Shyam Benegals MANTHAN
(1976) war einer der großen indischen Filmerfolge der 70er, allerdings nicht auf dem gewohnten Produktions-
und Vertriebsweg. Finanziert wurde er als echter Crowdfunding-Film
vor seiner Zeit. 500.000 in Milch-Kooperativen organisierte indische
Bauern aus dem Bundesstaat Gujarat ermöglichten den Film mit jeweils
zwei Rupien und machten den Film als Zuschauer hinterher sofort zu
einem Kassenknüller. Denn im Gujarat, wo man schon 1946 in Gang
gekommen war, war man Vorreiter und Vorbild für die Bildung von
Milch-Kooperativen. Und im Gegensatz zu der zerfallenden
Milchkooperative, die der isländische Film MILCHKRIEG IN DALSMYNNI
(2019) schildert, funktioniert das bis heute sehr gut. Man hat eine
bis ins Ausland beliebte Marke geschaffen: Amul. „Weiße
Revolution“ ist der Ausdruck für diese Erfolgsgeschichte. Der Titel des Films, übersetzt "The Churning", bedeutet einerseits ganz konkret die praktische Herstellung von Butter und andererseits ist es in der Hindu-Mythologie, sehr einfach gesagt, das Aufwühlen des Meeres durch Götter und Dämonen, um das Elixier der Unsterblichkeit wiederzuerlangen.
Woanders klappte die Schaffung von Milch-Kooperativen
nicht so gut. Shyam Benegal beklagte in den 80ern, dass sich die
in Bengalen regierenden Kommunisten beispielsweise gar nicht dafür
eingesetzt hätten. MANTHAN jedenfalls war in den 70ern der Versuch, diese
Bewegung voranzutreiben. Hinterher wurde der Film auch massenhaft im
Ausland gesehen. Es ist eine ausführlich recherchierte, spannende
Mischung aus didaktischem Lehrfilm, dokumentarischem Porträt und
emotionaler Story um einen heftigen Machtkampf, der MANTHAN so
erfolgreich machte. MANTHAN erfüllte mehr als seinen
praktischen Zweck und überzeugt auch heute noch als intensiver Film
mit einer ausgezeichneten Besetzung, die unter realistischen
Bedingungen neben echten Bauern
und Bäuerinnen zu sehen ist.
Zu Anfang werden in ein
paar präzisen Sequenzen die stimmungsmäßigen und inhaltlichen
Grundlagen ausgebreitet. Es beginnt mit einer Zugeinfahrt in einen
kleinen in der Einöde liegenden Bahnhof. Wie ein neuer Sheriff in
der Stadt steigt der von Girish Karnad verkörperte individuelle Held
aus. Er wird mit dem Karren abgeholt und und gleich hier wird klar:
Er ist anders. Er will nicht im Karren
mitfahren, denn als staatlicher Tierarzt will er das arme, etwas müde
Zugtier nicht noch mehr überlasten. Also geht er zu Fuß. Während
des Vorspanns erklang ein ländliches Lied, bezeichnenderweise ein Liebeslied, denn Emotionen gibt es hier auch. Dann erfährt
man die Ursache für die Anwesenheit des Beamten und bekommt eine
Ahnung der kommenden Konflikte. Der Molkereibesitzer ist sicher, dass
Kooperativen in seinem Gebiet nicht funktionieren werden. Aber dessen
persönliche Profitinteressen stellen schließlich eines der Probleme dar.
Probleme gibt es
natürlich viele. Und auch wenn es im Kleinen um eine einzelne
Kooperative geht, so spiegeln sich darin doch die großen Probleme
und zu verändernden sozialen Verhältnisse des ganzen Landes wieder.
Daher hat man es mit den klassischen Themen zu tun. Es geht vor allem um
Kaste, Klasse, Geschlecht. Und immer geht es um Macht, um religiös
begründete Ausbeutung, um finanziell begründete Herrschaft, um
Unterdrückung in der Ehe. Zusätzlich zeigt MANTHAN die Grenzen und
Schwierigkeiten des Engagements der Experten von außen, die sich
untereinander selbst nicht einig sind, die sich vielleicht zu viel
vornehmen, die schnell zwischen den kämpfenden Parteien zerrieben
werden können. „Unparteiisch“, solle er sein, ermahnt ein
Kollege den Partei ergreifenden Tierarzt. Doch dieser meint, die einen hätten doch schon Geld und Macht, die anderen nichts. Wie solle man
da unparteiisch sein?
