Dieses Blog durchsuchen

Dienstag, 5. November 2019

Akshay Kumar in HOUSEFULL 4 – Wiedergeburt und Taubenscheiße

Ich habe, neben zwei oder drei gelungenen Musik- und Tanznummern, eine einzige, sich ein paar Mal wiederholende Lieblingsszene in HOUSEFULL 4: Die Gebete von drei Brüdern an drei Tauben, ihnen doch bitte auf den Kopf zu scheißen, während sie seltsame Gesten und Tänzeleien aufführen. Das wäre ein Zeichen dafür, dass ihnen vergeben wurde, sie vor 600 Jahren aufgegessen haben. Die wiedergeborenen Tauben hießen damals Neil, Nitin und Mukesh, woran man sieht, dass der Film keinen Kalauer, keine Anspielung auslässt und wahrscheinlich verstecken sich da noch viele Wortspiele, die die Untertitel nur unzureichend wiedergeben. Und Bollywood-Verweise gibt es sowieso noch haufenweise mehr. Und wie man es vielleicht schon ahnt, hat der Film eine echte Vorliebe für Kot, was hier definitiv ein viel zu gepflegtes Wort ist. Es wäre eine absolut respektlose Missachtung des Films, dezent darum herum zu schreiben. Scheiße muss bei ihrem Namen genannt werden angesichts eines Films, in dem getrocknete Schweinekacke als Geburtstagsgeschenk an einen König gegeben wird, da es sich angeblich um ein Verjüngungsmittel handelt. Natürlich knabbert er sofort daran. Lecker.

Und wenn ich schon beim Wort Kacke und seinen Synonymen bin, dann könnte man sagen, dass Akshay Kumar der einzige Bollywood-Superstar ist, der aus Scheiße Gold machen kann. HOUSEFULL 4 ist kein guter Film, nicht einmal ein witziger. Man guckt den Darstellern zu, und da ist es vor allem Akshay Kumar, der das alles nicht nur mit Anstand, sondern ziemlich brillant bewältigt. Und ganz offensichtlich hat er Spaß an dem sinnfreien Overacting. Das hält die filmische Katastrophe irgendwie zusammen. Keiner der anderen großen Bollywood-Stars würde so etwas unbeschadet überstehen. Erst sieht man ihn als grauhaarigen Friseur mit leichtem Dachschaden. Dann färbt er sich die Haare, um nicht auszusehen wie der Vater seines zukünftigen Schwiegervaters. Und dann sieht man ihn als kahlen Prinzen-Schurken, der nichts anderes will als auf den Thron des Vaters. Auch über dessen Leiche.

An sich geht es in HOUSEFULL 4 um Wiedergeburt. Heute und vor 600 Jahren spielt das Ganze. Und wie so oft bei dem Thema muss mal wieder Unerledigtes aus einem früheren Leben aufgearbeitet werden. Riteish Deshmukh und Bobby Deol sind auch mit von der Partie. Schauspielerinnen sind auch da, vor allem mit Kriti Sanon an der Spitze richtig gute, aber eigentlich hätte man auch untalentierte, unbekannte und billigere Models engagieren können, denn das hier ist ein Männerfilm, in dem Damen nur zur Mini-Rock-Dekoration da sind. Das sieht man besonders bei der Szene am Schluss, wenn die drei jungen Bräute nach der Hochzeit heulend noch an Papas Rockschoß hängen und die drei Kerle genervt einfach die drei Geliebten des Schwiegervaters mitschleppen. Alles austauschbar. Und außerdem zeigt der Film anschaulich, wie leicht es für drei Schwachköpfe ist, hübsche, reiche, junge Damen aufzureißen und sofort zum Heiraten zu bringen. Hier können echte Kerle echt noch was dazulernen.

Richtig seltsam wird HOUSEFULL, wenn er Bezug auf seine eigene Entstehungsgeschichte nimmt, wenn er sich eine Reihe von Gags zum Thema sexueller Belästigung gönnt, die aber nur auf einem Missverständnis beruht. Denn 2018 wurden dem eigentlich vorgesehenen Regisseur des Films Sajid Khan, Bruder von Farah Khan, Vorwürfe wegen Belästigung gemacht, worauf ihm der Job entzogen wurde. Farhad Samji sprang ein. Also kriegt Akshay Kumars Friseur kräftig und schmerzhaft einen in die Eier, nach dem er als eine Art verqueren Liebesbeweis eine Tarantel nach seiner Angebeteten geworfen hat, die das gleichbedeutend mit einer Säureattacke auffasst. Und später kriegt er noch einen auf den Hintern mit einer Peitsche oder etwas Peitschenähnlichem. Ich werde den Film jetzt nicht noch mal gucken, um das zu überprüfen. Ich werde ihn mit Sicherheit sowieso nie wieder gucken. In diesem Leben nicht und hoffentlich auch in keinem anderen. Und wenn sich jetzt jemand fragt, ob man denn über Säureattacken Witze machen sollte, könnte man antworten, dass das entschuldbar ist, wenn die Witze denn gut sind. Lachen spült meist jeden Einwand das Klo herunter, um ein Bild zu benutzen, dass zum Film passt. Aber hier ist kaum ein Witz wirklich gut, alles bleibt seelenlos, alles wird bloß irgendwie benutzt. Also erzeugt es ein ungutes Gefühl.

