Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 19. April 2020

Nandita Das' FIRAAQ – Nach dem Pogrom


FIRAAQ (2008) von Nandita Das beginnt gleich mit einer extrem grausamen Szenerie. Das ist ein Schock, das ist sehr unangenehm, aber nur so begreift man, was passiert ist, bekommt man ein Gefühl für das, was folgt. Zwei Männer arbeiten am Ausheben eines Massengrabs. Ein Haufen Leichen liegt um die große Grube herum. Ein voll beladener LKW schafft Nachschub heran, kippt die toten Körper aus wie klumpige Erde. Einer meint, eine Bekannte darunter entdeckt zu haben, hat sich aber geirrt. Dann sehen die Arbeiter die Leiche einer Hindi-Frau. Einer der beiden möchte mit der Hacke auf sie losgehen, doch der andere hält ihn auf.

So groß ist der Hass, ist man am Rande der Verstandeslosigkeit. Tatsächlich waren nach pogromartigen Ausschreitungen gegen die moslemische Bevölkerung im indischen Bundesstaat Gujarat im Jahre 2002 viele Leichen sogar verbrannt und verstümmelt. Unter den 1000-2000 moslemischen Toten, je nach Zählung, waren viele Kinder und Frauen. Die Handlung setzt einen Monat nach den schlimmsten Ausschreitungen ein. Man versucht, wieder in ein normales Leben zurückzufinden nach den Ereignissen, die im Februar 2002 begannen.

Am 27. Februar 2002 starben bei einem Brand in einem Zug 57 Hindu-Pilger. Bei einem Halt im Bahnhof von Godhra waren Streitigkeiten aufgekommen, da die Pilger aus Ayodhya kamen, von einer religiösen Zeremonie an dem Ort, wo bis 1992 die von Hindu-Nationalisten zerstörte Moschee Babri Masjid gestanden hatte. Es kam in der Folge zu pogromartigen Gewalt- und Mordausbrüchen, die ganz offensichtlich zum Teil koordiniert waren. Man hatte Listen über die Adressen mit Moslems. Und die können nur im Vorfeld schon angelegt worden sein. Das Netz ist voll mit widersprüchlichen, völlig entgegengesetzten Theorien zu dieser Gewalt, von denen sowohl Pakistan als auch der jetzige Ministerpräsident Modi Teil der extremsten Versionen sind. Wobei es nicht unwahrscheinlich ist, dass zumindest der Zugbrand tatsächlich ein Unfall war. Aber für die Geschehnisse, die Gewalt danach hat all das im Grunde keine Bedeutung. Es kommt auf dieser Welt ja meistens nicht darauf an, was Fakt, was wirklich ist, sondern was die Menschen für wirklich halten.

Und daher verzichtet die Schauspielerin Nandita Das auf all dies in ihrem Regiedebüt. Es gibt also keine Diskussion über die konkreten Ursachen der Gewalt, so wie auch keine direkte Gewalt gezeigt wird. Nur die Planung der Täter wird erwähnt, die Listen. Die Mitwirkung von Offiziellen. Und zwei Mal wollen Hindus die ursächliche Schuld auf die Schultern der Moslems legen. Nach dem Motto: Die haben angefangen, die haben es verdient, als Beispiel für eine Rachelogik, die nichts anderes als eine Rechtfertigung für alles ist. Durch diese Erzählweise von FIRAAQ wird alles allgemeingültiger. Es könnten auch andere Ausschreitungen zu einer anderen Zeit sein.

Was die Regisseurin in FIRAAQ zeigt, sind ganz einfach unbeteiligte, unschuldige Menschen, über die plötzlich fast der Himmel eingestürzt ist, die aber überlebt haben. Deren Leben aber nie wieder, oder zumindest nicht so schnell, wie vorher sein wird. Man sieht grundlegend veränderte Menschen, unsicher, ängstlich, verstört, übervorsichtig, paranoid. Das Leben steht gerade etwas auf Pause, soll aber wieder in Gang gebracht werden. So entsteht ein großes Gesamtbild aus Individuen, Denkweisen, Reaktionen. Es ist, wie einleitende Worte mitteilen, „ein Werk der Fiktion … basierend auf 1000 wahren Geschichten“.

