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Samstag, 24. Oktober 2020

Nawazuddin Siddiqui in RAAT AKELI HAI – Es ist eine grausame Welt

 

Honey Trehans RAAT AKELI HAI (2020), nach einem Drehbuch von Smita Singh, beginnt, wie zur Illustration des Filmtitels "Die Nacht ist einsam", sehr düster, sehr brutal und sehr rätselhaft mit einem ganz offensichtlich gut geplanten Doppelmord in dunkler Nacht auf einsamer Landstraße irgendwo im Niemandsland Nordindiens, im Bundesstaat Uttar Pradesh. So wie der polizeiliche Ermittler dieses Hindi-Films sich später den Weg durch das Gestrüpp aus Fährten, Vermutungen und Indizien erkämpfen muss, durchschneiden in einer eröffnenden weiten Totalen die Scheinwerfer eines kleinen Autos das dichte Dunkel der Nacht. 

Nur dass die Aufdeckung der Wahrheit hier noch gestoppt werden kann, zumindest für die nächsten fünf Jahre. Denn nach einem provozierten Autounfall werden zwei Kehle aufgeschlitzt und die Leichen vor dem Verscharren mit Säure unkenntlich gemacht. Dieser grausame Prolog legt die atmosphärische Grundlage des Films und liefert zusätzlich einen gewissen Wissensvorsprung für den Zuschauer, der in der zweiten Hälfte des Films wichtig wird. Dadurch verliert man sich nicht zu sehr in dem großen Rätsel und kann die Geschichte auch unter anderen Blickwinkeln betrachten.

Es gibt in RAAT AKELI HAI eine Reihe solcher düsterer Thriller-Elemente, also das, was man alles heutzutage in einer fürchterlich unklaren Begriffsexpansion „Noir“ nennt. Wie beispielsweise bei „Nordic Noir“. Aber trotz dieser „Noir“-Elemente geht es nach dem Vergangenheits-Prolog erst einmal in eine ganz andere Richtung. Der Zuschauer befindet sich plötzlich mitten in einem klassischen Whodunit, in einer Geschichte mit der einfachen Frage: Wer ist der Mörder?

Ein Polizist wird an einen Tatort in einem großen palastartigen Haus gerufen. Die Dekorationen einer Hochzeitsfeier werden gerade abgebaut. Auf seinem Bett liegt tot und mit eingeschlagenem Gesicht das Familienoberhaupt, das soeben seine viel jüngere jahrelange Geliebte geheiratet hat, da er in die Politik wollte. Die ist jetzt die vielgehasste Erbin. Jeder aus der großen Familie ist verdächtig. Nach und nach tauchen Motive und Beziehungen der Personen untereinander auf. Das alles könnte im Kern ein Krimi von Agatha Christie sein. Der sture ermittelnde Polizist, der unbedingt die Wahrheit finden will und sich von nichts davon abhalten lässt, hat etwas von einem Byomkesh Bakshi in Uniform, um lieber ein Beispiel aus der indischen Tradition zu wählen.

RAAT AKELI HAI bedient sich auch bei klassischen Verschwörungs-Standards. Polizeichef, Politiker, in so einem Film müssen die einfach irgendwie mit in das Böse verwickelt sein. Und die Atmosphäre des großen Palastes, die Untaten eines bösen, autoritären Familienoberhauptes an wehrlosen Frauen, zusätzlich ein geheimnisvolles Landhaus, all das erinnert dann auch wieder an die Zutaten des klassischen indischen Mystery-Films, in dem die unnatürlich Verstorbenen ständig präsent sind. So zieht die fließend und zurückhaltend erzählte Geschichte langsam immer größere Kreise wie eine sich ausdehnende kleine Welle in einem Teich.

RAAT AKELI HAI ist bemerkenswert wegen seiner ganz natürlich wirkenden Stil- und Erzählsicherheit. Die rauen Actionszenen werden ohne künstliche Effekte eingebunden, wobei der Film allerdings trotz der Eingangssequenz wenig explizite Gewalt enthält und es eher die allgemeine Atmosphäre der Gewalt und der Unterdrückung ist, um die es hier geht. Es gibt keine Anpassung an die vielen kleinen Bildschirme, auf denen ein Netflix-Film geguckt wird. RAAT AKELI HAI ist eigentlich ein echter Kinofilm, den man gerne auf der großen Leinwand entdeckt hätte. Das Gesamtergebnis ist bemerkenswert für einen Debütregisseur, der allerdings seit fünfzehn Jahren als Casting Director arbeitet, darunter bei einer ganzen Reihe von brillanten Filmen, und der auch schon Second-Unit-Regiearbeiten für Vishal Bhardwaj oder Abhishek Caubey erledigt hat. Und bekanntlich ist Casting ja die halbe Miete. Honey Trehan hatte da besonders bei den beiden Hauptrollen einen untrüglichen Riecher und wählte Nawazuddin Siddiqui als moralischen Ermittler und Radhika Apte als zunächst abweisende, aber innerlich sehr emotionale und traurig resignierte Geliebte.

Eine leicht komödiantische Entspannung bieten die Auseinandersetzungen zwischen Ermittler und seiner Mutter, die ihn endlich verheiraten will, auch wenn er aus dem heiratsfähigen Alter schon heraus ist, wie sie sagt. Sie läuft mit seinem Foto herum, zeigt es ledigen jungen Damen. „Zu dunkel“ ist eine der Antworten. Er benutzt daher heimlich Hautaufheller, will aber als nicht idealer Bräutigam die ideale Frau, was natürlich eine nicht aufgehende Gleichung ist. Seine Mama weiß das.

Dieses Mutter-Sohn-Geplänkel dient aber zu mehr als dem privaten Kennenlernen der Hauptfigur. Es bildet den Rahmen für die allgemeine Thematik, die des Patriarchats. Das ist sowohl ein reales Problem in Indien, aber auch ein bisschen ein Modethema, bei dem man vorsichtig sein muss und wo man sich das große Ganze angucken sollte. Totalitäre Frauenherrschaft im Politischen oder Privaten ist schließlich auch nicht beglückender. Man schaue sich bei uns hier im Westen nur das eindeutig psychopathisch gepolte Gender-Matriarchat an. Es sollte eher ganz allgemein um Herrschaft an sich gehen. Aber man muss RAAT AKELI HAI zugestehen, dass hier alles andere als billige und einfache Patriarchats-Kritik geliefert wird. Denn gezeigt werden Patriarchat und Matriarchat in stiller und mörderischer Eintracht vereint, sofort bereit, die Töchter für die Söhne zu opfern.