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Samstag, 25. Juli 2020

A HOLY CONSPIRACY – Ein indischer Prozess Darwin

(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)

In Saibal Mitras A HOLY CONSPIRACY / DEBOTAR GRASH (2020), in dem Bengalisch, Hindi und Englisch gesprochen wird, treffen zwei der größten Schauspieler des indischen Films zum ersten Mal aufeinander. Auf der einen Seite Naseeruddin Shah, 70, Star des Hindi-Films. Auf der anderen Seite Soumitra Chatterjee, 85, Legende des bengalischen Kinos, der leider auch wegen des schweren Motorrad-Unfalls seines Enkels überhaupt noch arbeitet, wie ich letztes Jahr in einem Filmfare-Interview gelesen habe. Das ist eine zweifellos faszinierende Paarung und, abgesehen mal vom kommerziellen Hero-Movie, geht eigentlich mehr Star-Power gar nicht. Das allein ist ja Grund genug, den Film zu sehen. Und dadurch, dass es ein klassischer Gerichtsfilm ist, der eben vorwiegend im Gerichtssal spielt, sind die beiden auch wie in einem Theaterstück ständig zusammen in einer Szene, in einem Bild und nicht nur auf dem Plakat. Hier handelt es sich also um spannend inszeniertes großes Schauspielerkino. Und es handelt sich um politisches Kino.

A HOLY CONSPIRACY ist eine für indische Verhältnisse modernisierte Neuverfilmung des Theaterstückes INHERIT THE WIND von Jerome Lawrence und Robert E Lee von 1955 über einen Lehrer, der juristische Konsequenzen zu spüren bekommt, weil er seine Schüler in der Darwinschen Lehre unterrichtet. Der sich gegen den Kreationismus und für freie Meinungsäußerung einsetzende Stoff beruht wiederum auf einem authentischen Prozess von 1925. 1960 entstand Stanley Kramers gleichnamige erste Filmadaption (WER DEN WIND SÄT) mit Spencer Tracy in der Hauptrolle, drei weitere sollten folgen. Das heißt also, dass Regisseur und Drehbuchautor Mitra ein US-Stück nach einem wahren Fall nimmt und es nach Indien verlegt, um dann noch in dieser, in einem christlichen Milieu angesiedelten, Geschichte die aktuellen Probleme des Hindi-Nationalismus einzuflechten, der wiederum seine eigene Ansicht zu Wissenschaft und zur Entstehung der Welt hat. Das ist natürlich eine mächtige dramaturgische Konstruktion, die nicht ohne Probleme bleiben kann.

Im Kern, mit nur kleinen Variationen, findet hier zunächst einmal derselbe Prozess, mit denselben Hauptfiguren, denselben Typen statt. Wer Kramers Film gesehen hat, wird die vielen Übereinstimmungen erkennen. Einmal Chatterjee als Anwalt für die christliche Schule, die einen Lehrer suspendiert hat, weil er sich angeblich weigerte, die Schöpfungsgeschichte vor Darwin zu unterrichten, was nicht ganz korrekt ist, denn er vergewisserte sich, ob alle schon damit vertraut sind. Und dann Shah als Anwalt und Kämpfer für die Freiheit. Aber der Clou des Films ist, dass es um Darwin und die Bibel eigentlich gar nicht wirklich geht. Denn der Prozess selbst ist im Grunde eine Farce, da er inszeniert wurde, um den gefährlichen Hindi-Nationalisten vor Ort zu gefallen, da der Lehrer ein neues Buch auf dem offiziellen Lehrplan, „Vedic science of ancient India“, nicht unterrichtete, weil er es nicht kannte, also offenbar auch keine Lust gehabt hatte, es zu lesen. Er entstammt der örtlichen Stammesbevölkerung, sieht sich weder als Christ noch als Hindu, sondern der Religion seiner Vorfahren zugehörig.

