Nandita Das' MANTO (2018)
mit Nawazuddin Siddiqui in der Hauptrolle ist kein ein ganzes Leben
umfassender biografischer Film über den Urdu-Schriftsteller Saadat
Hasan Manto (1912-1955). MANTO konzentriert sich auf die Zeit kurz
vor, während und nach der politischen Unabhängigkeit Indiens 1947,
wodurch sich das Leben des Autors grundlegend änderte und er
schließlich doch nach Pakistan zog, obwohl Bombay seine Stadt war,
in der er trotz aller Schwierigkeiten die glücklichsten Jahre seines
Lebens verbracht hatte. Über Bombay hat er auch immer wieder
geschrieben. Und dort hat er auch für die Hindi-Filmindustrie
gearbeitet.
Diese glücklichen Jahre
kann man nur noch am Anfang erahnen, wenn Manto im lockeren Gespräch mit
Kollegen und Kolleginnen ist. Oder wenn am Filmstudio Bombay Talkies 1947 die
Unabhängigkeit Indiens gefeiert wird. Und sie sind alle da: Darunter
natürlich Ashok Kumar, der große Star der 40er, der Komponist
Naushad, die junge Schauspielerin Nargis und ihre berühmte Mutter
Jaddanbai. Der Regisseur K. Asif läuft herum und fabuliert von
seinem geplanten Film MUGHAL-E-AZAM, der aber, wie wir wissen, erst
1960 Premiere haben sollte. Auch dabei ist der Star Shyam Chadda, ein
sehr guter Freund Mantos, der 1951 mit nur 31 Jahren bei einem
Reitunfall starb. Und die Schauspieler-Sängerin Suraiya soll laut
Besetzungsliste ebenfalls von jemandem dargestellt werden, was ich
allerdings nicht gemerkt habe, obwohl ich, seit ich ANMOL GHADI
(1946) gesehen habe, eine Vorliebe für das Spiel und den Gesang der
echten Suraiya habe. Auf dieser Feier werden die herrschenden
Probleme deutlich. Bombay Talkies bekommt anonyme Drohbriefe, weil
dort überdurchschnittlich viele Moslems angestellt sind. Was rein
statistisch stimmt, aber Ashok Kumar, der einer der Leiter ist,
kümmert das nicht. Manto nimmt es ernster und bietet sogar, um nur
ja vorsichtig zu sein, seine Entlassung an.
Manto ist überhaupt sehr
vorsichtig und der Film zeigt sehr schön, wie auch seine eigene
Angst mitverantwortlich für diesen Grenzwechsel ist, wie sie ihn
dazu bringt, ganz gegen seinen persönlichen Wunsch zu handeln, wobei
natürlich hinzukommt, dass er an Frau und Kind denken muss. Er hat
kein wirklich gefährliches Schlüsselerlebnis, wo sein Leben durch
marodierende und mordende Massen direkt in Gefahr gewesen wäre. Es
sind die kleinen Ereignisse, das, was er sieht und hört, das
Aufsaugen der allgemeinen Atmosphäre, die seinen Wandel langsam
herbeiführen. Er ist beispielsweise mit seiner Frau in einem
Schuhgeschäft, wo er die Besitzer belauscht, von denen einer nach
Pakistan will. Plötzlich werden die Türen und Fenster verrammelt,
da sich eine grölende Hindu-Meute nähert. Dann wieder fühlt er
sich beschämt durch den furchtlosen Hindu Ashok Kumar, der auch in
Zeiten der Ausschreitungen seinen Fahrer durch ein Moslemviertel eine
Abkürzung fahren lässt und tatsächlich von den Bewohnern
freundlich begrüßt wird.
Doch im Film ist ausgerechnet ein Gespräch
mit Freund Shyam Chadda für den Umzug ausschlaggebend, denn dieser
schimpft über Moslems, nachdem ein Familienangehöriger bei der
Flucht aus Pakistan ermordet wurde. Es ist Mantos Erkenntnis, dass in
solchen Zeiten jeder imstande ist, aus Wut oder Rache selbst den eigenen
Freund zu ermorden. Da verlässt er Bombay, aber auch mit dem Wissen,
dass er diesen Zorn potentiell ebenfalls in sich hat. In Lahore vermisst
er dann die Hindus, geht durch die verwüsteten Geschäftsviertel,
die von neuen Bewohnern in Besitz genommen werden. Sehr unaufgeregt
zeigt der Film die Atmosphäre des Hasses, indem er sich auf die
psychischen Folgen und praktischen Folgeerscheinungen konzentriert statt auf spektakuläre Gewalt.
