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Samstag, 28. März 2020

Muzaffar Alis GAMAN – Stadt, Land, Geld


GAMAN (1978), das bedeutet „Abreise“, und konsequenterweise setzt der Vorspann erst ein, als Hauptfigur Ghulam tatsächlich im Zug nach Bombay sitzt, was eine Reise von zwei Tagen bedeutet. Zuvor lernt man sein Leben auf dem Land, in einem kleinen Dorf im indischen Bundesstaat Uttar Pradesh, kennen. Dort lebt Ghulam gemeinsam mit Ehefrau und Mutter. Sein Alltag ist, aufgrund von Arbeitslosigkeit, geprägt durch Nichtstun, und hier geht es wirklich um die Frage, woher das Mehl für die nächste Mahlzeit kommen soll. Ihr Land wurde ihnen gestohlen. In der örtlichen Mühle werden die Löhne gedrückt und Arbeit wurde abgebaut. Überhaupt herrscht das Recht des Stärkeren. Als Rettung aus dieser Lethargie erscheint der ewig optimistische Freund Lallu, der ständig über Bombay redet, wo doch alles so gut geht mit dem Geldverdienen und warum man sich folglich hier das Leben schwer machen soll.

GAMAN ist das großartige Regiedebüt von Muzaffar Ali, der als "Raja von Kotwara" adliger Herkunft ist und auch in dieser Ortschaft 160 Kilometer nördlich von Lucknow drehte. Dort wohnt er mit seiner Frau, dort ist der Sitz ihes Modelabels "House of Kotwara" und dort findet auch jedes Jahr das von ihm veranstaltete Sufi-Musikfestival statt. Der sicher berühmteste Film von Ali ist UMRAO JAAN (1981) mit Rekha in einer ihrer schönsten und besten Rollen als Edelkurtisane in Lucknow um 1890. Aber schon in seinem Erstlingswerk zeigt Ali bewusst islamischen Alltag. Es beginnt mit einem großen Schwenk übers Land, übers Dorf, über dem die Bakshi-Moschee mit ihren weißen Türmen thront. Man sieht Bilder aus dem Dorfleben, darunter eine Frau, die betet. Ausführlich gezeigt werden schiitische Muharram-Feiern und die dazugehörigen Selbstgeißelungen.

Diese dokumentarische Qualität, die sich Zeit nimmt für die Umgebung, auch mit Hilfe der Tonspur, wo Dialoge und Geräusche aus dem Off zu hören sind, kennzeichnet ebenfalls die Fahrt in die Stadt und den Aufenthalt dort, wo es Ghulam, materiell gesehen, den Umständen entsprechend ganz gut geht. Mit Lullas Hilfe arbeitet er zunächst als Automechaniker und dann macht er selbst den Führerschein und wird Taxichauffeur. Und da bekommt er die ganze Stadt zu sehen, ohne jemals ein Teil von ihr zu werden. Selbst wohnt er in einem kleinen Raum im Slum, wo die nächste Räumung niemals weit weg ist. Er erkennt seine Fremdheit sehr deutlich, wenn er über seine Arbeit sagt, er bringe „seltsame Leute an seltsame Orte“. Einmal fährt er eine Frau in eine edle Gegend und muss eine ganze Weile auf sein Fahrgeld warten, da er einen großen Schein nicht wechseln kann. Trotz der verstreichenden Zeit wagt er es nicht auszusteigen. Er könnte genauso gut auf dem Mond sitzen. Bilder von Cocktailpartymenschen werden montiert, dazu erklingt westliches Klaviergeklimper, was sonst im ganzen Film nicht zu hören ist.

Und man hat den Eindruck, dass die Stadt sich wie ein lebendes Wesen wieder nimmt, was sie mal gegeben hat, als wäre sogar das Leben hier nur geliehen. Die Stadt tötet. Zwei Bekannte aus seiner Heimat hatte Ghulam am Anfang in Bombay, am Ende sind beide auf unnatürliche Weise verstorben. Lallu ist ein Hindernis für die Verschacherung von seiner Verlobten nach Dubai und muss deshalb dran glauben. Ein anderer stirbt nach dreißig Jahren Taxiarbeit in einem tödlichen Autounfall. Ghulam sieht hier voller Schrecken den Rest seines eigenen Lebens vor sich. Ganz am Ende versucht ein Verrückter in einem surrealen Akt der Revolte das Meer mit Benzin anzuzünden, aber es flackert nur ein bisschen und die große Weite des Wassers ist wenig beeindruckt.

Doch der Film bleibt eben nicht stehen bei dieser realistischen Perspektive, der ohne soziale Effekthascherei die überall gleichen Probleme der armutbedingten Landflucht in die Städte zeigt. Vor allem verleiht die Musik dem Ganzen eine zusätzliche emotionale und spirituelle Ebene, besonders das Sehnsuchts-Lied, das mehrmals wiederholt wird und schon erklingt, als Ghulam noch gar nicht in Bombay ist. Da geht es um Trennung und Sehnsucht nach dem Geliebten. Und das Paradoxe ist, dass er sich, je länger er Taxi fährt, geistig immer mehr von der Stadt entfernt. Selbst beim Fahren hat er schließlich nur noch das manchmal nicht mehr ganz klare Bild seiner Frau vor Augen.

Am Anfang war er bei einer Stadtrundfahrt voller Erklärungen noch hoch interessiert an allem gewesen. Doch diese Sehnsucht trennt ihn von seiner konkreten Umgebung. Diese Sehnsucht ist so groß, dass sie telepathische Kraft zu haben scheint, wenn die Frau in Uttar Pradesh die Tür öffnet und schaut, ob er kommt, während er in Bombay am Bahnsteiggitter steht und sich nach Hause wünscht. Das ist auch das Bild auf dem Plakat des Films: Smita Patil, die in der Tür steht. Patil hat hier ja nur eine Nebenrolle, aber sie lässt den Zuschauer diese duldende Leere spüren, in der sie da einsam mit der Schwiegermutter existiert. Farooq Shaikh spielt voller Natürlichkeit den verlorenen, aber nie bemitleidenswerten Ghulam, der sich langsam in einer Art Verinnerlichung des fernen Zuhauses zu verlieren scheint, das man wegen der hohen Fahrtkosten nicht einmal zwischendurch besuchen kann.