Es ist vor allem eine
Politik der kleinen Schritte. Zunächst ist es eine Zeit des
Kennenlernens, des Vertrauensgewinnens, des Diskutierens. Die Bauern,
viele davon Dalit, sind chronisch misstrauisch. Das hat ihnen lange
Erfahrung gelehrt. Smita Patil spielt eine besonders kämpferische
Bäuerin, die die Entnahme einer Probe ihrer Milch als Diebstahl
betrachtet. Naseeruddin Shah ist der feindselige Dalit-Sohn eines
Ingenieurs, der in der Gegend mal gearbeitet und sich schnell wieder
aus dem Staub gemacht hat. Es gibt also gute konkrete Gründe,
gegenüber Stadtleuten misstrauisch zu sein. Und es geht um einfache
ökonomische, marktwirtschaftliche Mechanismen, die den Menschen
beigebracht werden müssen, um gegen Manipulationen gewappnet
zu sein. So werden sie von nun an nach Fettgehalt und nicht nach
Gewicht bezahlt. Dann gibt es einen Preiskrieg, um den neuen
Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, und wenn der aufgegeben hat,
kann das Monopol wieder die Preise bestimmen.
Schließlich wird der
Machtkampf hart und heftig, denn es gibt Wahlen für den Vorsitz der
Kooperative. Den betrachtet der Dorfvorsteher als sein
selbstverständliches Vorrecht, allein aus Prestige-Gründen, denn
hohe Posten sichern ihm nach außen hin Einfluss und Einkommen. So
kommt es zu Gewalt nach dem Sieg des Dalit-Vertreters. Dass
Herrschaft etwas sich wandelndes, flexibles ist, gehört auch zu den
Veränderungen nach der langen Zeit der für eine Minderheit
profitablen Erstarrung. Die kleinen Hütten der Dali-Gemeinschaft
werden angezündet, und sie brennen ab. Hilflos versucht man mit Erde
zu löschen. Alles ist auf die Aufrechterhaltung der Abhängigkeit
ausgelegt. Aber es ist eine durch Wohlwollen verschleierte
Abhängigkeit. Auf den Brandangriff folgt die paternalistische
Attitüde des Molkereibesitzers, der Decken und neue Kredite bringt,
die wiederum für erneute Abhängigkeit sorgen sollen. Der von Amrish Puri
dargestellte Besitzer betrachtet die Dalit als Kinder und hier sollte
man nicht vergessen, dass selbst der verehrte Gandhi den Begriff
„Harijan“, „Kinder Gottes“, prägte, also schützenswert,
aber irgendwie auch hilflos und einfältig, eine Autorität benötigend.
MANTHAN zeigt das
staatliche Eingreifen, Einrichten einer Kooperative als
Prozess, der am Ende des Films nicht abgeschlossen ist. Zwar war hier
ein individueller, die Dinge vorantreibender Held, aber er ist ein Außenstehender, kein
Übermensch. Er hat seine Grenzen, und am Ende wird er nach Hause
beordert. Aber er hätte ja auf alle Fälle nicht dauerhaft bleiben können.
Dafür schwingt sich ein Dalit-Mann zur neuen Führungsfigur auf. Und
so soll es auch sein. Führung und Lösungen müssen dauerhaft von innnen
kommen, ohne die lähmende staatliche Bürokratie, was auch das
Erfolgsrezept der Gujarat-Kooperativen ist.
Im Laufe des Films gibt
es eine unausgesprochene Zuneigung zwischen dem Tierarzt und der
kämpferischen Milchbäuerin, die aber beide zwischen den Fronten
stehen. Parallel dazu gibt es eine sexuelle Beziehung zwischen einem der
Staatsangestellten und einem Dalit-Mädchen, dem er die berühmte Ehe
versprochen hat. Der Tierarzt jagt ihn wütend nach Hause. Aber hier
wird verdeutlicht, dass nicht nur die klassisch Bösen voller
Statusarroganz sind. Die Frau des Tierarztes beispielsweise ist
entsetzt, aber nicht über diese sexuelle Ausbeutung, sondern dass
der Mitarbeiter „so tief sinken“ konnte, sich überhaupt mit so einem
Mädchen einzulassen. Die platonische Liebe zwischen Arzt und Bäuerin
hingegen droht nur einmal eine gewisse Grenze zu überschreiten, als
sie sich in einer erotischen Szene die Füße wäscht und der
Tierarzt die Augen nicht von ihren Beinen losreißen kann. Aber auch
sie ist nicht frei. Als ihr saufender und prügelnder Ehemann wieder
im Haus ist, ist es vorbei mit ihrer Unabhängigkeit. Tatsächlich
ist sie so abhängig, dass man sie sogar dazu bewegen kann, den
Tierarzt fälschlich der Vergewaltigung zu bezichtigen. Am Ende
bleibt ihnen nur das Liebeslied des Vorspanns.