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Donnerstag, 12. März 2020

A.R. Murugadoss' DARBAR – Rajinikanth-Retro-Energie


Zwei Dinge habe ich über den außergewöhnlichen südindischen Mainstream-Regisseur A.R.Murugadoss gelesen, die ich besonders interessant finde: Erstens nimmt er auf Außendrehs am liebsten Bücher und DVDs mit und verzichtet ansonsten sowieso auf Partys und das, was man gemeinhin gesellschaftliches Leben nennt. Sehr sympathisch. Zweitens wäre er vielleicht Naxalit, also maoistisch-kommunistischer Befreiungskämpfer oder Politiker, geworden, wenn es in seinem Leben nicht die Literatur und den Film gegeben hätte. Dementsprechend sind seine Filme voll von sozialen und politischen Botschaften, die wirklich ernst gemeint sind und nicht nur irgendwelches Beiwerk.

Ein perfektes Beispiel ist KATHTHI (2014) über den Widerstand gegen multinationale Konzerne, die mit verbrecherischen Methoden Grundstücke erwerben, und über die Wasserknappheit auf dem Land, außerdem eine Lehrstunde für arrogante Großstädter, sich für die Probleme auf dem Land zu interessieren. Und wenn er einen ganzen Film und dessen Hauptfigur STALIN (2006) nennt, weil dessen Vater Kommunist war, dann ist das sowohl eine Mischung aus Ironie als auch irgendwie ernst gemeint. Murugadoss zeigt auch Menschen, die normalerweise im indischen Kino allenfalls in Arthouse-Filmen existieren. Da sind Kriegsveteranen in THUPPAKKI (2012). In KATHTHI steht ein Altersheim mit seinen Bewohnern im Zentrum. Es gibt Behinderte in STALIN. In einer der beklemmendsten Szenen überhaupt in seinem Werk geht es um eine verzweifelte junge hochbegabte Frau ohne Arme, die in einer gleichgültigen Gesellschaft niemanden findet, der sie die Examensarbeit diktieren kann und die daraufhin Selbstmord begeht. Diese soziale und politische Ader schließt aber, wenn es nötig ist, harte Selbstjustiz und Law-and-Order nicht aus. Terroristen muss man ausschalten wie Dämonen. Das zeigt THUPPAKKI.

Aber politisches und soziales Bewusstsein allein machen natürlich keinen guten Film, auch wenn sich das hier in Deutschland wahrscheinlich nie herumsprechen wird. Doch Murugadoss weiß, wie man die typischen Mainstream-Anforderungen mit ihren im Idealfall unvorhersehbaren Entwicklungen und Ausgängen mit einer fließenden Story verbindet. Und es ist ja eine große Versuchung, sich angesichts der offenen Struktur des indischen populären Kinos in Beliebigkeit und Ironie zu flüchten. Murugadoss hat Humor, aber man spürt immer seine Intelligenz und die Ernsthaftigkeit, mit der er sein Thema, seine Figuren behandelt und die dieses Kino verdient hat. Das Drehbuch ist bei ihm das Herzstück seiner Filme, die aber auch visuell immer sehr wirkungsvoll sind. Er stellt sich eben immer das richtige Team zusammen. Dabei vernachlässigt er keinen inhaltlichen Teil seiner Filme. GHAJINI (2008, Hindi) ist da ein schönes Beispiel, wie die zarte, fast etwas künstliche Liebesgeschichte in der Rückblende neben dem sehr physischen, aggressiven Racheamoklauf des Mannes ohne Gedächtnis existiert.

Groß waren also die Erwartungen an die Paarung von Murugadoss und Superstar Rajinikanth. Herausgekommen ist mit DARBAR (2020) ein temporeicher Tamil-Film, der das Prinzip Rajinikanth ganz in den Mittelpunkt stellt und dafür auch die Handlung in mehr Einzelstücke zerlegt als gewohnt und mit Freuden der irrealen Masala-Fantastik huldigt. Wenn der Film also etwas wirr und überdreht ist und die Story nicht so fein zusammenhängend wie gewohnt, dann ist das kein Versagen von Murugadoss, der seine Filme ja selbst schreibt, sondern volle Absicht.