Und das ist das Grundproblem des Films. Im Hintergrund ziehen böse kommunale Mächte die Fäden, nur dass wir die allenfalls in Gestalt von ein paar gangsterähnlichen Gestalten im hinteren Teil des Prozesssaals sehen. Es darf auch im Prozess nicht über sie gesprochen werden. Das mag realistisch sein, nimmt dem Ganzen aber auch die echte Spannung, lässt alles unbefriedigend bleiben, und man kann sich wirklich fragen, warum der Regisseur den Film so und in dieser Form überhaupt gedreht hat. Dazu kommt ja noch, dass Darwin heutzutage absolut kein Kronzeuge für Wissenschaft mehr sein kann. Eigentlich war er es nie, aber er war durchaus mal eine brauchbare Waffe gegen starrsinnige religiöse Fanatiker und kirchliche Macht. Leider hat sich der Unsinn dann verselbständigt.

Denn auf Darwins Theorie trifft ja selbst all das zu, was vermeintlich sachlich-rationale Wissenschaftler ihren religiösen Gegnern vorwerfen: ein mit aller Heftigkeit von der Orthodoxie verteidigtes Dogma. Es ist ganz einfach eine Pseudo-Wissenschaft. Und nicht viele haben den wissenschaftlichen Anstand des Computer-Wissenschaftlers David Gelernter, vor den klaren Argumenten der Gegner zu kapitulieren und, so wie er, eine Theorie, die er eigentlich immer „schön“ fand, aufzugeben: „Darwinismus ist nicht nur eine wissenschaftliche Theorie, sondern die Basis für eine Weltsicht und eine Notfallreligion für die vielen gestörten Seelen, die eine brauchen.“ Gelernter kapitulierte angesichts von zwei Büchern, die er rezensierte, und die Darwin allein schon aus mathematischen Gründe der Wahrscheinlichkeitsrechnung im Zusammenhang mit biologischen Prozessen unmöglich machen.

Jetzt könnte man einwenden, dass man da dem Regisseur vielleicht keinen Vorwurf machen kann, denn an Darwin glauben doch heutzutage fast alle, und schließlich gibt es international ja auch staatlich finanzierte Evolutionszentren, die beispielsweise Darwintage als Propagandaveranstaltung durchführen, leider sogar an Schulen. Andererseits sind die Fakten ja da, frei zugänglich, doch der Film behandelt Darwin ebenfalls als unumstößliche, unwiderlegbare Wissenschaft. Damit reiht sich der vermeintlich progessive Film bei den Gestrigen ein. Und ganz nebenbei: Schon zu Lebzeiten Darwins gab es etwa mit dem Palaäontologen Louis Agassiz einen höchst überzeugenden Darwin-Kritiker, jemand, dessen subtiles und religiöses Denken in gewisser Weise, in einem allgemeinen Sinne, schon damals eine Art „intelligent design“ sah, wenn auch nicht in der präziseren, mathematisch gestützten Bedeutung von heute.


P.S.: Fakten gegen Darwin:

1) über Louis Agassiz (auf Englisch): https://www.icr.org/article/louis-agassiz-anti-darwinist-harvard

2) Gesprächsrunde mit drei wichtigen Darwin-Kritikern (auf Englisch): https://www.youtube.com/watch?v=noj4phMT9OE


Mittwoch, 22. Juli 2020

KUMBALANGI NIGHTS – Keralapoesie

(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)

Madhu C. Narayanans Malayalam-Film KUMBALANGI NIGHTS (2019), ein Regiedebüt, war der schönste Spielfilm des Indischen Filmfestivals Stuttgart 2020 (online), sowohl im Sinne von „schön anzusehen“, als auch ganz simpel im Sinne von „am besten“. Die verträumte Atmosphäre, die ruhige Poesie und eine gewisse abgehobene Leichtigkeit, sowohl in den ernsteren, den tragischeren als auch den lustigeren Szenen, verleihen dem Ganzen etwas magisch Unwirkliches und sorgen für einen echten Erfolg. Dabei ist es faszinierend, wie der Film alle Gefahren umschifft, auf die ein ungeschickter Regisseur bei der Verfilmung des Drehbuchs von Syam Pushkaran aufgelaufen wäre.

