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Freitag, 17. April 2020

Shyam Benegals MANTHAN – Machtkampf um Milch


Shyam Benegals MANTHAN (1976) war einer der großen indischen Filmerfolge der 70er, allerdings nicht auf dem gewohnten Produktions- und Vertriebsweg. Finanziert wurde er als echter Crowdfunding-Film vor seiner Zeit. 500.000 in Milch-Kooperativen organisierte indische Bauern aus dem Bundesstaat Gujarat ermöglichten den Film mit jeweils zwei Rupien und machten den Film als Zuschauer hinterher sofort zu einem Kassenknüller. Denn im Gujarat, wo man schon 1946 in Gang gekommen war, war man Vorreiter und Vorbild für die Bildung von Milch-Kooperativen. Und im Gegensatz zu der zerfallenden Milchkooperative, die der isländische Film MILCHKRIEG IN DALSMYNNI (2019) schildert, funktioniert das bis heute sehr gut. Man hat eine bis ins Ausland beliebte Marke geschaffen: Amul. „Weiße Revolution“ ist der Ausdruck für diese Erfolgsgeschichte. Der Titel des Films, übersetzt "The Churning", bedeutet einerseits ganz konkret die praktische Herstellung von Butter und andererseits ist es in der Hindu-Mythologie, sehr einfach gesagt, das Aufwühlen des Meeres durch Götter und Dämonen, um das Elixier der Unsterblichkeit wiederzuerlangen.

Woanders klappte die Schaffung von Milch-Kooperativen nicht so gut. Shyam Benegal beklagte in den 80ern, dass sich die in Bengalen regierenden Kommunisten beispielsweise gar nicht dafür eingesetzt hätten. MANTHAN jedenfalls war in den 70ern der Versuch, diese Bewegung voranzutreiben. Hinterher wurde der Film auch massenhaft im Ausland gesehen. Es ist eine ausführlich recherchierte, spannende Mischung aus didaktischem Lehrfilm, dokumentarischem Porträt und emotionaler Story um einen heftigen Machtkampf, der MANTHAN so erfolgreich machte. MANTHAN erfüllte mehr als seinen praktischen Zweck und überzeugt auch heute noch als intensiver Film mit einer ausgezeichneten Besetzung, die unter realistischen Bedingungen neben echten Bauern und Bäuerinnen zu sehen ist.

Zu Anfang werden in ein paar präzisen Sequenzen die stimmungsmäßigen und inhaltlichen Grundlagen ausgebreitet. Es beginnt mit einer Zugeinfahrt in einen kleinen in der Einöde liegenden Bahnhof. Wie ein neuer Sheriff in der Stadt steigt der von Girish Karnad verkörperte individuelle Held aus. Er wird mit dem Karren abgeholt und und gleich hier wird klar: Er ist anders. Er will nicht im Karren mitfahren, denn als staatlicher Tierarzt will er das arme, etwas müde Zugtier nicht noch mehr überlasten. Also geht er zu Fuß. Während des Vorspanns erklang ein ländliches Lied, bezeichnenderweise ein Liebeslied, denn Emotionen gibt es hier auch. Dann erfährt man die Ursache für die Anwesenheit des Beamten und bekommt eine Ahnung der kommenden Konflikte. Der Molkereibesitzer ist sicher, dass Kooperativen in seinem Gebiet nicht funktionieren werden. Aber dessen persönliche Profitinteressen stellen schließlich eines der Probleme dar.

Probleme gibt es natürlich viele. Und auch wenn es im Kleinen um eine einzelne Kooperative geht, so spiegeln sich darin doch die großen Probleme und zu verändernden sozialen Verhältnisse des ganzen Landes wieder. Daher hat man es mit den klassischen Themen zu tun. Es geht vor allem um Kaste, Klasse, Geschlecht. Und immer geht es um Macht, um religiös begründete Ausbeutung, um finanziell begründete Herrschaft, um Unterdrückung in der Ehe. Zusätzlich zeigt MANTHAN die Grenzen und Schwierigkeiten des Engagements der Experten von außen, die sich untereinander selbst nicht einig sind, die sich vielleicht zu viel vornehmen, die schnell zwischen den kämpfenden Parteien zerrieben werden können. „Unparteiisch“, solle er sein, ermahnt ein Kollege den Partei ergreifenden Tierarzt. Doch dieser meint, die einen hätten doch schon Geld und Macht, die anderen nichts. Wie solle man da unparteiisch sein?