Donnerstag, 10. Oktober 2019

Gitanjali Raos BOMBAY ROSE – Hindi-Filmträume

© Cinestaan International Sales

Gitanjali Raos Animationsfilm BOMBAY ROSE (2019), der auf dem Filmfest Hamburg 2019 zu sehen war, bewegt sich zwischen Traum und Wirklichkeit, Alltag und Phantasie, zwischen Leben in der Gegenwart und lebendiger Nostalgie. Nicht zufällig benutzt der Filmtitel das alte Wort Bombay und nicht die neue Bezeichnung Mumbai. Und die Phantasie wird in Bombay ganz besonders von der Fiktion des Hindifilms gespeist, wo sie im Kopf weiterlebt, sich selbstständig macht und den Blick auf die Welt um einen herum verändert. Die Welt des Kinos ist schon im filmischen Stadtbild von BOMBAY ROSE verankert, beispielsweise sehr direkt durch die Filmplakate mit dem fiktiven Filmstar-Hero Raja Khan, aber auch indirekt, versteckt, wie etwa die Bar „Pyaasa“, wobei „Durst“ natürlich ein nicht unpassender Name für eine Bar mit Tanzmädchen ist. Aber natürlich denkt man dabei an Guru Dutts Klassiker PYAASA (1957), wo der Dichter-Protagonist von einer abstoßenden Tanzveranstaltung flieht, sich betrinkt und, in einem poetischen Lied den moralischen Zustand der Nation beklagend, durch das Rotlichtviertel geht. BOMBAY ROSE nimmt inhaltlich die Aktionen der heutigen indischen Polizei gegen Tanzbars auf.

BOMBAY ROSE hat keine Handlung, die direkt durch Identifikation Emotionen erzeugt. Der Film schwebt ein wenig über dem Geschehen und erzeugt vor allem eine tagtraumhafte Stimmung, hervorgerufen durch einen langsamen Rhythmus, den sorgfältig abgestimmten Soundtrack, die visuelle Poesie, einer Collage aus Bildern, Melodien, Zitaten. Im Mittelpunkt von BOMBAY ROSE steht eine junge Hindi-Frau, die als Mädchen mit einem alten Mann verheiratet wurde und mit dem Großvater, einem Uhrmacher, und kleiner Schwester nach Mumbai floh. Sie ist eine Straßenverkäuferin, die sich gern als eine ihren Märchenprinzen treffenden Prinzessin träumt. Sie liebt den Blick aufs Meer, denn dort „haben Träume keine Grenzen“. Ein Schurke will ihr angeblich einen guten Job in Dubai besorgen. 

Dann ist da ein junger Moslem-Mann vom Land, der gerne Helden-Filme guckt und mit seinem offenen gelben Hemd seinem heroischen Ideal nacheifert. Er sucht einen Job. Vorerst verkauft er vom Friedhof gestohlene Rosen auf der Straße. Hero und Prinzessin, die perfekte und klassische Hindifilm-Konstellation, dazu die unerschiedliche Religion und ein echter schleimiger Bösewicht als zu überwindende Hindernisse, wobei der Schurke ja im Kino gewöhnlich mit ein paar einprägsamen Sprüchen für die Ewigkeit und ein paar gezielten Schlägen außer Gefecht gesetzt wird. Das Thema der Einwanderung nach Mumbai beherrschte übrigens schon Raos Kurzfilm CHAI (2013) über drei Tee-Verkäufer, die von sich erzählen, angereichert mit bunten Animationsszenen der fernen Heimatregion.