Nandita Das, die bekannte Schauspielerin, hat sich ja schon vor zehn
Jahren in ihrem Regiedebüt FIRAAQ (2008) diesem Thema gewidmet, wo
es um die kommunalen Pogrome in Gujarat 2002 geht.
Durch die Teilung Indiens
steht Manto als Autor zwischen zwei Welten, wo er doch sowieso schon
ständig von der Justiz und ihrer Staatsmoral bedroht ist. Er steht
zwischen zwischen dem neuen Indien und dem neuen Pakistan, zu keinem
der beiden sich wirklich zugehörig fühlend. Als wäre er gespalten.
Seine geistige Existenz ist sowieso schon fragil zwischen
bürgerlicher, familiärer Wirklichkeit und seiner Fiktion, seinen
Phantasiefiguren. Und er lebt zwischen ernster Literatur und dem
juristischen Vorwurf der Obszönität sowie, für Manto persönlich
noch schlimmer, dem Vorwurf des Sensationalismus. Denn Manto hatte
nicht nur einen sehr persönlichen, direkten Stil, er schrieb auch
meist über die düsteren Seiten der Wirklichkeit. Unzählige
ausgebeutete Prostituierte bevölkern seine Geschichten. Dabei hat er
aber keine Lösung anzubieten. Er stand gefühlsmäßig zwar dem
Sozialismus nahe, hatte aber eine gesunde Skepsis angesichts der
praktisch-politischen Ausformung, weil er mit seiner Intelligenz auch
erkannte, dass der Diktatur der Ausbeutung nur eine andere Diktatur
von wenigen entgegengesetzt wird, die keiner Kontrolle unterliegt.
Und so stand er nicht nur in Distanz zu der staatstragenden Kultur, wo immer gerne Optimismus und etwas Erhebendes gefragt ist, sondern auch zu
den fortschrittlichen Autoren, die an Veränderung glaubten, wofür
aber auch Optimismus angesagt war. Und immer wieder stand Manto vor Gericht
wegen Obszönität. In Pakistan wurde er dann sogar verurteilt,
konnte aber die Geldstrafe bezahlen, was ihn vor dem Gefängnis
bewahrte.
MANTO ist sehr genau
recherchiert, sehr detailliert und dabei sehr, sehr sachlich. Viele Innenaufnahmen sind fast schon ein wenig zu perfekt eingefärbt in digitale
Sepia-Nostalgie. Natürlich hat man sich Freiheiten genommen. So
entwirft Manto seine berühmte ironisch-größenwahnsinnige Grabinschrift, die die Familie später
durch einen harmlosen Spruch austauschen ließ, schon viele Jahre vor
seinem Tod bei einem Gespräch mit der Schwester auf dem Friedhof,
auf dem die Eltern begraben sind: „Hier
liegt Saadat Hasan Manto und bei ihm liegen alle Geheimnisse und
Mysterien der Kunst des Geschichtenerzählens. Unter einem Erdhügel
ruht er und fragt sich immer noch, wer von den beiden der größere
Geschichtenerzähler ist: Gott oder er.“
Es liegt eine
Stimmung der Ausweglosigkeit über dem Film. Mantos Leben in Pakistan
ist ein einziger Abstieg. Er verdient immer weniger Geld. Einmal
rutscht es der Ehefrau raus, dass sie wegen seines Schreibens noch
verhungern würden. Aber er kann nur schreiben, und er kann nicht
anders schreiben. Noch ein äußerer Druck mehr. Die ganze Situation
paralysiert ihn. Dort ist Bombay, hier die Familie. Freund Shyam
Chadda lässt ihn verstehen, er solle zurückkommen nach Bombay, man
warte auf ihn. Er reagiert nicht, als wären die Schäden in seiner
Seele nicht mehr zu reparieren. Nawazuddin Siddiqui spielt Manto
brillant und zurückhaltend mit ruhiger Intensität und Kontrolle,
die dem Autor immer mehr entgleitet. In
Pakistan trinkt er sich immer tiefer in den Abgrund. Das normale,
alles andere als untypische Trinken eines Autors am Rande der
Bürgerlichkeit verwandelt sich in ein krankmachendes,
depressiv-selbstzerstörerisches Saufen, bei dem er den Kontakt zur
Wirklichkeit verliert, was ihn zunächst in die Psychiatrie und dann
mit 42 Jahren ins Grab bring.
