Zwei Dinge habe ich über
den außergewöhnlichen südindischen Mainstream-Regisseur
A.R.Murugadoss gelesen, die ich besonders interessant finde: Erstens
nimmt er auf Außendrehs am liebsten Bücher und DVDs mit und
verzichtet ansonsten sowieso auf Partys und das, was man gemeinhin
gesellschaftliches Leben nennt. Sehr sympathisch. Zweitens wäre er
vielleicht Naxalit, also maoistisch-kommunistischer Befreiungskämpfer
oder Politiker, geworden, wenn es in seinem Leben nicht die Literatur
und den Film gegeben hätte. Dementsprechend sind seine Filme voll
von sozialen und politischen Botschaften, die wirklich ernst gemeint
sind und nicht nur irgendwelches Beiwerk.
Ein perfektes Beispiel
ist KATHTHI (2014) über den Widerstand gegen multinationale
Konzerne, die mit verbrecherischen Methoden Grundstücke erwerben,
und über die Wasserknappheit auf dem Land, außerdem eine Lehrstunde
für arrogante Großstädter, sich für die Probleme auf dem Land zu interessieren. Und wenn er einen ganzen Film und dessen Hauptfigur
STALIN (2006) nennt, weil dessen Vater Kommunist war, dann ist das
sowohl eine Mischung aus Ironie als auch irgendwie ernst gemeint.
Murugadoss zeigt auch Menschen, die normalerweise im indischen Kino
allenfalls in Arthouse-Filmen existieren. Da sind Kriegsveteranen in
THUPPAKKI (2012). In KATHTHI steht ein Altersheim mit seinen
Bewohnern im Zentrum. Es gibt Behinderte in STALIN. In einer der
beklemmendsten Szenen überhaupt in seinem Werk geht es um eine
verzweifelte junge hochbegabte Frau ohne Arme, die in einer
gleichgültigen Gesellschaft niemanden findet, der sie die
Examensarbeit diktieren kann und die daraufhin Selbstmord begeht.
Diese soziale und politische Ader schließt aber, wenn es nötig ist,
harte Selbstjustiz und Law-and-Order nicht aus. Terroristen muss man
ausschalten wie Dämonen. Das zeigt THUPPAKKI.
Aber politisches und
soziales Bewusstsein allein machen natürlich keinen guten Film, auch
wenn sich das hier in Deutschland wahrscheinlich nie herumsprechen
wird. Doch Murugadoss weiß, wie man die typischen
Mainstream-Anforderungen mit ihren im Idealfall unvorhersehbaren
Entwicklungen und Ausgängen mit einer fließenden Story verbindet.
Und es ist ja eine große Versuchung, sich angesichts der offenen
Struktur des indischen populären Kinos in Beliebigkeit und Ironie zu
flüchten. Murugadoss hat Humor, aber man spürt immer seine
Intelligenz und die Ernsthaftigkeit, mit der er sein Thema, seine
Figuren behandelt und die dieses Kino verdient hat. Das Drehbuch ist
bei ihm das Herzstück seiner Filme, die aber auch visuell immer sehr
wirkungsvoll sind. Er stellt sich eben immer das richtige Team
zusammen. Dabei vernachlässigt er keinen inhaltlichen Teil seiner
Filme. GHAJINI (2008, Hindi) ist da ein schönes Beispiel, wie die
zarte, fast etwas künstliche Liebesgeschichte in der Rückblende
neben dem sehr physischen, aggressiven Racheamoklauf des Mannes ohne
Gedächtnis existiert.
Groß waren also die
Erwartungen an die Paarung von Murugadoss und Superstar Rajinikanth.
Herausgekommen ist mit DARBAR (2020) ein temporeicher Tamil-Film, der
das Prinzip Rajinikanth ganz in den Mittelpunkt stellt und dafür
auch die Handlung in mehr Einzelstücke zerlegt als gewohnt und mit
Freuden der irrealen Masala-Fantastik huldigt. Wenn der Film also
etwas wirr und überdreht ist und die Story nicht so fein
zusammenhängend wie gewohnt, dann ist das kein Versagen von
Murugadoss, der seine Filme ja selbst schreibt, sondern volle
Absicht.
