FIRAAQ (2008) von Nandita
Das beginnt gleich mit einer extrem grausamen Szenerie. Das ist ein
Schock, das ist sehr unangenehm, aber nur so begreift man, was
passiert ist, bekommt man ein Gefühl für das, was folgt. Zwei
Männer arbeiten am Ausheben eines Massengrabs. Ein Haufen Leichen
liegt um die große Grube herum. Ein voll beladener LKW schafft
Nachschub heran, kippt die toten Körper aus wie klumpige Erde. Einer
meint, eine Bekannte darunter entdeckt zu haben, hat sich aber geirrt.
Dann sehen die Arbeiter die Leiche einer Hindi-Frau. Einer der beiden
möchte mit der Hacke auf sie losgehen, doch der andere hält ihn
auf.
So groß ist der Hass,
ist man am Rande der Verstandeslosigkeit. Tatsächlich waren nach
pogromartigen Ausschreitungen gegen die moslemische Bevölkerung im
indischen Bundesstaat Gujarat im Jahre 2002 viele Leichen sogar
verbrannt und verstümmelt. Unter den 1000-2000 moslemischen Toten,
je nach Zählung, waren viele Kinder und Frauen. Die Handlung setzt
einen Monat nach den schlimmsten Ausschreitungen ein. Man versucht,
wieder in ein normales Leben zurückzufinden nach den Ereignissen,
die im Februar 2002 begannen.
Am 27. Februar 2002
starben bei einem Brand in einem Zug 57 Hindu-Pilger. Bei einem Halt
im Bahnhof von Godhra waren Streitigkeiten aufgekommen, da die Pilger
aus Ayodhya kamen, von einer religiösen Zeremonie an dem Ort, wo bis
1992 die von Hindu-Nationalisten zerstörte Moschee Babri
Masjid gestanden hatte. Es kam in der Folge zu pogromartigen Gewalt-
und Mordausbrüchen, die ganz offensichtlich zum Teil koordiniert
waren. Man hatte Listen über die Adressen mit Moslems. Und die
können nur im Vorfeld schon angelegt worden sein. Das Netz ist voll
mit widersprüchlichen, völlig entgegengesetzten Theorien zu dieser
Gewalt, von denen sowohl Pakistan als auch der jetzige
Ministerpräsident Modi Teil der extremsten Versionen sind. Wobei es
nicht unwahrscheinlich ist, dass zumindest der Zugbrand tatsächlich
ein Unfall war. Aber für die Geschehnisse, die Gewalt danach hat all
das im Grunde keine Bedeutung. Es kommt auf dieser Welt ja meistens
nicht darauf an, was Fakt, was wirklich ist, sondern was die Menschen
für wirklich halten.
Und daher verzichtet die
Schauspielerin Nandita Das auf all dies in ihrem Regiedebüt. Es gibt
also keine Diskussion über die konkreten Ursachen der Gewalt, so wie
auch keine direkte Gewalt gezeigt wird. Nur die Planung der Täter
wird erwähnt, die Listen. Die Mitwirkung von Offiziellen. Und zwei
Mal wollen Hindus die ursächliche Schuld auf die Schultern der
Moslems legen. Nach dem Motto: Die haben angefangen, die haben es
verdient, als Beispiel für eine Rachelogik, die nichts anderes als
eine Rechtfertigung für alles ist. Durch diese Erzählweise von
FIRAAQ wird alles allgemeingültiger. Es könnten auch andere
Ausschreitungen zu einer anderen Zeit sein.
Was die Regisseurin in
FIRAAQ zeigt, sind ganz einfach unbeteiligte, unschuldige Menschen,
über die plötzlich fast der Himmel eingestürzt ist, die aber
überlebt haben. Deren Leben aber nie wieder, oder zumindest nicht so
schnell, wie vorher sein wird. Man sieht grundlegend veränderte
Menschen, unsicher, ängstlich, verstört, übervorsichtig, paranoid.
