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Sonntag, 21. Februar 2021

Gyan Mukherjees SANGRAM – Gangster ohne Grund

 

Nach sechs Jahren Pause führte Gyan Mukherjee 1950 Regie bei dem Kriminalfilm SANGRAM mit Ashok Kumar und Nalini Jaywant in den Hauptrollen. Es ist ein pessimistisches Werk über einen verlorenen Gangster und dessen Flucht vor der Polizei, wobei alle Versuche, ein neues Leben zu beginnen, ihn nur immer tiefer in die Ausweglosigkeit führen. SANGRAM geht mit seinem im Psychotischen endenden Anti-Helden weiter als andere Filme seiner Zeit. Erst im Masala-Film der 1970er sollte man so etwas wie die extreme Schlusssequenz wieder zu sehen bekommen. Für die Wirkung von SANGRAM sorgen auch Ausleuchtung und Bild von Kameramann Josef Wirsching, der mit Kamal Amrohis Mystery-Film MAHAL (1949) kurz zuvor ein anderes Düster-Meisterwerk mit Ashok Kumar gefilmt hatte. Dieser spielt beide Male einen Mann, der unaufhaltsam im Tod versinkt, auch wenn dies das eine Mal in totaler Erstarrung, das andere Mal in hektischer Bewegung geschieht.

SANGRAM ist also das genaue Gegenteil des spirituellen KISMET (1943), den Mukherjee auch für das Studio Bombay Talkies gedreht hat. 1944 folgte dann für das neue Studio Filmistan CHAL CHAL RE NAUJAWAN, geschrieben von Saadat Hassan Manto. Leider gibt es über Gyan Mukherjee nicht viel zugängliches Material, sodass mir noch unklar ist, wieso ein solch langer Zeitraum zwischen dem Film von 1944 und SANGRAM liegt. Guru Dutt war übrigens bei SANGRAM ein letztes Mal Regie-Assistent, bevor er mit von Mukherjee beeinflussten Noir-Krimis seine eigene Regiekarriere begann. Seinen Film PYAASA (1957) widmete er dann dem 1956 mit 57 Jahren verstorbenen Mukherjee. Und KAAGAZ KE PHOOL (1959), Dutts Film über einen einst erfolgreichen, dann selbstzerstörerischen Filmemacher und über den Übergang vom Studiosystem zum Starsystem, soll von der Person Mukherjees inspiriert sein.

SANGRAM erzählt die Geschichte eines Mannes, Kunwar, dessen Mutter im Kindbett gestorben ist. Der weichherzige, etwas hilflose Vater, ein Polizist, gibt dem verwöhnten Kind alles, was dieses will. Dennoch will es immer mehr und glaubt folglich, die Welt gehöre ihm. Er klaut sogar seinem Vater die Dienstwaffe, spielt Karten mit zwielichtigen Gestalten und schießt einen im Streit an. Vater und Sohn ziehen weg. Die Nachbarstochter und Kindheitsfreundin Kanta, der er eigentlich versprochen war, bleibt zurück. Später, erwachsen, lernt man ihn als Spieler und Besitzer eines Hotels und Cabarets kennen. Mit der dort arbeitenden Sängerin Mohini hat er ein Verhältnis. Sogar an einem Raubüberfall ist er beteiligt. Nur eine Sorge hat er: Dass der Vater die Wahrheit über ihn erfährt. Der junge Kunwar wird übrigens vom 12-jährigen Shashi Kapoor gespielt.