Im
Großen und Ganzen ist MANTO ein wenig überkorrekt sachlich und wird
dadurch Mantos Persönlichkeit und vor allem seinem Schreiben nicht
wirklich gerecht. Alle betonen in dem Film immer wieder, wie
ungemütlich und verstörend seine Geschichten sind. Gleich am Anfang
schon ist dies der Fall in Bezug auf die Bombay-Geschichte „Zehn
Rupien“, als die Ehefrau sie liest. Und daran ändert sich nichts.
Zwar verkündet der Film am Ende „Manto lebt“ – in Form
seiner Geschichten – aber ein wirkliches Gefühl für sein
Schreiben vermittelt der Film nicht. Zwar werden die intellektuellen
und juristischen Diskussionen um seine Kunst wiedergegeben, aber
diese reduzieren sich mit einer Ausnahme auf Inhalte. Natürlich haben seine Geschichten
oft traurige, heftige, erotische Themen, aber es ist sein Stil, der der Düsternis
entgegenarbeitet. Er erzählt präzise, einfühlsam, lebendig, auch
ironisch, vor allem auch selbstironisch, da er gerne eine Figur
namens Manto auftreten lässt. Seine Kunst ist poetisch und schön, und
genau da versagt der Film wegen seiner durchgehenden Sachlichkeit,
die vornehmlich darum bemüht ist, Zusammenhänge und Sachverhalte
deutlich zu machen. Aber Manto nur als Opfer zu verstehen, greift
auch zu kurz. Schließlich sollten die Geschichten auch provozieren,
sollten sie manchmal ganz absichtlich obszön sein, weil diese Welt
obszön sein kann. Manto wusste, was er tut. Aber wenn ein Staat solch eine Obszönität
verurteilt, verurteilt er im Grunde sich selbst.
Die
Sachlichkeit des Films zeigt sich auch bei den kurzen Sequenzen, die
versuchen, in ein paar entscheidenden Bilder ein paar wichtige
Kurzgeschichten Mantos widerzugeben. Dass diese Sequenzen sich oft
übergangslos in den Film einfügen, ist passend, da sie Mantos
fließende Weltsicht aus Innen und Außen zeigen, aber im Endeffekt
sind es doch nicht mehr als bebilderte Inhaltsangaben, deren
poetische und emotionale Lücken nur der zu füllen weiß, der die
Geschichten tatsächlich gelesen hat. Das weiß Nandita Das auch,
weshalb sie als Drehbuchautorin zwischendurch direkt mit Mantos
Worten arbeitet. Aber trotz aller Sympathie identifiziert sich der
Film nicht mit Manto. Der Blick auf ihn ist immer wieder der der
besorgten Ehefrau, die gar nicht versteht, was aus ihrem netten und
anständigen Mann geworden ist und die auch nichts dagegen hätte,
wenn er Einträglicheres verfassen würde. Aber nichts kann einen
Mann mehr umbringen als dieser besorgte Blick, weil man immer einen
Vorwurf darin liest, ein Versager zu sein, der die Familie nicht
ernähren kann. Weshalb Manto nur noch mehr trinkt. Aber was dem Film tatsächlich gut gelingt, das ist
die Darstellung Mantos als Symbol, als ein Mann, der vor allem am
Irrsinn, an der Gewalt und an den Widersprüchen der Teilung zugrunde
geht. So wie die Hauptfigur in seiner Geschichte "Toba Tek Singh" über den Austausch psychiatrischer Insassen zwischen Indien und Pakistan nach Religionszugehörigkeit. Ein orientierungsloser Mann, der gar nicht weg will, bricht genau auf der Grenze zusammen.
MANTO, mit seinem großartigen Hauptdarsteller Siddiqui, ist ein gelungener, guter, aber im Endeffekt eher verdienstvoller als großer
Film. Ansonsten kann ich nur jedem empfehlen: Lest Manto! Zumindest
in der englischen Übersetzung. Auf Deutsch gibt es von ihm nichts. Man hat die Auswahl zwischen verschiedenen Sammelbänden: Die Geschichten in und über Bombay
wurden beispielsweise vor einigen Jahren unter dem Buchtitel „Bombay Stories“ herausgebracht. Filmfans empfehle ich das wunderbare Buch „Stars
from another Sky“ mit Mantos Erinnerungen an die
Hindi-Filmwelt der 40er.
Grab Mantos (von: Muhammad Imran Saeed)