Einen Film mit einem Superstar hat Murugadoss ja beispielsweise schon vor einigen Jahren mit STALIN gemacht. Das hat er gewissermaßen den Übergang Chiranjeewis in die Politik eingeleitet, der bald darauf seine eigene Partei gründete. Aber mit Rajinikanth hier geht es vor allem um Entertainment. Das ist von den ersten Bildern und den ersten Tönen an klar. Da dröhnen im Vorspann die klassischen Bläser frischen Wind in einen prinzipiell altmodischen Film. Hier handelt es sich um echtes Vintage-Masala. Das Ganze wird aber mit modernem, energiereichen Stil verbunden. Gleich die erste halbe Stunde ist ein Film für sich. Rajinikanth als brutaler böser Bulle und Selbstjustizkiller in Mumbai. Eine Rückblende zeigt sein altes Ich und später den Grund seiner Wandlung. Zunächst darf man dabei zusehen, wie er als Polizist auf intelligente Weise in einer halben Stunde mit dem Mädchenhandel in Mumbai aufräumt und mit einer Aktion gleich tausende befreit.

Wie sehr Murugadoss auch in solch einem Unterhaltungsfilm die Dinge bis zu Ende denkt und auf einfache Wahrheiten und Lösungen verzichtet, zeigt sein Kommentar zur Drogenpolitik. Der Polizist in DARBAR schafft es zu einem bestimmten Zeitpunkt, die Einfuhr von Drogen nach Mumbai zu stoppen, es gibt also für Abhängige keinen Nachschub. Und das wird thematisiert, denn die Menschen auf Entzug drehen durch, bringen sich um, begehen Gewalttaten gegen andere. Also muss staatliche Hilfe her, um diese Menschen aufzufangen.

Den Film in seinen Schwachstellen zu kritisieren ist natürlich Kritik auf sehr hohem Niveau, denn er ist wirklich unterhaltsam und erzeugt zwischendurch eine wahrlich euphorische Stimmung. Man kann Murugadoss also nur dahin kritisieren, dass er nicht den vollen Weg bis ans Ende gegangen ist, sondern gerade am Schluss, wenn auf den Superschurken der Supersuperschurke folgt, das Tempo bremst. Als hätte der Realist in ihm dann doch die Zügel nicht los lassen wollen. Das spricht für Murugadoss, aber lähmt den Film am Ende. Das Euphorische, das der Film in großen Teilen hat, verflüchtigt sich also leider etwas.

Eine Liebesgeschichte gibt es übrigens kurz auch, obwohl eigentlich die freundschaftliche Vater-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt steht. Doch die Tochter will den alleinerziehenden Vater verheiratet sehen und setzt ihn auf eine Frau Mitte 30 an. Was zunächst tröstlich ist: Auch ein Superstar gerät ins sprachlose Stottern, wenn er einer Frau gegenüber steht, der er eigentlich etwas sagen möchte. „Ich spreche kein Urdu!“, kriegt er als mitleidige Antwort auf sein Gestammel. Ist das jetzt urdufeindlich? Doch dann wird der extreme Altersunterschied plötzlich ein Thema. Das, was wie eine typische Filmromanze anfängt, wird auf Bitten der Familie der Familie der Frau jäh abgebrochen. Er sei ein unpassender Bewerber, kriegt er zu hören, und peinlich berührt stimmt er zu, sieht die Frau ab da auch nicht mehr. Das hat eine gewisse Ironie. 2006 turtelte Chiranjeevi in STALIN mit einem 30 Jahre jüngeren Mädchen herum, inklusive anschließender Hochzeit. Muss man das in DARBAR jetzt als ironische Anspielung verstehen?