Eine schöne, stimmungsvolle Nebenfigur, die leibliche Verkörperung von Nostalgie, ist die alte Witwe Shirley d'Souza, bei der sich alles vermischt, eigenes Leben und Filmleben. In ihrer Symbolisierung einer vergangenen Zeit erinnert sie ein wenig an die Figur Violet Stoneham, einem Überbleibsel des britischen Empires in Aparna Sens Regiedebüt 36 CHOWRINGHEE LANE (1981). Bei d'Souza sind es die 50er, 60er, gleichbedeutend mit dem Goldenen Zeitalter des indischen Kinos und den moderneren, etwas zupackenderen Romantikern wie Shammi Kapoor. Die Zeit ihrer Jugend, ihrer Romanze, kurz der Erinnerung an schöne Zeiten. Sie redet von Shakila und Guru Dutt und der cool im Mundwinkel hängenden Zigarette. Beide wirkten gemeinsam in Dutts AAR PAAR (1954) mit. Zu einem älteren Mann sagt sie „Johnny Walker“ nach dem klassischen Filmkomiker jener Zeit, ein Synonym für Witzbold. Und als sie sich für ein Treffen zurecht macht, erklingt „Baar Baar Dekho“ aus dem Shammi-Kapoor-Film CHINA TOWN (1962). Dabei es ist ganz und gar nicht diese lexikonartige Präzision der Filmgeschichte, von der sie besessen ist. Die Filme und die Musik sind untrennbar verbunden mit dem persönlichen Erleben.

Einen Geist vom Friedhof treibt offensichtlich die Musiknostalgie um. Wenn der auftaucht, wird die Perspektive kreisförmig, das außerhalb liegende Bild etwas unscharf. Dazu ertönt das Lied einer Jazzinterpretin. Wenn ich nicht ganz schief liege, ist das Lorna Codeiro, die legendäre Goa-Jazz-Sängerin. Ein Geist, für den diese Zeit wohl die Zeit seines Lebens war, untrennbar verbunden mit Musik. Und dazu tanzen die menschlichen Schemen auf dem Friedhof. Vielleicht in der Erinnerung, vielleicht sind es aber auch andere Geister. 

Und wenn ich jetzt nebenbei erwähne, dass Anurag Kashyaps schändlich verkanntes Meisterwerk BOMBAY VELVET auch eine Hommage an den Goa-Jazz, an das wilde Prohibitions-Bombay der 60er ist, dann ist das eine Abschweifung, die absolut Sinn macht, denn es ist Anurag Kashyap, der seine einprägsame Stimme dem Hero Raja Khan – dem Filmhelden im Film im Film – leiht. In einem wichtigen Punkt hält BOMBAY ROSE sich übrigens an die ungeschriebenen Hindifilm-Regeln. Es gibt trotz aller Tragik ein Happy End für die weibliche Hauptfigur und ihre Familie. Und nebenbei wird dem Hero-Spiel junger Männer eine düstere Absage erteilt, da die normale Welt so nicht funktioniert. Es ist also allenfalls das moderne Bollywood-Männerkino, das als Vorbild abgelehnt wird. Das Muster des klassischen Hindifilms, mit seiner Mischung aus Sozialem und Poesie, ist ja im Grunde auch das Prinzip von BOMBAY ROSE, nur eben mit den Mitteln des fantasiereichen Animationsfilms.

BOMBAY ROSE ist das selbst gezeichnete Langfilmdebüt von Gitanjali Rao: Es beruht auf Raos eigenem Kurzfilm TRUE LOVE STORY (2014), in dem der visuelle Stil der Haupthandlung schon festgelegt ist. Aber der Wechsel der Stile, der Übergang vom äußeren zum inneren Leben, beschäftigt sie schon viel länger künstlerisch, so wie in PRINTED RAINBOW (2006), das in grobkörnigem Schwarzweiß den Alltag einer alten Frau mit einer Katze in einer Hochhauswohnung zeigt. Phantastisch wird es, wenn sie sich die Etiketten ihrer Streichholzsammlung anschaut. Aber so ist es auch in Raos jeweils einer Farbe gewidmeten Filmen BLUE (2000), wo ein kleines Mädchen zu französischen Akkordeonklängen vom Weltraum träumt, und ORANGE (2002), der das visuell abstrahierte Liebesleben einer jungen Frau zeigt. 

Der Übergang zwischen den Zeitebenen in BOMBAY ROSE ist absolut fließend. Man sieht etwa, wie ein moderner Bazar sich in einen aus der moslemischen Herrscherzeit verwandelt, wie sich die Häuser schwarzweiß entfärben und zum Bombay des Goldenen Kinozeitalters des Hindifilms werden. Besonders für die Märchenträume bedient sich Rao bei der sehr bunten indischen Volkskunst. Dazu gibt es eine schöne Anekdote, die sie oft in Interviews erzählt, weil sie so einschneidend für ihren künstlerischen Weg war. Als sie ihrem Mentor, dem polnischen Animationskünstler Jerzy Kucia, ihren Film ORANGE zeigte, bemängelte der trotz aller Qualität, dass da nichts Indisches, nichts wirklich Persönliches in dem Film wäre, der tatsächlich mit seiner Bar und seinem Großstadtjazz überall in einer Großstadt auf diesem Planeten spielen könnte.