Wegen des Raubüberfalls wird Kunwar schließlich von der Polizei verfolgt. Auf der Flucht trifft er Kanta, ohne dass sie sich erkennen. Verletzt versteckt er sich bei ihr, seine verbrecherische Vergangenheit verschweigend. Es wird ein kurzer, harmonischer Rückzug von der Wirklichkeit, der in ihm die Illusion eines bürgerlich anständigen Lebens wachsen lässt. Gleich nach der Begegnung der beiden gibt es eine wunderschön gefilmte Liedszene im Auto während sehr starken Regens. Kanta sieht glücklich aus, hält den Kopf aus dem Fenster, genießt die Frische. Da man durch die Scheibe kaum noch gucken kann, putzt sie sie sauber und die Kamera fährt leicht zurück und man sieht, dass die Beifahrerin ebenfalls am Wischen ist. Das hat eine verzaubernde, poetische Einfachheit. Nachdem die wahren Identitäten klar sind, wird sogar die Hochzeit von Kunwar und Kanta geplant. Man sieht sie beim fröhlichen Baden und Plantschen, als wäre es eine Rückkehr in die Kindertage. Aber nach Kunwar wird ja weiterhin polizeilich gefahndet. Gangster erpressen ihn. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Wahrheit herauskommt. Er verliert wegen des Scheiterns seiner Pläne die Kontrolle über sich, als könnte man sich vom Leben eine Zukunft rauben, sie herauspressen. Er entführt Mohini von der Hochzeit mit einem anderen Mann.

Was die Krimi-Story betrifft, so liefern Mukherjee und Wirsching in einer Reihe von entscheidenden Sequenzen die genau nötige Düsternis und Präzision. Stilistisch ist es eine Mischung aus Film Noir und klassischem Gangsterfilm. Beim Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft behält die Kamera kühle Distanz und filmt durch das Schaufenster in den Laden hinein. Kunwars Flucht geschieht in weiten Totalen durch verschiedene unendlich einsam wirkende Landschaften. Die Wirkung einer harten Action-Szene wird durch die räumliche Begrenzung eines Zugabteils verstärkt. Sie endet mit dem Tod eines der Gangster. Eine tief symbolische Szene ist Kunwars Fluchtversuch aus dem Gefängnis, bei dem er aber nur tiefer und tiefer in dieses hineinläuft und immer enger von Gittern und Mauern umschlossen wird, bis es nicht mehr weitergeht.

Und dann kommt es zum wilden, in Schwarz-Weiß-Kontraste und Nebel getauchten, morbid-psychotischen Finale in einem verlassenen Haus. Das Visuelle entspricht hier Kunwars geistigem Zustand, in dem er Kanta zunächst sogar erwürgen und nicht entführen wollte. Seine Cabaret-Freundin Mohini allerdings erschießt er, weil er sie einfach aus seinem Leben haben will. Das ist die erschreckendste Szene in SANGRAM, in dem nicht ein einziges der sonst gerne verwendeten anrüchigen Klischees die Cabaret-Sängerin umweht. Dann erscheint draußen die Polizei. Kunwar rennt von einem zerbrochenem Fenster zum anderen, schießt, lacht irre. Man sieht ihn von außen, sein Gesicht von den zackigen Kanten des Glases umgeben wie in einem expressionistischen Film. In einer Großaufnahme küsst er seine Pistole, lacht und schießt weiter. Er schreit, dass er alle umbringen will. Größte Inspiration für diese Szenen dürfte das Ende von Howard Hawks' SCARFACE (1932) gewesen sein.

Wirschings Einstellungen und dazu die genaue Montage, ein schneller Wechsel aus Bildausschnitten, sind äußerst dynamisch: die zerschossenen Fenster, Kunwars schnelles Laufen hin und her, ein Treppenhaus in Licht und Schatten, dann kommt Nebel durch Tränengas dazu. Als er sich entschließt, Kanta gehen zu lassen, will er sich eigentlich umbringen. Er richtet den Lauf der Pistole auf seine Stirn, sein Blick wird leer, ist voller Angst. Es ist, als sähe man zum ersten Mal in sein unsicheres tiefstes Inneres hinein. Im Gegenlicht sieht man Kanta langsam, wie schlafwandlerisch, Richtung Haustür gehen. Der Lauf streicht über Kunwars Gesicht, zielt dann weg von ihm. Er schafft es einfach nicht abzudrücken, holt Kanta wieder herein und beginnt den letzten Teil seines wahnsinnigen Amoklaufs, der nur im Tod enden kann.