Das Leben steht gerade etwas auf Pause, soll aber wieder in Gang
gebracht werden. So entsteht ein großes Gesamtbild aus Individuen,
Denkweisen, Reaktionen. Es ist, wie einleitende Worte mitteilen, „ein
Werk der Fiktion … basierend auf 1000 wahren Geschichten“.
Da sind einerseits zwei
jüngere Pärchen. Einmal eines, dargestellt von Nawzuddin Siddiqui
und Shahana Goswami, das das eigene bescheidene Heim in einer
Seitengasse ausgebrannt vorfindet. Als Täter vermuten sie jemanden,
den sie kennen, und mit dem der Mann vorher schon Ärger gehabt hat.
Beide bewegen sich an diesem Abend in der Stadt, außerhalb einer
sicheren Zone. Der Mann denkt mit seinen Freunden sogar an Rache. Ein
gemischt religiöses Ehepaar, das es sich leisten kann, will nach
Delhi ziehen, aber der moslemische Mann entdeckt die Ursache des Problems in sich
selbst. Er verleugnet aus Angst seinen Namen, wofür er sich so
schämt, dass er ihn in einer risikoreichen Situation extra herausfordernd benutzt.
Und dann sind da zwei
ältere Menschen. Naseeruddin Shah ist ein ganz in seiner Musik
verlorener Sänger, Musiker und Musiklehrer, dem sein Diener die
Wahrheit vorzuenthalten versucht. Jener hat eine außerordentlich
optimistische und, scheinbar weltfremde Sicht auf die Dinge. „Allah
wird dafür sorgen.“, sagt er einer Tochter auf der Beerdigung
ihres Vaters. Die fühlt sich an den eigenen Vater erinnert, als wäre
so eine Weltsicht nur noch in der alten, aussterbenden Generation zu
finden. Deepti Naval verkörpert eine Frau mit schlechtem Gewissen,
weil sie eine verfolgte junge, blutverschmierte moslemische Frau in
deren Not nicht in ihre Wohnung gelassen hat. Sie versucht, es mit
einem kleinen, verwaisten Moslemjungen wieder gut zu machen. Aber der flüchtet
schnell: Denn im Haus herrscht der Ehemann, der die Frau tyrannisiert
und schlägt und der, wie sich herausstellt, zu den Tätern gehört,
der zumindest geplündert hat, vermutlich auch mehr. Er ist ein Mann
zum Hassen. Nicht, dass es solche Männer nicht gibt, aber
ausgerechnet einen solchen auszuwählen, macht aus einer solchen
Gestalt ein Klischeebild des Bösen aus dem Feminismus-Handbuch. Da
wäre es direkt besser gewesen, den Blick auf Täter auszusparen aus
dem Film. Was FIRAAQ auch nicht erwähnt, ist, dass 200 Polizisten
starben bei dem Kampf gegen die Gewalt, und ich vermute mal mutig,
dass ein großer Teil der offiziell 200 Hindutoten der
Ausschreitungen zur Staatsgewalt gehören.
Und dann irrt da dieses
verwaiste Kind durch den Film, kommt am Ende wieder im
Flüchtlingslager an, findet den Onkel, kann aber nicht mehr mit den
anderen Kindern spielen. Es hat schreckliche Grausamkeiten gesehen
und ist im Grunde schon kein Kind mehr. Wie ein ausgebrannter Erwachsener in zu
kleinem Körper sitzt es am Ende an einen Baumstamm gelehnt. Und in
seinem leeren Blick scheint das unmöglich zu formulierende Fazit des
Films zu liegen.
Die Stärke und Wirkung
von FIRAAQ liegt in der geschickten fließenden Verschachtelung
der einzelnen Erzählfäden, wodurch ein großes Gesamtbild, eine
Gesamtatmosphäre entsteht. Dadurch dass man alle gleichzeitig im
Kopf hat, identifiziert man sich nicht mit einer bestimmten Figur,
sondern mit der Situation, mit der Lage, in der sich die Menschen
befinden. Die rationale Ahnung eines Gefühls von Angst und
Beklemmung entsteht. Das funktioniert, weil Nandita Das keine düstere
Stimmung forciert. Es entsteht von alleine durch vorsichtiges und
unaufgeregtes Erzählen.