Der visuelle Stil der Haupthandlung von BOMBAY ROSE ist eine Mischung aus einerseits sehr klarem und detailliertem Realismus, einer großen Präzision mit klaren Linien, andererseits aber auch aus Andeutungen in Form von verschwommenen Flächen. Manchmal sind bei Personen sogar die Augen verwischt. Der Film bleibt so in einem Grenzbereich, der die ständigen Wechsel der Realitätsebenen und künstlerischen Stile möglich macht, ohne dass der Bruch so groß und eindeutig ist wie in PRINTED RAINBOW. Und auch wenn in den Alltagsszenen eher gedämpfte Farben vorherrschen, wirkt das Bild dennoch sehr bunt, da es ungeheuer reich an unterschiedlichen Farbtönen und Schattierungen ist. Das ist übrigens etwas, das sogar innerhalb des Films thematisiert wird. Rosen, ein wichtiges und immerhin titelgebendes Leitmotiv des Films, sind nicht einfach rot, erfährt die kleine Schwester im angewandten Englischunterricht im Garten von Shirley d'Souza: Sie sind beispielsweise scharlachrot oder karminrot. Es ist nicht zuletzt diese präzise Sorgfalt, weshalb Gitanjali Raos neuer Film solch eine zerbrechliche Schönheit ausstrahlt.



© Cinestaan International Sales (Quelle: Filmfest Hamburg)

Dienstag, 8. Oktober 2019

Yashaswini Raghunandans THAT CLOUD NEVER LEFT – Ein Spielzeugfilm

© Yashaswini Raghunandan (Quelle: Filmfest Hamburg)

Ein abgelegenes bengalisches Dorf, in dem es ohne Mondschein so dunkel ist wie in keinem Kino der Welt mit Notausgangsleuchten. Dafür ist es nie wirklich still, denn die großen und kleinen Tiere des umliegenden Dschungels produzieren ein ständiges Geräusch, das man übrigens während des Nachspanns in ordentlicher Lautstärke ungestört genießen kann. Und wenn am Ende des knapp einstündigen Films THAT CLOUD NEVER LEFT (2019) dann nur dieses Dschungelgeräusch bleibt, dann wird gewissermaßen auf eine abstrakte Weise das Prinzip nachgeahmt, das hier im Mittelpunkt stand: die Verarbeitung und Reduzierung von Film-Zelluloid, des physischen Materials eines ursprünglich zum Gucken bestimmten Kinofilms, hin zu einem reinen Geräusch, einem im Übrigen nicht sehr subtilen Geräusch, hervorgerufen mit Hilfe eines amüsanten Krachspielzeugs. Dieses in dem Dorf mit Handarbeit hergestellte Bambusspielzeug, das von umherziehenden Verkäufern in indischen Städten verkauft wird, war auch für Regisseurin Yashaswini Raghunandan der rein praktische Ausgangspunkt der Entstehung ihrer poetisch-informativen Mischung aus Dokumentation, Fiktion und Installation, die ich auf dem Filmfest Hamburg 2019 gesehen habe.

„Kyatketi“ heißt das Spielzeug, wie Raghunandan in Interviews verrät. Das ist ein Wort, das bei Google, geschrieben mit lateinischen Buchstaben, nur im Zusammenhang mit diesem Film auftaucht. Im Laufe des Films sieht man die Arbeitsschritte: Männer im Wald beim Auswählen geeigneter Bambusstämme, deren Zerkleinerung bis zu kleinen Stäben, dann deren Färbung und die Kleinarbeit, was dann wohl meist Frauensache ist. Konkret werden alte Zelluloidstreifen in Stücke geschnitten, in Einzelbilder sozusagen, gefaltet und an den Stäben eines kleinen Rads befestigt, sodass es beim Drehen ein Geräusch ergibt, wenn die Stücke ein Hindernis streifen. Wir sehen auch andere Materialien für andere Handarbeiten. Im Mittelpunkt steht also zunächst einmal die Arbeit. Man bekommt aber auch kleine Einblicke in den Alltag, wie eine Diskussion um Geld oder das Nichtstun bei heftigem Regen.

Gleichzeitig ist THAT CLOUD NEVER LEFT auf eine fast beiläufige, unaufdringliche Weise ein Film übers Sehen, die Freude der Menschen am Gucken und vor allem das Bedürfnis, die Welt einfach anders, mit anderen Augen zu sehen, als man sie normalerweise sieht. Man hält rote Folie vor die Augen, schon hat man einen visuellen Effekt. „Die Welt sieht so anders aus.“, sagt jemand als Reaktion auf die rosarote Färbung des Bildes vor seinen Augen. Und dann ist da, wie überall, wo es ein bisschen Strom gibt, der Blick auf den Fernseher, oft weiter oben angebracht, sodass man ihn von überall im Raum aus sehen kann. Das ist derselbe Blick nach oben wie der auf den Mond, der sich bald verfinstern soll. Und alle sind gespannt auf den angekündigten Blutmond. Sogar ein Gerüst wird zur Beobachtung gebaut. Und Kinder haben ihre ganz eigene Art, sich die Welt zu machen, wie sie ihnen gefällt, wenn ein paar Jungs hier einen Rubin suchen und dabei die abenteuerlichsten Theorien über dessen Verbleib aufstellen. Einmal sieht man einen Vater seinen Jungen ermahnen, dass er den Rubin vergessen und sich lieber auf die Schule konzentrieren solle. Erwachsenen tun gerne so, als seien sie vernünftig.

