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Sonntag, 28. Juni 2020

Sachys AYYAPPANUM KOSHIYUM – Die Arroganz der Privilegierten


Der Malayalam-Film AYYAPPANUM KOSHIYUM (2020) von Regisseur Sachy handelt über drei Stunden Laufzeit von nichts anderem als der ständigen Konfrontation zweier Männer. Dabei schafft der am 18. Juni 2020 leider verstorbene Regisseur und Drehbuchautor es in seiner zweiten Spielfilminszenierung mit einem abwechslungsreichen und ganz natürlichen Spiel aus Rhythmus, Tempo und Stimmung eine packende Geschichte zu erzählen, ohne auf künstliche Tricks zurückzugreifen.

Der Beginn ist ganz beiläufig. Das erste Aufeinandertreffen der beiden Protagonisten geschieht rein zufällig. Auf der einen Seite ist da eine nächtliche Polizeikontrolle, eine müde Routineveranstaltung, bei der nichts passiert, mit versammelter Mannschaft in der Provinz von Kerala. Gleichzeitig nähert sich ein Auto, vorne mit Fahrer, hinten mit einem schlafenden Besoffenen auf dem Rücksitz. Der Wagen gerät in die Polizeikontrolle, als diese eigentlich gerade aufgelöst werden soll. Und da widersetzt der besoffene Koshy sich, ist wie von Sinnen, prügelt sich, zertritt eine Autoleuchte, würgt einen Beamten und erst der Einsatzleiter Ayyappan kriegt ihn klein. Dann werden noch 12 Flaschen Whiskey gefunden, und das im Prohibitionsstaat Kerala. Es gibt zu viele Zeugen, der Vorgang ist im Computer und geht seinen vorgeschriebenen behördlichen Gang, obwohl man entdeckt, dass Koshy aus einer einflussreichen Familie mit einflussreichen Freunden kommt.

Als Privilegierter, der es gewohnt ist, mit allem durchzukommen, betrachtet Koshy die folgende Strafe nicht als etwas, das er seiner eigenen betrunkenen Dummheit zu verdanken hat, sondern als Unverschämtheit gegen einen Unantastbaren. Und er schafft es, sich zu rächen durch ein heimlich aufgenommenes Video, das, aus dem Kontext gerissen, für die Suspendierung von Ayyappan sorgt. Koshy glaubt, das war's, ist zufrieden, vergisst aber, dass ein Polizist ohne Uniform vielleicht nicht mehr so korrekt nach Vorschriften handelt. Vor allem, da es sich bei Ayyappan um einen besonderen Polizisten handelt. Am Anfang des Films war ein ganz kurzer Prolog, den man erst jetzt verstehen kann: Ayyappan war als junger Mann ein Killer, den erst die Polizeiuniform bezwungen und diszipliniert hat. Ohne Uniform und Gesetz kann er wieder zum Tier werden, das, ohne zu zögern, tötet. Der Filmtitel AYYAPPANUM KOSHIYUM (2020), also „Ayyappan & Koshy“, soll übrigens die Gleichwertigkeit der beiden Figuren und damit auch der Hauptdarsteller deutlich machen, von Prithviraj Sukumaran als arroganter Schnösel, der weniger hart ist, als er vorgibt, und von Biju Menon, der von einer glaubwürdigen unerschütterlichen Zielstrebigkeit ist.

Der Rest des Film gehört dem direkten Duell zwischen diesen beiden Männern, wobei Ayyappan zunächst die Polizei auf seiner Seite hat, während Koshy seine privilegierten Freunde und ein engagiertes Killerkommando dabei hat, was er aber eigentlich gar nicht will, denn er hat trotz allem seinen Stolz. Und so unerträglich Koshy sich aufführt, so sehr man als Zuschauer die meiste Zeit auf Ayyappans Seite steht, die Stärke des Films liegt auch darin, dass Koshy nicht das reine Abziehbild des verwöhnten Reichensohnes bleibt. Der Film hat vom Prinzip her mehr mit klassischen Western zu tun, als mit krachenden Actionfilm-Rivalitäten, denn es gibt außer einigen Prügeleien nicht eine einzige wirklich große Actionszene. Trotzdem funktioniert die Geschichte als geschickter Balancegang, bei dem das Interesse nicht erlahmt. Sachy hat ein feinen Sinn für die kleinen Details, wodurch der Film es nicht nötig hat, die Eskalation in eine Action-Welt des Irrealen und Absurden abdriften zu lassen, sondern dass es hier vor allem subtile Variationen und Steigerungen gibt, die allesamt nachvollziehbar sind.