KUMBALANGI NIGHTS hat rein formal zwar Züge eines typischen Feelgood-Films, aber ohne die oft künstlichen Probleme und den aufgesetzten, mitunter nervigen Banaloptimismus. Der Film ist auch voller Postkartenbilder vom Fischerdorf Kumbalangi, außerhalb von Kochi liegend, das gleichzeitig ein Öko-Tourismusressort ist und mitunter pittoresk wie ein indisches Bullerby wirkt. Da liegen Kitsch und Reisewerbung für den indischen Bundesstaat Kerala nicht weit entfernt, aber Narayanan verwandelt das Material in echte, authentische, dezent bunte filmische Lyrik. Und der Hang zur Skurrilität, die in Filmen manchmal zu einer amüsierten Entfremdung von den Figuren führt, überschreitet nie gewisse Grenze.

Das Geheimnis des Erfolges ist vor allem, dass der Film an sich glaubt, dass er zu keinen künstlichen Tricks greift. Er ändert zwar ständig die Tonart, aber nicht seinen Grundrhythmus. KUMBALANGI NIGHTS hat auch keine richtige Handlung, keine das stete, ruhige Fließen störenden Dramatisierungen, sondern er bleibt dem lockeren Aufbau bis zum Ende treu. Die Story ist bloß ein Rahmen, aus dem heraus sich die vielen kleinen Szenen entwickeln. Alles bleibt in der Schwebe, etwas abstrakt und fern. Es geht um ewige Themen wie Liebe, Familie, Arbeit, Klassenunterschiede und dennoch wird keine betont tiefe Botschaft angestrebt.

Der Film beginnt mit dem jüngsten von vier Brüdern, der an einer feinen Schule ein Stipendium hat und in den Ferien sein Zuhause besucht, das ihm peinlich ist. Es ist eine kleine Fischerhütte am Ende der Straße, unaufgeräumt, bewohnt von zwei seiner Brüder, die zwar auf dem Papier erwachsen sind, aber so in den Tag hinein leben und sich ständig streiten und sogar prügeln. Sie sind Fischer, die nicht fischen. Es ist eine elternlose Familie ohne Geld, fast ein soziales Todesurteil, wie sie feststellen müssen, als einer der Brüder heiraten möchte. Und da kommt als frisch eingeheirateter Schwager der Braut in spe ein echter Psychopath ins Spiel, dessen Familie vermutlich glücklich war, ihm eine Ehe verschafft zu haben und ihn los zu sein. Eine Mischung aus gefährlich und seltsam ist er, wie gefährlich, erfährt man am Schluss. Am Ende ist dann fast eine kleine Kommune entstanden, eine kleine Utopie, wenn auch nur als Momentaufnahme. Die Touristin wird weiter- oder zurückreisen. Der jüngste Bruder wird wieder auf die Schule gehen. Auch dadurch, dass der Film eine gewisse Demut ausstrahlt, die nicht mit Gewalt zu viel will, wirkt er sehr groß.

Montag, 20. Juli 2020

UYARE – Über den Wolken

(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)

Dadurch, dass das Indische Filmfestival Stuttgart 2020 den von Manu Ashokan inszenierten Malayalam-Film UYARE (2019) ins coronabedingte Online-Programm aufgenommen hat, konnte ich endlich eine cinephile Lücke füllen. Erwähnt habe ich den Film zwar schon in meinem Blogbeitrag zu Meghna Gulzars CHHAPAAK (2020) Anfang des Jahres, allerdings aus zweiter Hand, ohne ihn gesehen zu haben. Denn es ist ja UYARE mit seinem Autorenteam Bobby-Sanjay, der das Thema Säureattentat zum ersten Mal auf ernsthafte und sachliche Art und Weise zum Thema eines kommerziellen indischen Films gemacht hat, ganz ohne den Masala-Sensationalismus eines Films wie TEZAAB (1985). Dafür wurde auch mit Opfern gesprochen. Ein paar von ihnen spielen kurz im Film mit, allerdings ohne weiter darauf einzugehen, was das für ein Café ist, wo sie sich da befinden.

