Es hat etwas von absurdem
Theater, wenn in Amit V. Masurkars NEWTON (2017) die vier Wahlhelfer
mit kugelsicheren Westen in den Dschungel ziehen und dort im Rahmen
der landesweiten Parlamentswahlen ihrer potentiell 76 Wähler harren.
„Warten auf den Wähler“ etwa könnte dieser größte Teil des
Films auch heißen. Tatsächlich haben zwischendurch vor allem der
Leiter des Wahlhelferteams und der Autor, der gruselige
„Jombie“-Geschichten schreibt, etwas von traurigen Clowns in
einer höchst seltsamen Welt. Ort der Handlung ist der Bundesstaat
Chattisgarh in Zentralindien. Da gibt es in der unerschlossenen
Wildnis Bodenschätze, Militär, Maoisten und eine zwischen all dem
zerrieben werdende Stammes-Bevölkerung, die alles zusammen am
liebsten los wäre. Aber so absurd und auch komisch, satirisch der
Film mitunter ist, die Eingangsszene sorgt dafür, dass man es zu
keinem Zeitpunkt zu komisch findet: Da wird ein Politiker im
Wahlkampf bei der Fahrt durch den Dschungel von einer Straßensperre
gestoppt und er und sein Fahrer von maoistischen Terroristen
erschossen. Die Bedrohung ist echt. Sie ist keine Erfindung von
Militärs oder Kapitalisten.
Die Hauptfigur des Films
heißt Newton, verkörpert von einem unschlagbaren Rajkummar Rao mit
dichtem lockigen Haar, der bei seinen Eltern wohnt und endlich
heiraten soll. Eigentlich heißt er Nutan, „neu“, was nebenbei
auch der Name einer legendären Hindi-Filmschauspielerin ist.
Jedenfalls hat er sich selbst anglisiert in „Newton“, was passend
ist für jemanden mit Master-Abschluss in Physik. Und natürlich weiß
er auch, was Newton im Detail so berühmt gemacht hat, aber die
größere Wahrheit hinter dem Ganzen, die muss ihm ein anderer
erklären: Newton stünde für Gleichheit. Die
naturwissenschaftlichen Gesetze gelten für alle gleich. Ein König
platscht aus großer Höhe genauso auf den Boden wie ein Bettler. Für
das große Ganze hat der Held des
Films also nicht den besten Blick, aber er nimmt es sehr genau mit
den kleinen Dingen, den Formalitäten, der Pünktlichkeit –
auf die Sekunde. Er ist ein bürokratischer Idealist, ein
Demokratieformalist ohne politische Position, der weder für noch
gegen Maoisten ist, der sich einfach nur für den richtigen Ablauf
der Wahl einsetzt. Dabei ist er kein strahlender positiver Held. Er
ist kein charismatischer Pfadfinder wie James Stewart in Washington.
Selbst als Zuschauer denkt man manchmal, er solle es jetzt gut sein
lassen.
Zwischen Ernst und Satire
geschieht alles und so abwechslungsreich die Handlung ist, im Kern
wird ein unterhaltsamer Demokratie-Diskurs geführt, ohne dass die
miteinander agierenden Figuren reine Träger von Prinzipien oder
Inhalten wären. Ein Wahldrama, eine Wahlkomödie, ein Wahlzirkus
spielt sich ab sich hier ab, weit draußen in der gefährlichen
Einöde, aber mittendrin in der indischen Politik. Von Terroristen
eingeschüchterte Wählern, bei denen die Armee nachhelfen muss,
überhaupt zu erscheinen. Schwierigkeiten von rein sprachlichen
Verständnisschwierigkeiten, bis zur erstarrten Ratlosigkeit
gegenüber den Wahlmaschinen. Das Militär, das es sich möglichst
leicht machen will. Ausländische Journalisten, denen man ein
Potemkinsches Dorf der perfekt funktionierenden Demokratie vorsetzt
und die ihre üblichen Phrasen in die Kameras dreschen und so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.
Es ist ein ironischer,
subversiver Unterton, der den stilistisch sehr einfachen NEWTON davon
abhält, ein skurriler Feelgood-Film zu sein. Dafür ist er zu unbequem, zu
uneindeutig, was verhindert, dass man sich gemütlich entspannt
zurücklehnt. Und indem er sich einfache Wahrheiten verkneift,
enthält er so viele Widersprüche dieses größten Landes mit
demokratischer Verfassung. Aber vor allem macht NEWTON die indische
Urbevölkerung sichtbar, die sowieso ganz andere Vorstellungen von
Herrschaft und Selbstbestimmung hat. Aber so nervig die Figur Newton
auch sein kann, am Ende wird klar, dass er recht hat. Denn der
absolut korrekte Ablauf der Wahl ist die Voraussetzung für alles
andere. Und der Praxisschock hat diesen scheinbar innerlich
unzerstörbaren Mann nicht verändert. Und so kommt es zu eine der
schönsten Schlussszenen im Kino der letzten Jahre, Und das obwohl
gar nichts passiert. Aber damit ist so viel gesagt.