Einen Film mit einem
Superstar hat Murugadoss ja beispielsweise schon vor einigen Jahren
mit STALIN gemacht. Das hat er gewissermaßen den Übergang
Chiranjeewis in die Politik eingeleitet, der bald darauf seine eigene
Partei gründete. Aber mit Rajinikanth hier geht es vor allem um
Entertainment. Das ist von den ersten Bildern und den ersten Tönen
an klar. Da dröhnen im Vorspann die klassischen Bläser frischen
Wind in einen prinzipiell altmodischen Film. Hier handelt es sich um
echtes Vintage-Masala. Das Ganze wird aber mit modernem,
energiereichen Stil verbunden. Gleich die erste halbe Stunde ist ein
Film für sich. Rajinikanth als brutaler böser Bulle und
Selbstjustizkiller in Mumbai. Eine Rückblende zeigt sein altes Ich und später den
Grund seiner Wandlung. Zunächst darf man dabei zusehen, wie er als
Polizist auf intelligente Weise in einer halben Stunde mit dem
Mädchenhandel in Mumbai aufräumt und mit einer Aktion gleich
tausende befreit.
Wie sehr Murugadoss auch in solch einem Unterhaltungsfilm die Dinge bis zu Ende denkt und auf einfache Wahrheiten und Lösungen verzichtet, zeigt sein Kommentar zur Drogenpolitik. Der Polizist in DARBAR schafft es zu einem bestimmten Zeitpunkt, die Einfuhr von Drogen nach Mumbai zu stoppen, es gibt also für Abhängige keinen Nachschub. Und das wird thematisiert, denn die Menschen auf Entzug drehen durch, bringen sich um, begehen Gewalttaten gegen andere. Also muss staatliche Hilfe her, um diese Menschen aufzufangen.
Den Film in seinen
Schwachstellen zu kritisieren ist natürlich Kritik auf sehr hohem
Niveau, denn er ist wirklich unterhaltsam und erzeugt zwischendurch
eine wahrlich euphorische Stimmung. Man kann Murugadoss also nur
dahin kritisieren, dass er nicht den vollen Weg bis ans Ende gegangen
ist, sondern gerade am Schluss, wenn auf den Superschurken der
Supersuperschurke folgt, das Tempo bremst. Als hätte der Realist in
ihm dann doch die Zügel nicht los lassen wollen. Das spricht für
Murugadoss, aber lähmt den Film am Ende. Das Euphorische, das der
Film in großen Teilen hat, verflüchtigt sich also leider etwas.
Eine Liebesgeschichte
gibt es übrigens kurz auch, obwohl eigentlich die freundschaftliche
Vater-Tochter-Beziehung im Mittelpunkt steht. Doch die Tochter will
den alleinerziehenden Vater verheiratet sehen und setzt ihn auf eine
Frau Mitte 30 an. Was zunächst tröstlich ist: Auch ein Superstar
gerät ins sprachlose Stottern, wenn er einer Frau gegenüber steht,
der er eigentlich etwas sagen möchte. „Ich spreche kein Urdu!“,
kriegt er als mitleidige Antwort auf sein Gestammel. Ist das jetzt
urdufeindlich? Doch dann wird der extreme Altersunterschied plötzlich
ein Thema. Das, was wie eine typische Filmromanze anfängt, wird auf
Bitten der Familie der Familie der Frau jäh abgebrochen. Er sei ein unpassender
Bewerber, kriegt er zu hören, und peinlich berührt stimmt er zu,
sieht die Frau ab da auch nicht mehr. Das hat eine gewisse Ironie.
2006 turtelte Chiranjeevi in STALIN mit einem 30 Jahre jüngeren
Mädchen herum, inklusive anschließender Hochzeit. Muss man das in
DARBAR jetzt als ironische Anspielung verstehen?