Und da wird auch schon der offensichtliche Unterschied zu CHHAPAAK deutlich, in dem diese Cafés, in denen Säureopfer arbeiten, bedienen, kochen viel ausführlicher und in größerem Zusammenhang auftauchen. Ein direkter Vergleich der beiden Filme ist müßig und unpassend, da es zwar ganz selbstverständliche Schnittmenge, wie das schwierige Weiterleben oder die Diskussion gängiger Schönheitsideale, gibt, aber im Endeffekt grundsätzlich verschiedene Zielsetzungen verfolgt werden. UYARE ist kein Film über Säureattacken an sich. Er erzählt anhand eines fiktiven Einzelschicksals eine individuelle Geschichte nach den Mustern einer klassischen märchenhaften Mainstream-Geschichte um einen Helden oder eine Heldin, die Widerstände zu überwinden hat, äußere und innere, und dies auch schafft. CHHAPAAK hingegen ist anhand eines authentischen Schicksals ein Film über Säureattentate und Säureopfer im Allgemeinen und ist damit ein zwar bewegender, aber eben auch offener politischer Film, der zwar einer der besten des Jahres 2020 ist, doch durch die Darstellung all der grausamen Hintergründe, Schicksale und Zusammenhänge sehr schmerzhaft und verstörend zu gucken ist.

Der erste Teil von UYARE erzählt sehr realistisch eine possessive Beziehungsgeschichte, die außer Kontrolle gerät, was zu dem Säureattentat führt, wodurch die großen Träume einer jungen Frau, Pilotin zu werden, ein jähes Ende finden, denn durch die Tat wurde ihr Sichtfeld eingeschränkt. Der zweite Teil erzählt dann die Utopie von einem Säureattentats-Opfer als Stewardess, wobei es abschließend noch zu einer fantastisch heroischen Tat kommt, kurz gesagt, das Drehbuch wagt sich da erzählerisch sehr weit vor. Aber Hauptdarstellerin Parvathy Thirovothu verleiht dem Ganzen bis zum Schluss die nötige Glaubwürdigkeit. Einerseits ist UYARE zweifellos aufrichtig gemeint und besonders im ersten Teil sehr gelungen, aber andererseits spürt man das bewusste Ziel der Macher, dass der Zuschauer sich nicht allzu unwohl fühlt. Aber natürlich spricht nichts dagegen, mit dem Thema Säureattacke eine im Endeffekt positive utopische Geschichte zu erzählen.

Dass solche Utopien aber dennoch nicht völlig unproblematisch sind, zeigt nicht der filmische Vergleich, sondern der Vergleich der Rezeption, der Zuschauerreaktionen auf die beiden Filme. Und ohne übertriebene Schlüsse daraus zu ziehen, so sind besonders die Reaktionen der männlichen Zuschauer interessant, die einem die Bewertungsstatistik von IMDb frei Haus liefert. Ist bei UYARE eine auf beide Geschlechter gleichmäßig verteilte Begeisterung festzustellen, so ist dies bei CHHAPAAK überhaupt nicht der Fall. Der statistische Stand der Dinge war am 18.7.:
alle Altersgruppen: 5,1 zu 7,5 (männlich zu weiblich)
bei 18-29: 5,6, zu 7,5
bei 30-44: 4,8 zu 7,6
bei 45+: 5,0 zu 7,1