Und immer wieder zwischendurch gibt es Montagesequenzen von Einzelbildern des sich zersetzenden, verwüsteten Zelluloids. Manchmal kann man noch die ursprünglichen Spielfilmbilder, manchmal nur Andeutungen davon erkennen. Auch der Familie, die das Spielzeug herstellt, werden diese Bilder auf einem Fernseher gezeigt, sozusagen die verborgene Wirklichkeit ihres Arbeitsmaterials, das sich ja ironischerweise immer noch dreht, so wie es sich als Teil der Filmrolle während der Projektion gedreht hat. Das ist eine Art künstlerische Installation für den Hausgebrauch, was wiederum dokumentarisch gefilmt wird. Dazu erklingen alte Filmsongs, wie „Jahne Vo Kaise“ aus dem Guru-Dutt-Film PYAASA, was aber jetzt mit seiner Thematik des armen Poeten wenig mit dem Film zu tun hat. Es geht wohl eher um ein allgemeines Gefühl der Nostalgie. Worüber ich mir nicht ganz klar bin, ist, wo die Musik genau herkommt, ob sie direkt über die im TV gezeigten Bilder gelegt wurde oder ob sie nur die Filmmusik des Films THAT CLOUD NEVER LEFT ist. Ganz am Ende des Films schiebt sich eine Wolke vor den Mond, und der Film ist aus: Die Wolke ging nie weg. Vielleicht nicht unbedingt für die Dorfbewohner, aber für den Filmzuschauer, dem der Blick auf den Blutmond verwehrt bleibt. Und abseits all der verschiedenen Ebenen, unter denen man den Film sehen, betrachten, beschreiben kann, ist seine größte und primäre Qualität seine Verspieltheit, wodurch er nicht nur schön anzugucken, sondern ganz einfach unterhaltsam ist.

Dass in den Slums der Großstädte wie Kalkutta und Mumbai solche ideenreichen Handarbeiten, oft unter Verwendung von auf diese Weise recyceltem Müll, angefertigt werden, ist bekannt. Dass das auch auf dem Land geschieht, wusste ich nicht. Und so ist THAT CLOUD NEVER LEFT tatsächlich auch ein Stück reine Information, Aufklärung über die Situation auf dem Land in Indien. Und da kommt der Produzent des Films ins Spiel, als der das „People's Archive of Rural India“ (PARI) angegeben wird, einem digitalen Archiv aus Texten, Videos, Musik mit eigener Website. Ob Videos zu spezielleren Fällen wie einem lebensgefährlichen Schulweg, weil eine Brücke nicht erneuert wird, oder durch Tiger verwitwete Frauen bis zu den leider üblichen und nötigen Bauernprotesten wegen zu niedriger Gewinne. Sehr interessant. Und empfehlenswert.
 © Yashaswini Raghunandan (Quelle: Filmfest Hamburg)


Sonntag, 6. Oktober 2019

Siddharth Anands WAR – Eine Action-Fantasie

Hrithik Roshan und Tiger Shroff als Offizier Kabir und Untergebener Khalid im Dienste des indischen Geheimdiensts. Das Idol und sein Bewunderer, so spiegelt das Kino das Leben wieder. Dieses Männergespann funktioniert sehr gut in Siddharth Anands schönem Actionfilm WAR (2019). Roshan spielt einen hart gesottenen, leicht gealterten Superspion, möglicherweise nach dem inzwischen abzusehenden verdienten Erfolg des Films nicht zum letzten Mal, sondern in einem Franchise, wie Regisseur Anand gerade öffentlich machte. Was Tiger Shroff angeht, bezweifle ich, dass aus ihm jemals ein Allround-Schauspieler wie Roshan wird. Aber für Action mit ein oder zwei Musiknummern ist er ganz ideal. So wie hier. Jedenfalls macht das Drehbuch keinen Fehler und er bekommt kein Mädchen an seine Seite gestellt, sodass es keine etwas linkischen Liebesszenen gibt. Die beiden Stars haben mit „Jai Jai Shivshankar“ auch eine gut gelaunte und gelungene Tanznummer zusammen.

