Dieses Blog durchsuchen

Montag, 27. April 2020

Amit Masurkars NEWTON – Demokratie im Dschungel


Es hat etwas von absurdem Theater, wenn in Amit V. Masurkars NEWTON (2017) die vier Wahlhelfer mit kugelsicheren Westen in den Dschungel ziehen und dort im Rahmen der landesweiten Parlamentswahlen ihrer potentiell 76 Wähler harren. „Warten auf den Wähler“ etwa könnte dieser größte Teil des Films auch heißen. Tatsächlich haben zwischendurch vor allem der Leiter des Wahlhelferteams und der Autor, der gruselige „Jombie“-Geschichten schreibt, etwas von traurigen Clowns in einer höchst seltsamen Welt. Ort der Handlung ist der Bundesstaat Chattisgarh in Zentralindien. Da gibt es in der unerschlossenen Wildnis Bodenschätze, Militär, Maoisten und eine zwischen all dem zerrieben werdende Stammes-Bevölkerung, die alles zusammen am liebsten los wäre. Aber so absurd und auch komisch, satirisch der Film mitunter ist, die Eingangsszene sorgt dafür, dass man es zu keinem Zeitpunkt zu komisch findet: Da wird ein Politiker im Wahlkampf bei der Fahrt durch den Dschungel von einer Straßensperre gestoppt und er und sein Fahrer von maoistischen Terroristen erschossen. Die Bedrohung ist echt. Sie ist keine Erfindung von Militärs oder Kapitalisten.

Die Hauptfigur des Films heißt Newton, verkörpert von einem unschlagbaren Rajkummar Rao mit dichtem lockigen Haar, der bei seinen Eltern wohnt und endlich heiraten soll. Eigentlich heißt er Nutan, „neu“, was nebenbei auch der Name einer legendären Hindi-Filmschauspielerin ist. Jedenfalls hat er sich selbst anglisiert in „Newton“, was passend ist für jemanden mit Master-Abschluss in Physik. Und natürlich weiß er auch, was Newton im Detail so berühmt gemacht hat, aber die größere Wahrheit hinter dem Ganzen, die muss ihm ein anderer erklären: Newton stünde für Gleichheit. Die naturwissenschaftlichen Gesetze gelten für alle gleich. Ein König platscht aus großer Höhe genauso auf den Boden wie ein Bettler. Für das große Ganze hat der Held des Films also nicht den besten Blick, aber er nimmt es sehr genau mit den kleinen Dingen, den Formalitäten, der Pünktlichkeit – auf die Sekunde. Er ist ein bürokratischer Idealist, ein Demokratieformalist ohne politische Position, der weder für noch gegen Maoisten ist, der sich einfach nur für den richtigen Ablauf der Wahl einsetzt. Dabei ist er kein strahlender positiver Held. Er ist kein charismatischer Pfadfinder wie James Stewart in Washington. Selbst als Zuschauer denkt man manchmal, er solle es jetzt gut sein lassen.

Zwischen Ernst und Satire geschieht alles und so abwechslungsreich die Handlung ist, im Kern wird ein unterhaltsamer Demokratie-Diskurs geführt, ohne dass die miteinander agierenden Figuren reine Träger von Prinzipien oder Inhalten wären. Ein Wahldrama, eine Wahlkomödie, ein Wahlzirkus spielt sich ab sich hier ab, weit draußen in der gefährlichen Einöde, aber mittendrin in der indischen Politik. Von Terroristen eingeschüchterte Wählern, bei denen die Armee nachhelfen muss, überhaupt zu erscheinen. Schwierigkeiten von rein sprachlichen Verständnisschwierigkeiten, bis zur erstarrten Ratlosigkeit gegenüber den Wahlmaschinen. Das Militär, das es sich möglichst leicht machen will. Ausländische Journalisten, denen man ein Potemkinsches Dorf der perfekt funktionierenden Demokratie vorsetzt und die ihre üblichen Phrasen in die Kameras dreschen und so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.

Es ist ein ironischer, subversiver Unterton, der den stilistisch sehr einfachen NEWTON davon abhält, ein skurriler Feelgood-Film zu sein. Dafür ist er zu unbequem, zu uneindeutig, was verhindert, dass man sich gemütlich entspannt zurücklehnt. Und indem er sich einfache Wahrheiten verkneift, enthält er so viele Widersprüche dieses größten Landes mit demokratischer Verfassung. Aber vor allem macht NEWTON die indische Urbevölkerung sichtbar, die sowieso ganz andere Vorstellungen von Herrschaft und Selbstbestimmung hat. Aber so nervig die Figur Newton auch sein kann, am Ende wird klar, dass er recht hat. Denn der absolut korrekte Ablauf der Wahl ist die Voraussetzung für alles andere. Und der Praxisschock hat diesen scheinbar innerlich unzerstörbaren Mann nicht verändert. Und so kommt es zu eine der schönsten Schlussszenen im Kino der letzten Jahre, Und das obwohl gar nichts passiert. Aber damit ist so viel gesagt.