Wenn man dabei bedenkt, dass bei dieser Bewertung zehn Mal so viele männliche wie weibliche Nutzer teilgenommen haben, dann erklärt sich die schwachsinnig niedrige IMDb-Gesamtnote von 5,1. Handelt es sich bei dieser Zahl also um eine furchteinflößende männliche Psychopathen-Note? Natürlich unmöglich zu sagen bei diesen wenigen Daten, und sicher auch etwas übertrieben. Aber ich werde den Eindruck nicht los, dass viele das ungute Gefühl beim Gucken einfach auf die Qualität des Films abgespalten haben, als wollten sie etwas von ihrem tiefsten persönlichen Inneren wegschieben. Die User-Rezensionen machen denn auch sehr deutlich, wie verzweifelt, unsachlich und kategorisch das Haar in der Suppe gesucht wird: schlechte Regie, schlechte Darsteller. So ein Blödsinn! Mein Lieblingssatz bei all dem ist von krazzy_aldfo: „Watch the malayalam movie UYARE and you'll be much more satisfied than this supposedly true story !!“ Klar, UYARE macht es einem ja auch leichter.

Sonntag, 19. Juli 2020

AAYI GAYI – Strom für alle

(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)

Anandana Kapurs AAYI GAYI (2019) ist ein einstündiger Dokumentarfilm, den man in der coronabedingten Online-Version des Indischen Filmfestivals Stuttgart 2020 sehen konnte. Er handelt von Elektrizität und Elektrifizierung im östlichen indischen Bundesstaat Bihar, besonders in den vernachlässigten ländlichen Gegenden. Interessant wird das Ganze dadurch, dass es hier nicht so sehr um logistische Probleme geht wie die Verlegung der Leitungen oder der Stromproduktion selbst, sondern um eine Mentalitätsfrage. Denn viele Bürger betrachten Vater Staat tatsächlich als Vater, was vielleicht auch ein bisschen Schuld der Politiker ist, die sich gerne im Wahlkampf so verkaufen. Aber wenn der Staat der Vater ist, muss er sich um einen kümmern, und warum soll man dann die Stromrechnung bezahlen oder ein schlechtes Gewissen haben, wenn man sich illegal in die oberirdischen Leitungen einhakt. Damit erhält Elektrizität den Status eines kostenlosen Grundrechts, was aber wiederum die Versorgung gefährdet.

Denn die zu niedrigen Einnahmen führen wiederum zu Stromunterbrechungen. Die liegen nicht an technischem Unvermögen, auch nicht an Versorgungsproblemen, sondern rein ökonomisch an der Zahlungsmoral der Kunden und am hohen Stromdiebstahl. Ich glaube, es war das Jahr 2015, in dem man eine Strom-Schwundquote von 42% hatte. Um das alles herauszufinden, mussten erst einmal wissenschaftliche Untersuchungen her, darunter von der Uni Chicago. Dann begann man, ein neues komplexes System zu implementieren, was im Prinzip ein Belohnungs- und Strafsystem ist. Einheiten mit guter Zahlungsmoral müssen weniger oder unter Umständen keine Stromunterbrechungen ertragen. Das sorgt auch für sozialen Druck für korrektes Verhaltens innerhalb des Nachbarschafts- oder Dorfkollektivs.

Was AAYI GAYI spannend macht, ist eine Präzision ohne unnötige Ausschmückungen, die in der relativ kurzen Zeit die Darstellung einer Fülle von Aspekten möglich macht. So entsteht ein großer Überblick über das Thema, eine Darstellung von Fakten und Zusammenhängen ohne einfache Wahrheiten. Und das alles ohne Kommentar aus dem Off. AAYI GAYI ist fast ausschließlich eine relativ schnell geschnittene Collage aus Aussagen der verschiedensten Personen. So entsteht ein großes mosaikartiges Bild. Es gibt nur kleine Ausnahmen, etwa wenn ein Landarbeiter, der die Hoffnung auf versprochene Elektrifizierung schon aufgegeben hat, einem Ingenieur der Stromgesellschaft sein Leid klagen darf.