Roshan allerdings hat in WAR eine kurze Liebesgeschichte, die sich dann aber als fieses Agenten-Kalkül seinerseits erweist. Und da die Dame schnell vom Bösewicht Nr.1 des Films umgebracht wird, kann sie dann auch den Männerfilm nicht weiter stören, aber jedenfalls kann so vorher noch eine langweilige, lausige und lustlose Bikini-Item-Nummer untergebracht werden, die direkt nach der Pause glücklicherweise die Handlung nicht weiter behindert. Aber dennoch: Auch auf die unangenehme Gefahr hin, feministischer Umtriebe bezichtigt zu werden, frage ich, ob das denn echt sein musste. Solch ein leicht zu durchschauendes Oberweiten-Kalkül in einem ansonsten so leichtfüßigen und angenehm naiv erzählten Film. Und ich frage mich, ob eine solche Nummer denn überhaupt irgendwer vermisst hätte. 

Aber wie auch immer: Jedenfalls hat die Tote eine kleine Tochter, um die sich Hrithik Roshan dann kümmert. Kleine Mädchen in echten Männerfilmen, das hat schon immer gepasst, wie wir seit Shirley Temple wissen, die ja sehr oft eine Waisin gespielt hat, mal halb mal voll. Damit es auch mit Sicherheit abwechslungsreich zugeht, lebt der Film von Anfang an von moralischer Gut-Böse-Unsicherheit. Shroffs Vater war Verräter, deshalb steht der Sohn für viele unter Sippen-Verdacht, dann scheint Roshan ein Böser zu sein, bis sich wieder alles umdreht, sodass sich mit den beiden Hauptfiguren im Laufe des Films die drei Kombinationen gut-gut, böse-gut, gut böse ergeben. Dazu kommen noch Verräter innerhalb des indischen Geheimdienstes selbst.

WAR (2019) handelt im Grunde von der Jagd auf einen bestimmten, besonders einfallsreichen und hinterhältigen Islam-Terroristen. Der „War“ des Filmtitels ist also der Krieg gegen den Terror, aber man ist hier nicht im ernst-harten Milieu der Filme von Neeraj Pandey wie BABY (2015). Vor allem ist es eine Action-Fantasie aus Versatzstücken, oder eher aus Zitatfetzen von Spionagewerken wie Tom Cruises Produktionen der Kinofilmreihe MISSION IMPOSSIBLE (seit 1996) bis zu Gut-gegen-Böse-Duellen wie John Woos FACE/OFF (1996). Dabei hat Regisseur Siddharth Anand seine eigene Art, die Dinge anzugehen. Er beherrscht die Kunst, eine schöne geschmackvolle Oberfläche zu kreieren, an der er, wenn nötig, bleiben kann, ohne dass es banal wird. Das schafft er mit einer präzisen Inszenierung, einer fließenden Erzählweise, gepackt mit vielen kleinen, originellen Ideen. WAR strahlt nach außen hin eine Entspanntheit aus, die Hindi-Action oft fehlt, wo die Anstrengungen des Drehs sich im fertigen Produkt niederschlagen. Diese Leichtfüßigkeit zeichnete schon BANG BANG! (2014) aus, den manche Fans lieber mögen als das US-Original KNIGHT AND DAY (2010) von James Mangold, und sie haben gar nicht so Unrecht. Und auch wenn es ein für Hindi-Film-Verhältnisse teurer Film ist, kann man etwa eine Motorradverfolgung nicht so authentisch machen, wie es eine große Hollywood-Produktion kann. Und so gibt vor allem der Schnitt dem ganzen einen realen Look und einen glaubwürdigen Zusammenhang, der überzeugt.

Anand scheint übrigens an sich eine Vorliebe für Tempo zu haben. Sein sympathischer Familienfilm TA RA RUM PUM (2007) handelte ja schon von Rennfahrerei. Auf Deutsch hat man die hübsche Lautmalerei des Titels übrigens durch PAPA GIBT GAS – EINE FAMILIE IST NICHT ZU STOPPEN ersetzt. Mit schön anzusehender formaler Sicherheit beherrscht Anand aber auch romantische Komödien wie LOVE AAJ KAL (2009) und den ausgezeichneten BACHNA AE HASEENO (2008) um einen Jungplayboy, der sich zwischen verschiedenen Frauen nicht entscheiden kann. Und in dem Drama ANJAANA ANJAANI (2010) geht es sogar um Selbstmord. Und so wie Anand zwei Mal mit Saif Ali Khan, zwei Mal mit Ranbir Kapoor gedreht hat, so ist WAR jetzt sein zweiter Film mit Hrithik Roshan. 