Da sind einerseits zwei jüngere Pärchen. Einmal eines, dargestellt von Nawzuddin Siddiqui und Shahana Goswami, das das eigene bescheidene Heim in einer Seitengasse ausgebrannt vorfindet. Als Täter vermuten sie jemanden, den sie kennen, und mit dem der Mann vorher schon Ärger gehabt hat. Beide bewegen sich an diesem Abend in der Stadt, außerhalb einer sicheren Zone. Der Mann denkt mit seinen Freunden sogar an Rache. Ein gemischt religiöses Ehepaar, das es sich leisten kann, will nach Delhi ziehen, aber der moslemische Mann entdeckt die Ursache des Problems in sich selbst. Er verleugnet aus Angst seinen Namen, wofür er sich so schämt, dass er ihn in einer risikoreichen Situation extra herausfordernd benutzt.

Und dann sind da zwei ältere Menschen. Naseeruddin Shah ist ein ganz in seiner Musik verlorener Sänger, Musiker und Musiklehrer, dem sein Diener die Wahrheit vorzuenthalten versucht. Jener hat eine außerordentlich optimistische und, scheinbar weltfremde Sicht auf die Dinge. „Allah wird dafür sorgen.“, sagt er einer Tochter auf der Beerdigung ihres Vaters. Die fühlt sich an den eigenen Vater erinnert, als wäre so eine Weltsicht nur noch in der alten, aussterbenden Generation zu finden. Deepti Naval verkörpert eine Frau mit schlechtem Gewissen, weil sie eine verfolgte junge, blutverschmierte moslemische Frau in deren Not nicht in ihre Wohnung gelassen hat. Sie versucht, es mit einem kleinen, verwaisten Moslemjungen wieder gut zu machen. Aber der flüchtet schnell: Denn im Haus herrscht der Ehemann, der die Frau tyrannisiert und schlägt und der, wie sich herausstellt, zu den Tätern gehört, der zumindest geplündert hat, vermutlich auch mehr. Er ist ein Mann zum Hassen. Nicht, dass es solche Männer nicht gibt, aber ausgerechnet einen solchen auszuwählen, macht aus einer solchen Gestalt ein Klischeebild des Bösen aus dem Feminismus-Handbuch. Da wäre es direkt besser gewesen, den Blick auf Täter auszusparen aus dem Film. Was FIRAAQ auch nicht erwähnt, ist, dass 200 Polizisten starben bei dem Kampf gegen die Gewalt, und ich vermute mal mutig, dass ein großer Teil der offiziell 200 Hindutoten der Ausschreitungen zur Staatsgewalt gehören.

Und dann irrt da dieses verwaiste Kind durch den Film, kommt am Ende wieder im Flüchtlingslager an, findet den Onkel, kann aber nicht mehr mit den anderen Kindern spielen. Es hat schreckliche Grausamkeiten gesehen und ist im Grunde schon kein Kind mehr. Wie ein ausgebrannter Erwachsener in zu kleinem Körper sitzt es am Ende an einen Baumstamm gelehnt. Und in seinem leeren Blick scheint das unmöglich zu formulierende Fazit des Films zu liegen.

Die Stärke und Wirkung von FIRAAQ liegt in der geschickten fließenden Verschachtelung der einzelnen Erzählfäden, wodurch ein großes Gesamtbild, eine Gesamtatmosphäre entsteht. Dadurch dass man alle gleichzeitig im Kopf hat, identifiziert man sich nicht mit einer bestimmten Figur, sondern mit der Situation, mit der Lage, in der sich die Menschen befinden. Die rationale Ahnung eines Gefühls von Angst und Beklemmung entsteht. Das funktioniert, weil Nandita Das keine düstere Stimmung forciert. Es entsteht von alleine durch vorsichtiges und unaufgeregtes Erzählen.