Anurag Kashyaps
MANMARZIYAAN (2018) ist eine Auftragsproduktion des Regisseurs und
hat eine Vorgeschichte. Dieses Projekt nach einem Drehbuch der
Schriftstellerin Kanika Dhillon hatte schon einen anderen Regisseur
und andere Hauptdarsteller, aber Produzent Aanand L. Rai gefiel
nicht, was er da sah, stoppte alles, und das Material wurde wohl vernichtet
oder landete im Archiv. Übrigens ist der deutsche Filmtitel
ausnahmsweise mal absolut korrekt übersetzt mit „Herzenswünsche“,
worunter er auch hin und wieder auf dem deutschen Bollywood-Sender
Zee.One zu sehen ist. International hieß er „Husband Material“.
Schließlich kam Anurag
Kashyap an Bord, der normalerweise seine Film selbst schreibt oder
zumindest mitschreibt. Es ist also offensichtlich keine bewusste
Planung seinerseits, dass MANMARZIYAAN wie ein bewusstes Gegenstück
zu seinem vorherigen Film MUKKABAAZ (2017) wirkt. Das war ein
echtes, direktes, kraftvolles Melodrama mit geradlinigen und starken
Gefühlen: Junger Mann will boxen und ist verliebt in eine junge
Frau, deren Vater jenen hasst. MANMIRZIYAAN ist genau das Gegenteil,
und das betrifft nicht nur den leichteren, heitereren Ton. Hier gibt
es keinen Bösewicht, die Hindernisse liegen vor allem in den Figuren
selbst. Nicht einmal die Gesellschaft mit ihren Regeln und
Anforderungen ist hier ein wirkliches Hindernis, es gibt genug
Gelegenheit, die Probleme selbst zu lösen.
Rumi und Vicky haben eine
enge Beziehung, die vor allem aus Sex besteht. Vicky, der durchgestylte DJ mit den tausend auffälligen selbst bedruckten T-Shirts, ist
unter den Augen der Nachbarn ein Terrassenkletterer, da Rumi die
Dachwohnung des Hauses bewohnt. Sie werden auf frischer Tat erwischt, und Rumi soll
nun heiraten. Wenn's sein muss auch Vicky, aber der bibbert
ängstlich, wenn es um Ehe geht. Und da Rumi ein ziemlich wildes
Mädchen ist, das schnell zornig wird, gibt sie in ihrem Zorn auf
ihren feigen Lover der Familie ihr Wort, dann eben halt den „nächstbesten Idioten“ zu heiraten, den die Familie ihr vorsetzt. Und
so kommt es nach einigen Verwicklungen auch. Sie heiratet den Bänker
Robbie und bemüht sich, rein formal, eine gute Ehefrau zu sein. Doch
die Anziehung zu Vicky ist noch da.
Diese Story scheint
einfach, doch dahinter steckt ein psychologisch sehr konstruiertes,
hyperaktives Drehbuch, ein ständiges Hin und Her der Aktionen und
Gefühle, das bei einem mittelmäßigen Regisseur schnell ein
entnervtes Kopfschütteln des Zuschauers hervorrufen kann. Alles
hängt da von den Figuren ab, ob man ihnen geistig folgen kann und ob
man sich für sie interessiert. Wie schnell könnte Rumi als nervige
Zimtzicke, Vicky als Volltrottel und Robbie als dröger Bänker
dastehen. Aber die drei Hauptfiguren bekommen in der Gestalt von
Vicky Kaushal, Taapsee Pannu und Amitabh Bachchan Echtheit,
Authentizität, Sympathie, Interesse. Das ist umso wichtiger, als es
hier vor allem um das Innenleben der Figuren geht, nicht so sehr um
die Erzeugung von großen Emotionen. Man identifiziert sich mit keine
der Personen, keine hat Recht oder Unrecht, man fiebert auf kein
bestimmtes Ende hin, allenfalls ganz am Ende, als die Fronten
gewissermaßen geklärt sind. Dennoch wurde dafür nicht die Form des
kleinen, intimen psychologisch-heiteren Dramas, sondern die des
großen Bollywood-Films mit Musik und Tanz und einem
kraftvoll-energischen Soundtrack von Amit Trivedi gewählt.
Von Anfang an ist
MANMARZIYAAN, mit selbstverständlicher und unverklemmter Direktheit,
ein Film über Sex und Erotik: Vicky und Rumi haben eine fast
kindlich-naive wilde, sehr besitzergreifende Sex-Liebesbeziehung, und man sieht die beiden
bei wirklich nichts anderem. Treffen sie sich zum Reden endet es
sofort irgendwo in der Waagerechten. Man kann sich die beiden kaum in
einem normalen Alltag vorstellen. Als beide durchbrennen wollen,
erwacht bei Rumi aber das weiblich Praktische und sie will zurück.
Denn Vicky hat wie immer keinen Plan, was Rumi sich eigentlich hätte
denken können. Es ist deprimierend komisch, wie er nicht einmal einen kleinen
Imbiss bezahlen kann und sowieso kein Geld für Benzin hat. Eine
Flucht ins Leere, ohne praktische Aussichten will Rumi also auch nicht. Das Ganze würde ja
auch sowieso nur in Streit und gegenseitigen Vorwürfen enden. Der
Ehezwang beschleunigt eigentlich nur die sowieso langsame Erkenntnis bei ihr, die
sonst länger gedauert hätte, dass Vicky vielleicht doch kein
„Ehemannmaterial“ ist.
In den Szenen von Vicky
und Robbie wird der Film leiser, stiller, ruhiger. Das erste
Kennenlernen, dann die Gewöhnung an die neue Situation. Erst
realisiert sie die Ehe gar nicht, setzt sich im Auto nach hinten, wie
um sich zu distanzieren, als wäre Robbie der Fahrer. Sie muss
alleine joggen gehen, um sich in der Flitterwochen-Bergwelt Kaschmirs
auszuweinen. Das Trinken bringt die beiden einander näher, scheinbar näher. In
einer witzigen Trinkszene, wo sie seine stille Zurückhaltung
aufbrechen will, halten sie die ganze Nachbarschaft vom Schlafen ab.
Aber bei allem bleibt eine große Distanz. Die Nähe reicht erst mal
nur fürs Bett.
Wie Kashyap die Waage
hält zwischen romantischer Bollywood-Komödie und psychologischem Drama ist ausgezeichnet. So wird auch eine gewisse Vorhersehbarkeit
des Drehbuchs unbedeutend. Bei Kashyap ist es immer der Moment, der
zählt, die innere Spannung jeder einzelnen Szene und Entscheidung.
Trotz der vielen Hektik ist es ein innerlicher Film Kashyaps,
vielleicht sein innerlichster, gekennzeichnet von intelligenter und
subtiler Regie. Dazu kommt Kashyaps Sinn für den Raum, für
Drehorte, für die Schaffung einer passenden Atmosphäre. Gleich am
Anfang wird in den engen Gassen getanzt. Der Realismus wird nur
gebrochen durch die starke Musik und die Texte sowie durch das Licht, die
vollen Farben. MANMARZIYAAN ist kein großer Kashyap-Film, aber ein sehr,
sehr schöner.