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Mittwoch, 25. März 2020

Hrishikesh Mukherjees MUSAFIR – Ein Haus als Welt


MUSAFIR (1957) präsentiert eine kleine Starparade des Goldenen Zeitalters des Hindi-Kinos. Zuerst ist da der große bengalische Star Suchitra Sen als Braut mit Sehnsucht nach Schwiegereltern, vor denen deren Sohn aber leider etwas Angst hat. Ihre Schwiegermutter wird gespielt von Durga Khote, einem großen Star der 30er. Dann ist da Kishore Kumar in einer für ihn ansonsten ungewöhnlich ernsten Rolle. Dilip Kumar ist traurig und totkrank und trinkt zu viel und noch mehr als in DEVDAS (1955) stirbt er hier so still und schön, dass man direkt mitsterben möchte. Und sogar zwei der wichtigsten Kinderstars kann man sich hier ansehen: Baby Naaz und Daisy Irani, die man mit ihrem lockigen Kopf oft als Jungen besetzte, was den Niedlichkeitsfaktor erhöhen sollte. Nur erlebt man sie alle leider nicht gemeinsam. Der „Multistarrer“ kam erst in den 60ern: MUSAFIR ist ein episodischer Film um drei Vermietungen eines Hauses, dessen Besitzer die einzelnen Teile verbindet und der von David Abraham verkörpert wird.

MUSAFIR ist das Regiedebüt von Hrishikesh Mukherjee, von dem auch heute noch allseits beliebte Klassiker wie GUDDI (1971), ANAND (1971) oder die Komödien GOL MAAL (1979) und CHUPKE CHUPKE (1975) stammen. Zuvor hatte er beim legendären Studio New Theatres als Cutter gearbeitet. Er gehörte dann zu der Gruppe, die gemeinsam mit dem bengalischen Erfolgsregisseur Bimal Roy um 1950 von Kalkutta nach Bombay ging und erheblichen Einfluss auf Inhalt und Ästhetik des Hindi-Kinos nahm, das seine außergewöhnliche Golden Age“-Qualität überhaupt einer bedeutenden bengalischen Note verdankt, die es beispielsweise auch bei zwei anderen Größen, Raj Kapoor und Guru Dutt, gibt.

MUSAFIR ist ein interessanter Fall. Man spürt noch den großen Einfluss von Bimal Roy, und das sicher nicht nur, weil Mukherjee Roys Drehbuchautor und Cutter war, aber gleichzeitig trägt der Film im Hinblick auf das kommende Werk unverkennbar persönliche Züge. Man denkt zunächst unweigerlich an vergleichbare Bimal-Roy-Filme und Szenen daraus. Kishore Kumar wiederholt beispielsweise in der zweiten Episode im Grunde seine Rolle aus Roys NAUKRI (1954), wo er einen jungen Mann mit Collegeabschluss spielt, der voller naiver Zuversicht in der großen Stadt einen Job suchen geht und auf die grausame Wirklichkeit stößt, woraufhin er Selbstmord begehen will, aber von seiner Freundin davon abgehalten wird, woraufhin die beiden in eine unsichere Zukunft wandern. Bei Mukherjee wird eine ähnliche Konstellation märchenhaft-komödiantisch aufgelöst: Kumar versucht es mit Selbstmord, aber da zu der Zeit in Indien nicht nur Ghee und andere Lebensmittel oft gepanscht und verfälscht waren, endet es nicht so tragisch und es kommt sogar ein finanzielles Happy End. In der dritten Episode spielt Dilip Kumar einen trinkenden Sterbenden, sodass man zunächst an Roys DEVDAS (1955) denkt, aber mit der Zeit bekommt alles eine Poesie und melancholisch-stille Zuversicht, dass man nach vorne zu Mukherjees Film ANAND guckt, wo Rajesh Khanna einen lächelnden, sterbenden Krebskranken spielt. Es ist im Endeffekt tatsächlich ganz allein Mukherjees Sicht der Dinge. Mitgeschrieben an MUSAFIR hat übrigens eine andere spätere bengalische Regielegende, Ritwik Ghatak, wobei ich aber leider keine näheren Informationen über den praktischen Anteil seiner Mitarbeit habe.

Wie man es von einem ausgezeichneten Cutter und Drehbuchautor vielleicht erwarten kann, hat der Film einen sehr strengen Aufbau und ist sehr präzise gefilmt. Auf zwei Familien-Melodramen, die einen Schwenk ins Heitere bekommen, folgt eine märchenhaft endende Tragödie. Und trotz all der Probleme, trotz sozialer Schwierigkeiten, Themen wie Selbstmord und Krankheit, bleibt es harmonisch. Es beginnt mit einem großen Schwenk über die Stadt, begleitet von einem Sprecher – Balraj Sahni – aus dem Off, und bleibt an dem Haus hängen, das ein Beispiel, ein Modell für das Leben und seine Wechselfälle an sich ist. Betont werden gewisse Parallelen in den drei Geschichten durch einige Details wie der Besuch einer Nachbarin, der nächtliche Blick aus dem Fenster, das von einem Vormieter liegengebliebene Heft für Kinder oder das Warten auf einen Brief. Oder das „to let“-Schild, das unter dem Dach hängt und mit dem Stock jedes Mal in die entsprechende Position gebracht wird. Durch einen Trick ist Musik allgegenwärtig, ohne zu viele Song-Unterbrechungen zu erfordern, denn zwei konkurrierende Hotel-Restaurants der Nachbarschaft arbeiten mit Sängern, die ständig im Hintergrund zu hören sind. Eine schöne direkte Musiknummer gibt es von Kishore Kumar. Schönster poetischer Moment ist aber der, als der Bräutigam Suchitra Sens Gesicht mit einer Kerze ausleuchtet und sie sich ganz langsam und etwas scheu und widerstrebend dem Licht und damit ja auch der Kamera öffnet.