AAYI GAYI ist ganz nebenbei ein Film für den Fortschritt und erzählt von den ganz einfachen sozialen Auswirkungen von Elektrifizierung, was ja zunächst einmal Licht bedeutet. Licht, wenn es normalerweise dunkel wäre. Es wird erzählt, wie Frauen sich im Dunkeln nicht nach draußen trauen, um ihr Geschäft zu erledigen, wie Frauen überhaupt bei Dunkelheit lieber drinnen bleiben, wie man ohne Licht keine Hausaufgaben machen kann und wie Dunkelheit die Arbeit der Polizei auf dem Land erschwert. Ein vom Land stammender Arzt erzählt, dass er auf der Uni zum ersten Mal Elektrizität gesehen hat und überwältigt war.

Das erinnert einen daran, warum es überhaupt Fortschritt gibt, wozu er gut ist, dass es kein Selbstzweck war von geldgierigen bösen Kapitalisten ist, die schon vor hundert, hundertfünfzig Jahren nichts anderes im Sinn hatten, als anderen Menschen ihre Kindheit zu stehlen. Wobei AAYI GAYI auch besonders schön wirkte, weil ich gerade den neuen EDISON-Film in der Preview gesehen habe.

Es ist ein insgesamt positiver Film, der das Gefühl vermittelt, dass man auch bei seltsamen Problemen rationale Lösungen finden kann, auch wenn natürlich der Erfolg in Bihar auf lange Sicht untersucht werden muss. Aber man arbeitet daran, dass die Menschen die Zusammenhänge begreifen. Die vom Staat ausgerufene Elektrifizierung wird begleitet von echter, teilweise unterhaltsamer Propaganda zu einer anderen Einstellung, ganz praktisch einer anderen Zahlungsmoral und der Ächtung von Stromdiebstahl. Es gibt sogar eine Bihar-Stromhymne. Denn ökonomischer Sozialismus führt nun mal auf Dauer in die reine Dysfunktionalität, von der auch die Armen und Ärmsten absolut nichts haben.

(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)

Mittwoch, 15. Juli 2020

EEB ALLAY OOO! – Affentheater

(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)

2018 ging es auch durch die Weltpresse, dass die indischen Regierungsgebäude in Delhi ein immer größer werdendes Affenproblem, genauer gesagt Makakenproblem, haben wegen der nahen Lage am Dschungel. Zu dem Problem der menschlichen Expansion in die Lebensbereiche der Tiere kommt leider auch die Verwöhnung und Fütterung durch Hindu-Gläubige. Denn wenn in einer Statue die Anwesenheit des Gottes möglich ist bei der Betrachtung, dann sind lebende Wesen natürlich etwas Besonderes, und in Indien gibt es schließlich den wichtigen Affengott Hanuman, ohne den Rama im Epos Ramayana vielleicht nicht seine entführte Sita vom bösen Raavan wiederbekommen hätte. Das Argument, dass es bei all dem eher um die Bedeutung der Tiersymbolik von Affe oder, im Falle von Ganesha, Elefant geht, und dass da keine echte Affengott-Gestalt irgendwann durch die Gegend gelaufen ist, hat dabei natürlich wenig Bedeutung, wenn die Menschen es nun mal glauben. Dennoch ist es ja nicht angenehm, wenn die Affen vor allem bei nächtlichen Spaziergängen durch offene Fenster Dokumente verwüsten in den Regierungsbüros.

