Master
Mitte Januar 2021 lief mit MASTER (2021), der dritten Spielfilmregie von Lokesh Kanagaraj, ein tamilischer Blockbuster mit Superstar Vijay in den indischen Kinos an. Dass es dabei vorher hygienepolitische Auseinandersetzungen um eine 50- oder 100-prozentige Auslastung der Sitzkapazität gegeben hatte, hört sich vom anästhesierten Deutschland aus wie ein echtes Luxusproblem an. Die Zuschauer bekamen jedenfalls intelligente Massenunterhaltung geboten, bei der genau kalkuliert die verschiedenen Zuschauersegmente – alt und jung, Stadt und Land, reich und arm – angesprochen werden. MASTER (2021) ist ein nicht unvorhersehbarer Starfilm mit zwei guten Hauptdarstellern und einer Reihe von einzelnen starken Szenen, die dramaturgisch geschickt, flüssig, ohne Hetze und ohne künstliche Effekthascherei aneinander gefügt sind. Superstar Vijay – Joseph Vijay – trifft hier auf Vijay Sethupathi, wobei es durch eine parallele Erzählstruktur etwas dauert, bis der Gute und der Böse wirklich physisch aufeinander treffen und es ordentlich zwischen ihnen knallt. Und eigentlich hat der Film nicht wirklich die Substanz für geschlagene drei Stunden, aber andererseits gibt das den Darstellern viel Gelegenheit für Solonummern, und da guckt man bis zum Schluss doch ganz gerne zu.
In einem bewussten Spiel mit filmischen Erzählgewohnheiten gehört der Anfang von MASTER dem Bösen. Es beginnt apokalyptisch mit einer weiten Totalen eines großen Anwesens in Flammen, die Bewohner ermordet. Nur ein Junge lebt, der die Schuld auf sich nehmen muss und ins Gefängnis kommt. Trotz Misshandlung im Jugendknast lässt dieser sich nicht brechen und wird mit der Zeit stahlhart und grausamer als die Bösen, die ihn praktisch erschaffen haben. Der Bösewicht bekommt also eine Biografie wie ein typischer Gangster-Held, der schließlich reformiert wird, auch wenn er vielleicht am Ende für seine Sünden mit dem Tod bezahlen muss. Doch hier handelt es sich eben nicht um den Helden des Films. Er ist zwar nach außen hin sanft, verkörpert aber das Böse in Reinkultur, wo psychologische oder soziologische Erklärungen und Zusammenhänge ihren Wert verlieren. Er ist der Dämon, den man vernichten muss. Anstatt aus seinen eigenen schlimmen Erfahrungen zu lernen und Insassen von Jugendgefängnissen zu helfen, benutzt er sie mit äußerster Brutalität als Werkzeuge, als Sündenböcke für seine Verbrechen.
Um die Jugend geht es auch bei der Einführung des Vijay-Helden, denn dieser ist ein College-Lehrer, der sich immer für die Studenten einsetzt. Und daher bestehen diese auch sehr energisch auf seiner Anwesenheit bei einer offiziellen Schulfeier mit hohen Gästen. Wenn es da nicht das Problem gäbe, dass Lehrer JD besoffen und nicht ansprechbar zu Hause auf dem Sofa liegt. Also trägt man ihn erst mal mitsamt Möbelstück nach draußen. In einer schönen Songnummer tanzt er sich halbwegs nüchtern und aus dem Kater heraus. Vijay spielt einen Mann, der bloß seine Ruhe will. Es gibt in dem Zusammenhang zwei running gags, die sich geschickt und witzig durch den Film ziehen. Einmal tiefes besoffenes Schlafen hinter dunklen Sonnenbrillengläsern bei jeder Gelegenheit, etwa auf einer Lehrerkonferenz. Und dann die Ironisierung der berühmten Betroffenheits-Frage: „Warum trinkst du?“ Dann erzählt JD einen traurigen Film nach, als hätte er es selbst erlebt, am Ende sogar Camerons TITANIC (1997).
Dann wird JD als Lehrer in den Jugendknast versetzt, den der Böse regiert. Die Storys begegnen sich, die Kräfte beginnen zu kollidieren. Aber ironischerweise war der Film unterhaltsamer, als sie einfach als Parallelen nebeneinander her liefen. Vielleicht hätte man JD nicht ganz ausnüchtern sollen. Denn ist er erst mal nüchtern und nimmt den Kampf auf, läuft es ziemlich standardmäßig ab. JDs moralischer Wandel wird ausgelöst durch einen grausamen Mord an zwei Kindern, deren Hilferufe er betrunken nicht beachtete. Es beginnt ein Duell um die arme Unterschichten-Jugend vor politischem Hintergrund, denn der Böse will Vorsitzender der LKW-Gewerkschaft werden. Das Spiel mit Erwartungshaltungen ist vorbei. Es passiert, was passieren muss in einem Massenfilm, es wird so, wie ein Vijay-Film sein soll. Der Held mit jugendlicher Energie räumt im Gefängnis auf. Es gibt ein großes Finale mit LKW-Action und einem Prügelei-Höhepunkt im Fleischlager, mit grünem, gelbem Licht in schön ekligem Ambiente.