Es ist vor allem eine Politik der kleinen Schritte. Zunächst ist es eine Zeit des Kennenlernens, des Vertrauensgewinnens, des Diskutierens. Die Bauern, viele davon Dalit, sind chronisch misstrauisch. Das hat ihnen lange Erfahrung gelehrt. Smita Patil spielt eine besonders kämpferische Bäuerin, die die Entnahme einer Probe ihrer Milch als Diebstahl betrachtet. Naseeruddin Shah ist der feindselige Dalit-Sohn eines Ingenieurs, der in der Gegend mal gearbeitet und sich schnell wieder aus dem Staub gemacht hat. Es gibt also gute konkrete Gründe, gegenüber Stadtleuten misstrauisch zu sein. Und es geht um einfache ökonomische, marktwirtschaftliche Mechanismen, die den Menschen beigebracht werden müssen, um gegen Manipulationen gewappnet zu sein. So werden sie von nun an nach Fettgehalt und nicht nach Gewicht bezahlt. Dann gibt es einen Preiskrieg, um den neuen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, und wenn der aufgegeben hat, kann das Monopol wieder die Preise bestimmen.

Schließlich wird der Machtkampf hart und heftig, denn es gibt Wahlen für den Vorsitz der Kooperative. Den betrachtet der Dorfvorsteher als sein selbstverständliches Vorrecht, allein aus Prestige-Gründen, denn hohe Posten sichern ihm nach außen hin Einfluss und Einkommen. So kommt es zu Gewalt nach dem Sieg des Dalit-Vertreters. Dass Herrschaft etwas sich wandelndes, flexibles ist, gehört auch zu den Veränderungen nach der langen Zeit der für eine Minderheit profitablen Erstarrung. Die kleinen Hütten der Dali-Gemeinschaft werden angezündet, und sie brennen ab. Hilflos versucht man mit Erde zu löschen. Alles ist auf die Aufrechterhaltung der Abhängigkeit ausgelegt. Aber es ist eine durch Wohlwollen verschleierte Abhängigkeit. Auf den Brandangriff folgt die paternalistische Attitüde des Molkereibesitzers, der Decken und neue Kredite bringt, die wiederum für erneute Abhängigkeit sorgen sollen. Der von Amrish Puri dargestellte Besitzer betrachtet die Dalit als Kinder und hier sollte man nicht vergessen, dass selbst der verehrte Gandhi den Begriff „Harijan“, „Kinder Gottes“, prägte, also schützenswert, aber irgendwie auch hilflos und einfältig, eine Autorität benötigend.

MANTHAN zeigt das staatliche Eingreifen, Einrichten einer Kooperative als Prozess, der am Ende des Films nicht abgeschlossen ist. Zwar war hier ein individueller, die Dinge vorantreibender Held, aber er ist ein Außenstehender, kein Übermensch. Er hat seine Grenzen, und am Ende wird er nach Hause beordert. Aber er hätte ja auf alle Fälle nicht dauerhaft bleiben können. Dafür schwingt sich ein Dalit-Mann zur neuen Führungsfigur auf. Und so soll es auch sein. Führung und Lösungen müssen dauerhaft von innnen kommen, ohne die lähmende staatliche Bürokratie, was auch das Erfolgsrezept der Gujarat-Kooperativen ist.

Im Laufe des Films gibt es eine unausgesprochene Zuneigung zwischen dem Tierarzt und der kämpferischen Milchbäuerin, die aber beide zwischen den Fronten stehen. Parallel dazu gibt es eine sexuelle Beziehung zwischen einem der Staatsangestellten und einem Dalit-Mädchen, dem er die berühmte Ehe versprochen hat. Der Tierarzt jagt ihn wütend nach Hause. Aber hier wird verdeutlicht, dass nicht nur die klassisch Bösen voller Statusarroganz sind. Die Frau des Tierarztes beispielsweise ist entsetzt, aber nicht über diese sexuelle Ausbeutung, sondern dass der Mitarbeiter „so tief sinken“ konnte, sich überhaupt mit so einem Mädchen einzulassen. Die platonische Liebe zwischen Arzt und Bäuerin hingegen droht nur einmal eine gewisse Grenze zu überschreiten, als sie sich in einer erotischen Szene die Füße wäscht und der Tierarzt die Augen nicht von ihren Beinen losreißen kann. Aber auch sie ist nicht frei. Als ihr saufender und prügelnder Ehemann wieder im Haus ist, ist es vorbei mit ihrer Unabhängigkeit. Tatsächlich ist sie so abhängig, dass man sie sogar dazu bewegen kann, den Tierarzt fälschlich der Vergewaltigung zu bezichtigen. Am Ende bleibt ihnen nur das Liebeslied des Vorspanns.