Damit diese Stars gut aussehen, weiß Anand sie, passend zu ihrem Image und ihren Fähigkeiten, in Szene zu setzen. Er schafft ikonische Momente und Bilder, ohne es pompös wirken zu lassen. In WAR hatte Anand ja zusätzlich noch die Aufgabe, zwei Männern gleichzeitig besondere gemeinsame Momente zu geben. Und das geschieht zum einen in der erwähnten Tanzszene und natürlich zum anderen in den Kampfszenen, mal verbündet, mal verfeindet. Da gibt es am Ende eine ausgedehnte Prügelschlacht in einer alten verlassenen Kirche. Dass Siddharth Anand den Regisseurskollegen John Woo bwundert, hatte man ja schon vorher geahnt, allerdings verzichtet er in seiner Filmkirche auf die obligatorischen weißen Tauben. Im Ganzen ist WAR mit seiner Action-Naivität das genaue Gegenstück zu dem überladenen, unverdaulichen SAAHO-Desaster von vor einigen Wochen. Wären SAAHO (2019) und WAR Schiffe, dann würde SAAHO schwerfällig untergehen, während WAR leicht darüber hinwegflöge.

Mittwoch, 25. September 2019

Shakti Samantas MEHBOOBA – Tragische Liebe und Wiedergeburt

Nur ein paar Flammen brennen im Hintergrund: Während des Vorspanns von Shakti Samantas Film MEHBOOBA (1976) steht Rajesh Khanna zunächst fast ganz im Dunklen, E-Gitarre in der Hand und trägt ein sehr rhythmisches Lied vor. Langsam wird klar, dass es eine Bühnensituation ist, wobei man das Publikum am Ende nur applaudieren hört, aber nicht sieht. Das ist der Auftakt zu einer Liebesgeschichte in zwei Epochen, eine tragisch endende in der Vergangenheit, eine zweite in der Gegenwart. Partnerin ist Hema Malini. MEHBOOBA ist eine der vielen Wiedergeburtsfilme, die inspiriert sind von den Anfängen des indischen Geister- und Wiedergeburtsfilms: Kamal Amrohis MAHAL (1949) und Bimal Roys MADHUMATI (1958). Genau wie diese beiden Filme dreht es sich um ein altes Haus, einen prächtigen Palast, ein Ölporträt, ein traurig-ätherisches und ungeheuer sehnsuchtsvolles Lied und vor allem eine tragisch, vorzeitig im Tod geendete Liebesgeschichte. Zwischendurch tauchen sogar Bilder und Kameraeinstellungen auf, die vermutlich weniger bewusste Kopien aus den alten Filmen sind als vermutlich vielmehr Erinnerungsfetzen von Drehbuchautor Gulshan Nanda (1929-1985) oder Regisseur Samanta (1926-2009) oder beiden, die sicherlich diese Filme gesehen haben, als sie damals frisch herausgekommen sind. Es sind immer nur kleine Augenblicke, wo man Déjà-vu-Momente haben kann, als wäre man Protagonist in einem Mystery-Film: Das Boot im Wasser mit der geisterhaften Frau aus MAHAL. Oder die an einer gesperrten Straße endende Fahrt im Regen mit einem rettenden Haus gleich in der Nähe sowie ein Spaziergang im Wald und der Blick auf das Dschungelmädchen wie in MADHUMATI.

Es ist aber gleichzeitig eine echte Literaturverfilmung nach einem Roman von Drehbuchautor Gulshan Nanda selbst. Samanta und Nanda hatten 1971 einen großen Erfolg mit dem ausgezeichneten KATI PATANG, mit Khanna in der Hauptrolle. Der Film war eine der großen Hits der kurzen, aber heftigen Popularitätswelle, die Khanna Ende der 60er, Anfang der 70er hatte und die abebbte, als der „Angry young man“ in Gestalt von Amitabh Bachchan 1973 mit ZANJEER die Leinwandbühne des Hindi-Kinos betrat und lange unangefochten beherrschte. Doch es war nicht nur eine Starablösung, sondern auch eine des Prinzips, der Inhalte, der Haltung. Natürlich auch, weil die Zeiten sich geändert hatten und sich der Unabhängigkeits-Idealismus in Form von Sozialismus und späterem Wirtschaftsaufschwung in handfeste gesellschaftliche Probleme aufgelöst hatte. Aber MEHBOOBA erinnert daran, dass Khanna der letzte große Star der 60er war, der eine moderne, freie Version der Romantik verkörperte, wie sie in den 30ern bis in die frühen 60er mit Schauspielern wie Ashok Kumar und Dilip Kumar ganz normal war und erst Ende der 1980er, beginnend mit den Filmen von Sooraj Barjatya, im Hindi-Film wieder einen großen Raum einnehmen würde. Die nächsten beiden Wiedergeburtsfilme, vier Jahre nach MEHBOOBA, sollten dann ganz anders sein und trafen, jeder auf seine Weise und unterschiedlich erfolgreich, den Nerv der Zeit. Subhash Ghais KARZ (1980) war ein großer Blockbuster mit Rishi Kapoor und das Titellied „Om Shanti Om“ inspirierte Farah Khan zu ihrem Filmtitel OM SHANTI OM (2007). Und Chetan Anands KUDRAT (1981) war ein moderner Wiedergeburtsthriller zwischen Spiritualität und medizinischer Psychologie. Aber interessanterweise spielen bei Anand, wie in MEHBOOBA, Hema Malini und Rajesh Khanna mit.