Kaithi
Rein filmisch betrachtet sind die beiden vorherigen Filme von Kanagaraj interessanter, denn die sind keine Superstar-Filme und sie sind nicht so rechnerisch durchkalkuliert für alle Zuschauergruppen. Daher kann man übrigens nur gespannt darauf sein, wie Kanagarajs nächster Film mit Starlegende Kamal Haasan aussehen wird. Mein Lieblingsfilm von Kanagarj ist KAITHI (2019), der wie MASTER aus zwei aufeinander zulaufenden Handlungsstränge besteht, aber so ruhig MASTER über weite Strecken ist, so rasant ist KAITHI.
Ein Dutzend vergiftete Elitepolizisten müssen zur Behandlung mit einem LKW schnellstens ins 80 Kilometer entfernte Krankenhaus geschafft werden, während brutale Mörderbanden überall auf dem Weg lauern, um sie mit allen Mitteln zu stoppen und alle Zeugen zu beseitigen. Ein Polizist, ein junger LKW-Besitzer und ein gerade entlassener Strafgefangener, der eigentlich bloß nach zehn Jahren zum ersten Mal seine kleine Tochter sehen will, kommen auf diese Weise zufällig zusammen. Und in einer Polizeistation ist der Bandenchef eingesperrt und ein einzelner Beamter, nur unterstützt von ein paar Studenten, muss das Gebäude in einer schier unmöglichen Situation verteidigen, aber sie nehmen die Herausforderung an. Spontan kann man hier einerseits die Inspiration von MAD MAX – FURY ROAD (2015) und andererseits Carpenters ASSAULT – ANSCHLAG BEI NACHT (1976) erkennen.
Das Drehbuch hat also eine einfache Mechanik. Aber Kanagaraj hat einen Sinn für Charaktere und mischt außerdem das US-Action-Vorbild der pausenlosen Handlung und Bewegung mit übersteigertem Irrsinn. KAITHI erreicht dabei eine Ebene des Intensität, die wirklich bemerkenswert ist. Alles gipfelt in einer grandiosen, alle niederen Rachetriebe befriedigenden Gangster-Massenabschlachtung, auf die Rambo stolz wäre.
Maanagaram
Der realistische Großstadtfilm MAANAGARAM (2016) war Kanagarajs Regiedebüt. Im Mittelpunkt steht Chennai als Stadt der Zuwanderung, als zentraler Ort der Hoffnungen, der Chancen, des Erfolges und des Scheiterns. Dabei entwirft Kanagaraj ein düsteres und auch absurdes Porträt von Chennai und seinen Einwohnern. Hier ist eine Großstadt voller Zugezogener, in denen keiner keinem hilft. Das ist die erste Regel, die Neue zu hören bekommen: „Hilf keinem, dir hilft auch keiner.“ Das setzt natürlich einen absurden Kreislauf in Gang, wenn jeder das verinnerlicht.
Erzählt
werden auf komplexe Weise ineinander verwobene Geschichten der
Begegnungen und Zufälle um vier Männer, die einiges zu leiden
haben, äußere und innere Konflikte austragen müssen, aber
schließlich doch Partei ergreifen. Ein Fahrer, ein Informatiker, ein
weiterer Informatiker, der in eine erfolgreiche junge Frau verliebt
ist, die seinen fehlenden Ehrgeiz nicht ertragen kann und ein
gutmütiger, etwas depperter Mann, der glaubt, man könnte eine
Gangsterkarriere ohne persönliche Folgen machen. Dabei gibt es viele
Nachtszenen, vor allem beim filmischen Höhepunkt in den verlassenen
Straßen Chennais, der mehr von der Atmosphäre und innerer
absurd-ironischer Spannung lebt als von veräußerlichter Action.
Und sogar echte Komik entsteht hier durch die Irrfahrt eines brutalen
Gangsters, der erpresst wird von den Entführern seines Sohnes,
welcher sich aber ständig in der Obhut verschiedener Personen
befindet. Kanagarajs Filme sind sehr präzise, wobei seine große
Stärke manchmal auch seine größte Schwäche sein kann, wenn Kalkül, Zweck und Bedeutung zu deutlich werden in seinen sehr genau
berechneten, durchkalkulierten Drehbüchern. Es besteht die Gefahr,
dass die dramaturgische Mechanik übernimmt und sich
verselbstständigt. So hat MAANAGARAM leider mitunter etwas von einem Themenfilm und MASTER ist einfach zu lang. In KAITHI hingegen wird diese Mechanik auf perfekte Weise zum Inhalt selbst.