Also hat man Männer eingestellt, die die Affen vertreiben sollen. Aber auf rücksichtsvolle Weise, damit weder die Tierschutzaktivisten noch die Religiösen Vorwand zum Protest haben. Und es soll mit Würde geschehen und nicht als auffälliges Affentheater. Was natürlich unmöglich ist. Und ein großer Teil von Prateek Vats' EEB ALLAY OOO! (2019), der als Eröffnungsfilm auf der coronabedingten Onlineversion des Indischen Filmfestival Stuttgart 2020 zu sehen war, führt uns das auf ziemlich amüsante Weise vor. Der Filmtitel gibt übrigens die drei wichtigsten Laute bei der Affenvertreibung wieder. Die Hauptfigur Anjani, gespielt von einem beeindruckenden Shardul Bharadwaj, ist gerade aus dem Land in die Stadt gekommen, ist aber von seinem neuen Job eindeutig überfordert. Er hat ein bisschen Angst und entwickelt einfach nicht die nötige Autorität, vor der die Affen kuschen. Aber selbst wenn – kaum ist man weg, kommen sie ja sowieso wieder. Dann wird er kreativ, versucht, seine Mängel mit intelligenten Methoden auszugleichen. Er stellt aggressive Languren-Fotos aus, denn vor denen fliehen die kleineren Affen. Er verkleidet sich als Langur und lernt, böse die Zähne zu fletschen. Aber alles erregt Protest und Anstoß bei der Bevölkerung, deren potentielle Gefährlichkeit man auch nicht unterschätzen sollte.

Aber EEB ALLAY OOO! liefert mehr als diese teilweise sehr witzigen Darstellungen. Mehr als eine anekdotische, amüsante Skurrilität. Und das gibt ihm allgemeine Bedeutung. Denn EEB ALLOY OOO! ist ein Film über Arbeit, über Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit, Arbeitssuche, und das meiste direkt unter dem Dach der Regierung. Man muss also nicht nach ganz unten gehen, um Probleme zu finden. Parallel zur Affengeschichte gibt es die Geschichte von Schwester und Schwager, die ihrem Verwandten vom Land unter die Arme greifen wollten, damit er was aus sich macht. Er ist der jüngste, etwas verwöhnte Sohn, der eigentlich nichts kann. Der Schwager wiederum ist beim Sicherheitsdienst der Regierungsgebäude und soll plötzlich eine Waffe tragen, ein dickes, schweres, unhandliches Gewehr, das die schwangere Ehefrau nicht im Haus habe will. Das alles ist eine präzise, treffende Darstellung der Wirklichkeit, ohne in deprimierende Betroffenheit zu versinken. Das ist heutzutage schon ein Wert an sich. Regierung, Menschen, Affen, Straße, Stadt, Dschungel, wer will, kann in dem Film auch nach vielfältigen Beziehungen und Metaphern suchen. Kann man, wenn man will. Es ist durchaus da. Aber das Schöne ist, dass der Regisseur es dem Zuschauer nicht aufzwängt.

Am Ende löst der Film sich dramaturgisch ein bisschen auf, ebenso wie die Hauptfigur. Und irgendwie wirkt es ein bisschen ratlos, irgendwie zu aprupt im Vergleich zum ausgefeilten stärkeren Hauptteil des Films. Anjanis Freund und Kollege Mohinder wurde vom Mob umgebracht, weil er aus Versehen einen Affen tötete, was man sich bei dieser Figur gar nicht vorstellen kann. Das wäre eher ein Ende für Anjani gewesen. Anjani verschenkt dann die Waffe seines Schwagers, was idiotisch ist, da es Regierungseigentum ist und der Schwager Ärger kriegen oder entlassen wird. Warum sollte Anjani diesem das, und wenn auch unter Einfluss von Alkohol oder Drogen, antun? Jedenfalls könnte sich die Prophezeihung seines korrupten Ex-Chefs erfüllen: Er wird als Bettler auf den Straßen enden. Ein bisschen wie die Affen also. Sein Herumlaufen im Languren-Kostüm ähnelte schon improvisiertem Straßentheater. Am Ende gesellt er sich bei Feierlichkeiten zu den verkleideten und geschminkten Menschen-Affen, tanzt mit. Man sieht einen Dämon, dahinter Anjanis dämonisches Grinsen im geschwärzten Gesicht.


 (Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)