Die Story von MEHBOOBA ist einfach: Ein mächtig erfolgreicher Sänger bekommt ein altes Saiten-Instrument, eine Tanpura, geschenkt, auf dem der Name einer Frau steht, einer Kurtisane aus islamischen Hofzeiten. Von da an ist er nicht mehr ganz er selbst. Er wacht mitten in der Nacht auf, hört klassische Musik aus dem Nichts, geht durch sein Haus. Später in der Gewitternacht, als er ein fremdes Haus betritt, ist er wie hypnotisiert, wandert weiter herum zu einem Palast, findet ein Bild und jetzt hört er sogar eine Stimme aus dem Jenseits, was zu einer langen Rückblende führt. Das alles folgt zum großen Teil reiner Traum- oder besser Tagtraumlogik. Dass jemand in solchen Liebes-Mystery-Filmen hinter der Gesangsstimme einer Frau hinterherläuft, ist nichts Ungewöhnliches, aber hier wandert jemand tatsächlich zwischen den Zeiten. Mal ist es Nacht, dann plötzlich Tag, wenn er sie sieht und gleichzeitig ist das Unwetter weg. Die Palastszenen, der Tanz, die Musik sind auch sehr gelungen und in der Liebesgeschichte steckt echte Tragik, die ohne Bösewicht auskommt. Jeder hat hier auf seine Weise recht.

Auf diesen Teil der Geschichte folgt das Wiedersehen in der Gegenwart. Und das ist dann auch der schwächere Teil des Films. Das hat ganz einfach dramaturgische Gründe, denn die Romantik ist ein bisschen weg, da es hauptsächlich darum geht, dass sie sich, so wie er, auch an alles aus der Vergangenheit erinnern soll. Daher braucht man hier einen Bösewicht, um mit Zorn und Intrigantentum Spannung zu erzeugen. Aber der Akt der Erinnerung selbst ist wiederum sehr schön. Ort ist der Palast. Zu Khannas Worten, der von der Vergangenheit berichtet, geht Malini immer im Kreis, immer schneller und die Kamera macht diese kreiselnden 360-Grad-Bewegungen unaufhörlich mit. Dazu lächelt Malini immer fröhlicher, und die Tonspur mit ihren rhythmischen Tanzgeräuschen scheint das Verschüttete eines früheren Lebens regelrecht freizuklopfen. Nur der Schluss mit seiner Kampfszene ist grässlich. Khanna ist einfach kein Action-Star. Das muss ein Zugeständnis an den inzwischen härteren, actionorientierten Zeitgeschmack gewesen sein. Hat aber auch nichts geholfen, denn der Film war ein Misserfolg.

MEHBOOBA hat einen äußerst schönen Soundtrack von R.D. Burman, der zwar mit dem poppigen Titelsong beginnt, aber im Ganzen sehr klassisch klingt. Dazu kommen schöne Visualisierungen von Regisseur Samanta. Khanna wollte übrigens zwei verschiedene Playbacksänger. Einmal Manna Dey für die klassische Epoche, auf die dieser spezialisiert war im kommerziellen Hindi- Kino. Sein ganzes Können hört man am besten in „Gori Tori Paijaniya“. Und Kishore Kumar dann, die eigentliche Stimme Khannas, übernahm die Gegenwart. Lata Mangeshkar singt das herausfordernde „Aapke Shahar Mein Aayi Hoon“, zu dem Malini auf Khannas Hochzeit mit einer anderen tanzt. Ein Duett von Mangeshkar und Kumar ist das Liebesduett „Parbat Ke Peeche Chambela Gaon“ mit hübscher Berglandschaftspoesie. Das zentrale Lied des Films aber ist „Mere Naina Sawan Bhadon“, das aus dem Nebel der Vergangenheit erklingt. Khanna sitzt und raucht, schaut zum Kronleuchter hinauf, der mit dem Einsetzen des Gesangs leicht und sehnsuchtsvoll ins Schwanken gerät. In der Gegenwart singt er es dann selbst, damit sie sich an das erinnert, was zwischen ihnen beiden einst war.