshalb Gitanjali Raos neuer
Film solch eine zerbrechliche Schönheit ausstrahlt.