Und es sind Variationen an größtenteils denselben Orten. Der Film erweitert sein Universum nicht, sondern hält es geschickt begrenzt: die Polizeistation, das kleine Hotel, der einsame Dschungel, die Häuser der beiden, denn es handelt sich um zwei Männer mit Familie. Außer tätlichen Auseinandersetzungen ist das Gesetz hier eine starke Waffe, für beide Seiten. Sei es die Verhaftung von Ayyappans Ehefrau, sei es die Beschlagnahme von Kochys Autos in der Wildnis, was zu einem Fußmarsch durch Wege mit Elefantenscheiße führt, sei es die von Koshy selbst veranlasste Verhaftung des Vaters, damit dieser nicht mehr in das Geschehen eingreifen kann. Und immer kommt jemand dazwischen, denn der Staat will einen Mord verhindern. Das Ganze hat aber auch sehr viel Humor, aber nicht von der ironischen oder slapstickartigen Art, sondern ein Humor, der ganz und gar aus den oft absurden Szenen entspringt. Auch die Intensität, mit der die beiden sich immer mehr ineinander verbeißen, bekommt immer absurdere Seiten. Lachen entsteht manchmal einfach aus Sprachlosigkeit.

Es ist, neben der persönlichen Auseinandersetzung, ein Klassenkampf, der sich hier abspielt. Am unteren Rand der Gesellschaft existiert die Stammesbevölkerung der Wälder, die dort unter mageren Umständen lebt, und zu der Ayyappans Frau gehört, die durch ihr Eintreten für Unterdrückte und die eine oder andere anti-bourgeoise Äußerung der Zugehörigkeit zu einer maoistischen Gruppe verdächtigt wird. Und auf der anderen Seite steht die Welt der Reichen und Privilegierten, die als eine aggressive Welt der Unterdrückung geschildert wird, vor allem auch nach innen durch patriarchalischen Terror, dessen Opfer dann die eigenen Frustrationen nach außen weitergibt. 

AYYAPPANUM KOSHIYUM liefert so ganz nebenbei die subtile Darstellung eines Privilegiertensohnes, der sich trotz 17 Jahre langer Armeezugehörigkeit längst nicht vom dominanten Vater emanzipiert hat. Der ist es gewohnt ist, mit dem Leben anderer zu spielen, auch wenn jetzt im Alter sein gesellschaftlicher Einfluss langsam am Schwinden ist, aber innerhalb der Familie kann er immer noch die alten Machtspiele spielen. In manchen Szenen bröckelt die selbstsichere, arrogante Fassade Koshys gewaltig, so wie in diesem witzigen Dialog: Bei einer Autofahrt spricht er mit dem Chauffeur und kann nicht ganz ausdrücken, was er sagen will: „Ich habe Angst, dass, nein, nein, nicht Angst.“ Schließlich will er stark und mutig erscheinen. Der Fahrer schlägt als besseres Wort vor: „Furcht.“ Und Koshy springt in einem Reflex darauf an: „Ja, genau, Furcht.“ Als er plötzlich merkt, was er da gesagt, stockt er, aber der Fahrer lächelt unmerklich.

Sonntag, 21. Juni 2020

Anubhav Sinhas MULK – Sippenhaft und Kollektivverdacht


Vor ARTICLE 15 (2019), über den nach wie vor vielerorts rechtlosen Status der Dalit, und THAPPAD (2020), über Gewalt in der Ehe, drehte Regisseur Anubhav Sinha den Hindi-Film MULK (2018) mit Rishi Kapoor und Taapsee Pannu in den Hauptrollen. MULK ist ein politischer Film über Familie, Religion und Terrorismus, über den Platz von Moslems in Indien, der im Zuge des Hindu-Nationalismus unsicherer geworden ist. Es geht um eine moslemische Familie, eine Joint Family in Benares, in einem religiös gemischten, aber mehrheitlich von Hindus bewohnten Viertel. Das inoffizielle Familienoberhaupt, Murad, ist Anwalt, dessen Bruder hat einen kleinen Elektronikladen. Die Schwiegertochter, ebenfalls Anwältin, ist angereist aus London. An Murads Geburtstag sieht man, wie die Familie mit der Nachbarschaft einträchtig feiert, aber am nächsten Tag wird Murads Neffe als Mittäter bei einem schweren Terroranschlag von der Polizei erschossen. Die Familie wird ermittlungstechnisch beleuchtet, und die naive Blauäugigkeit, mit der sie tatsächlich nichts mitbekommen haben, führt zu Anklagen und einem sippenhaftartigen Schauprozess, der vor allem der Abschreckung dienen soll. Auch das Verhalten des Umfeldes wird feindlich und misstrauisch.

