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Freitag, 3. April 2020

Anurag Kashyaps MANMARZIYAAN – Liebe und Ehe


Anurag Kashyaps MANMARZIYAAN (2018) ist eine Auftragsproduktion des Regisseurs und hat eine Vorgeschichte. Dieses Projekt nach einem Drehbuch der Schriftstellerin Kanika Dhillon hatte schon einen anderen Regisseur und andere Hauptdarsteller, aber Produzent Aanand L. Rai gefiel nicht, was er da sah, stoppte alles, und das Material wurde wohl vernichtet oder landete im Archiv. Übrigens ist der deutsche Filmtitel ausnahmsweise mal absolut korrekt übersetzt mit „Herzenswünsche“, worunter er auch hin und wieder auf dem deutschen Bollywood-Sender Zee.One zu sehen ist. International hieß er „Husband Material“.

Schließlich kam Anurag Kashyap an Bord, der normalerweise seine Film selbst schreibt oder zumindest mitschreibt. Es ist also offensichtlich keine bewusste Planung seinerseits, dass MANMARZIYAAN wie ein bewusstes Gegenstück zu seinem vorherigen Film MUKKABAAZ (2017) wirkt. Das war ein echtes, direktes, kraftvolles Melodrama mit geradlinigen und starken Gefühlen: Junger Mann will boxen und ist verliebt in eine junge Frau, deren Vater jenen hasst. MANMIRZIYAAN ist genau das Gegenteil, und das betrifft nicht nur den leichteren, heitereren Ton. Hier gibt es keinen Bösewicht, die Hindernisse liegen vor allem in den Figuren selbst. Nicht einmal die Gesellschaft mit ihren Regeln und Anforderungen ist hier ein wirkliches Hindernis, es gibt genug Gelegenheit, die Probleme selbst zu lösen.

Rumi und Vicky haben eine enge Beziehung, die vor allem aus Sex besteht. Vicky, der durchgestylte DJ mit den tausend auffälligen selbst bedruckten T-Shirts, ist unter den Augen der Nachbarn ein Terrassenkletterer, da Rumi die Dachwohnung des Hauses bewohnt. Sie werden auf frischer Tat erwischt, und Rumi soll nun heiraten. Wenn's sein muss auch Vicky, aber der bibbert ängstlich, wenn es um Ehe geht. Und da Rumi ein ziemlich wildes Mädchen ist, das schnell zornig wird, gibt sie in ihrem Zorn auf ihren feigen Lover der Familie ihr Wort, dann eben halt den „nächstbesten Idioten“ zu heiraten, den die Familie ihr vorsetzt. Und so kommt es nach einigen Verwicklungen auch. Sie heiratet den Bänker Robbie und bemüht sich, rein formal, eine gute Ehefrau zu sein. Doch die Anziehung zu Vicky ist noch da.

Diese Story scheint einfach, doch dahinter steckt ein psychologisch sehr konstruiertes, hyperaktives Drehbuch, ein ständiges Hin und Her der Aktionen und Gefühle, das bei einem mittelmäßigen Regisseur schnell ein entnervtes Kopfschütteln des Zuschauers hervorrufen kann. Alles hängt da von den Figuren ab, ob man ihnen geistig folgen kann und ob man sich für sie interessiert. Wie schnell könnte Rumi als nervige Zimtzicke, Vicky als Volltrottel und Robbie als dröger Bänker dastehen. Aber die drei Hauptfiguren bekommen in der Gestalt von Vicky Kaushal, Taapsee Pannu und Amitabh Bachchan Echtheit, Authentizität, Sympathie, Interesse. Das ist umso wichtiger, als es hier vor allem um das Innenleben der Figuren geht, nicht so sehr um die Erzeugung von großen Emotionen. Man identifiziert sich mit keine der Personen, keine hat Recht oder Unrecht, man fiebert auf kein bestimmtes Ende hin, allenfalls ganz am Ende, als die Fronten gewissermaßen geklärt sind. Dennoch wurde dafür nicht die Form des kleinen, intimen psychologisch-heiteren Dramas, sondern die des großen Bollywood-Films mit Musik und Tanz und einem kraftvoll-energischen Soundtrack von Amit Trivedi gewählt.

Von Anfang an ist MANMARZIYAAN, mit selbstverständlicher und unverklemmter Direktheit, ein Film über Sex und Erotik: Vicky und Rumi haben eine fast kindlich-naive wilde, sehr besitzergreifende Sex-Liebesbeziehung, und man sieht die beiden bei wirklich nichts anderem. Treffen sie sich zum Reden endet es sofort irgendwo in der Waagerechten. Man kann sich die beiden kaum in einem normalen Alltag vorstellen. Als beide durchbrennen wollen, erwacht bei Rumi aber das weiblich Praktische und sie will zurück. Denn Vicky hat wie immer keinen Plan, was Rumi sich eigentlich hätte denken können. Es ist deprimierend komisch, wie er nicht einmal einen kleinen Imbiss bezahlen kann und sowieso kein Geld für Benzin hat. Eine Flucht ins Leere, ohne praktische Aussichten will Rumi also auch nicht. Das Ganze würde ja auch sowieso nur in Streit und gegenseitigen Vorwürfen enden. Der Ehezwang beschleunigt eigentlich nur die sowieso langsame Erkenntnis bei ihr, die sonst länger gedauert hätte, dass Vicky vielleicht doch kein „Ehemannmaterial“ ist.

In den Szenen von Vicky und Robbie wird der Film leiser, stiller, ruhiger. Das erste Kennenlernen, dann die Gewöhnung an die neue Situation. Erst realisiert sie die Ehe gar nicht, setzt sich im Auto nach hinten, wie um sich zu distanzieren, als wäre Robbie der Fahrer. Sie muss alleine joggen gehen, um sich in der Flitterwochen-Bergwelt Kaschmirs auszuweinen. Das Trinken bringt die beiden einander näher, scheinbar näher. In einer witzigen Trinkszene, wo sie seine stille Zurückhaltung aufbrechen will, halten sie die ganze Nachbarschaft vom Schlafen ab. Aber bei allem bleibt eine große Distanz. Die Nähe reicht erst mal nur fürs Bett.

Wie Kashyap die Waage hält zwischen romantischer Bollywood-Komödie und psychologischem Drama ist ausgezeichnet. So wird auch eine gewisse Vorhersehbarkeit des Drehbuchs unbedeutend. Bei Kashyap ist es immer der Moment, der zählt, die innere Spannung jeder einzelnen Szene und Entscheidung. Trotz der vielen Hektik ist es ein innerlicher Film Kashyaps, vielleicht sein innerlichster, gekennzeichnet von intelligenter und subtiler Regie. Dazu kommt Kashyaps Sinn für den Raum, für Drehorte, für die Schaffung einer passenden Atmosphäre. Gleich am Anfang wird in den engen Gassen getanzt. Der Realismus wird nur gebrochen durch die starke Musik und die Texte sowie durch das Licht, die vollen Farben. MANMARZIYAAN ist kein großer Kashyap-Film, aber ein sehr, sehr schöner.