MULK beruht, wenn auch nur im Kern, auf einem wahren Fall aus Kanpur in Uttar Pradesh, auf den Sinha durch einen Zeitungsausschnitt aufmerksam wurde. Am 9. März 2017 wurde in Lucknow nach 12-stündiger Belagerung der Terrorist Saifullah Khan erschossen. Er war mitverantwortlich für den Anschlag auf den Passagierzug Bhopal-Ujjain, bei dem 10 Menschen verletzt wurden. Saifullah hatte zwei Monate zuvor nach einem Streit mit Vater Safir Khan das Haus verlassen und wurde gemeinsam mit einem Freund Terrorist. Safir Khan verweigerte die Entgegennahme des von Kugeln zerfetzten Körpers von Sohn Saifullah, da er ein Verräter seines Landes sei und so einer könne nicht sein Sohn sein. Er wolle aber auch Beweise sehen. Von diesem Ereignis hat MULK eine der großen Schlüsselszenen entlehnt, nur dass hier die Mutter des Terroristen im Inneren des Hauses schon weinend diese Ablehnung herausschreit, und dann Murad als Onkel vor der Tür in aller Öffentlichkeit diesen Akt der demonstrativen Distanzierung vollzieht. Auch die Feindseligkeit der Nachbarschaft gegen die Familie, Steinwürfe, alles, was der Film in dieser Hinsicht zeigt, hat es in Wirklichkeit gegeben.

MULK ist ein Film, der es sich nicht einfach macht, weder in die eine noch in die andere Richtung. Einerseits nimmt er Moslems gegen Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft in Schutz. Aber andererseits erzählt er auch nicht eine einfache Opfergeschichte. Der Film enthält immerhin genug Ambivalenz, damit Pakistan ihn verboten hat. Da ist beispielsweise die Schwiegertochter, eine Hindu, die sich scheiden lassen will, da der moslemische Ehemann eine Festlegung auf den Islam noch vor der Geburt von Kindern verlangt. Und es gibt auch moslemische Terror-Sympathisanten in Indien, wie bei einigen Gläubigen von Murads Moschee, die für den vermeintlichen Märtyrer beten wollen. So etwas lässt der Film nicht aus. Denn Filmen, die so etwas auslassen, muss man mit Misstrauen betrachten. Dann haben sie etwas zu verbergen und sind nicht aufrichtig. Sinha bemüht sich jedenfalls ohne Schablonen um ein reales, ausgewogenes Porträt einer Familie, einer Nachbarschaft, eines Staates.

Als Vergleich bietet sich ein Film an, den ich ziemlich zeitgleich mit MULK gesehen habe, der hingegen es sich einfach macht. Arun Karthicks NASIR (2020) war kurz auf einem der Corona-Internetfilmfestivals zu sehen. Unter dem europäisch finanzierten Deckmantel des Realismus tut die Geschichte denen, für die sie vermeintlich erzählt wird, keinen Gefallen. Ein einfacher moslemischer Angestellter geht seiner Arbeit nach und begegnet auf dem Nachhauseweg einem aufgehetzten Hindu-Mob und wird totgeprügelt. Was in der Vorlage, der Kurzgeschichte von Dilip Kumar (nur eine zufällige Namensähnlichkeit mit dem größten aller indischen Filmschauspieler), vermutlich ein kleiner poetischer und schockierend endender Ausschnitt aus dem Leben eines Mannes ist, bekommt im Kino ganz andere, allgemeingültige Dimensionen. Da ist einmal ein echter Vorbildmensch, arbeitsam, kultiviert, liebevoll, poetisch. Ein bemitleidenswerter Mensch, der den ganzen Hinduismus um sich herum ertragen muss. Und die bösen Hindus reden immer nur über unanständige Sachen und sind fürchterlich verkommen. Humanistische Propaganda ist auch Propaganda. NASIR ist im Grunde europäisch mitfinanzierte Anti-Hindu-Propaganda versteckt unter dem Siegel des Arthouse-Films. Würde man die Geschichte anders herum erzählen, etwa ein Hindu oder Christ in Pakistan, käme sofort der Vorwurf der „Islamophobie“.

Einen großen Raum nimmt in MULK der Prozess ein. Sartaj Khan ist wohl in irgendeiner Form auch vor Gericht gezogen, aber der Prozess in MULK ist Fiktion. Diese Anklagen und Verhaftungen hat es nicht gegeben. Das hat Anubhav Sinha bewusst auf die Spitze getrieben. Es geht ihm um etwas anderes, um Grundsätzlicheres, ganz einfach um die konkrete Frage des Kollektivverdachts, der an sich in weiten Kreisen der indischen Bevölkerung gegen indische Moslems existiert. Daher sind große Teile des Prozesses rein rhetorisch und haben eine Funktion. Der Film kritisiert zwar nicht die Tatsache, dass die Familie durchleuchtet wurde, aber er unterstellt den Behörden eine absichtlich einseitige Sicht, die den Prozess nicht auf Fakten, sondern auf Propaganda fußen lässt. Die Frage ist: Wie beweist man das Gegenteil? Wie beweist man Patriotimus, Zugehörigkeit, Heimatgefühl in Indien, dass man nicht mit dem Terroristen-Staat Pakistan sympathisiert. Anstatt die Familie nur für ihre Ahnungslosigkeit, ihre falsche Rücksicht zu kritisieren, arbeitet die Anklage mit einer Kollektivanklage, indem sie alles auf unwiderlegbare Verallgemeinerungen und unbewiesene Behauptungen gründet.

Sinha arbeitet mit einem beweglichen, fließenden Stil über 135 Minuten, und entgeht mit Hilfe von innerer Spannung und authentischer Lebendigkeit den Fallen des Thesenfilms, des Betroffenheitsfilms, den man nur für die Botschaft dreht. Allein am Anfang das Porträt der Familie mit einer beweglichen Kamera, dem Wechsel der Figuren hat echte Eleganz. Dann ist Sinha ganz dicht dran beim Wirbel um den Terroristen, die Schießerei, die Polizei, die Medien. So kann er es sich erlauben, den Prozess etwas statisch sein zu lassen, was Prozessfilme aber nun mal so an sich haben.

Taapsee Pannu spielt die weibliche Hauptrolle als Anklägerin, die gegen den aggressiven Stil des Staatsanwaltes den richtigen Ton finden muss. Aber der Film gehört vor allem den Darstellern der Brüder. Rishi Kapoor, der bis zu seinem Tod immer besser wurde, ist ernst, sachlich, würdevoll. Er verzichtet darauf, die Figur künstlich sympathisch zu machen, lässt ihn nur bei der Party am Anfang lächeln und lachen. Er biedert sich nicht an, bettelt nicht , lässt sich nicht zum Opfer machen. Ein Mann, der sich die ganze Zeit seine Würde bewahrt. Und Manoj Pahwa als der Darsteller des zuerst verhafteten und angeklagten Bruders Bilaal, Vater des Terroristen, hat hier einmal eine richtig große angemessene Rolle, ist mit der tragischen Figur des Films, die sich in seiner eigenen Nachlässigkeit verheddert sieht, fast der heimliche Hauptdarsteller. Pahwa verwandelt die Schwäche der Figur in großes mitleiderregendes Pathos.

Samstag, 20. Juni 2020

Shoojit Sircars GULABO SITABO – Gier, Geiz und Gähnen


Shoojit Sircar hat mit GULABO SITABO (2020) einen neuen Film gedreht, und das Drehbuch ist, wie könnte es anders sein, von Juhi Chaturweda. Und nach PIKU (2015) und VICKY DONOR (2012) haben sie gemeinsam wieder einen Film gemacht, der jeden Liebhaber des gepflegten, gedehnten, pseudo-bedeutungsvollen Feelgood-Kinos mit dem berühmten stillen Humor, ein anderes Wort für müdes Lächeln, mit banaler, aber penetrant zwei Stunden lang dargebrachter Botschaft, und mit einer sich anbiedernden Zeitgeist-Schlusspointe zu Begeisterungsstürmen hinreißen wird. Jeder, der von Film ein bisschen mehr erwartet, aber trotzdem zu viel Disziplin hat, um einfach auszuschalten, wird ständig auf die Uhr gucken, währenddessen über das faszinierend krasse Missverhältnis zwischen gefühlter und gemessener Zeit meditieren, und den Beginn des Nachspanns, das Beste am Ganzen, als Befreiung empfinden.

Alles dreht sich um ein altes Haus, einen alten Stadtpalast in Lucknows historischen Viertel. Das Haus ist ein verfallenes Überbleibsel aus der Vergangenheit, und Hauptfigur Mirza, 76 Jahr, ist sozusagen das menschliche Spiegelbild dieses Gemäuers. Mirza hat auf eine absurde Weise nur Geld im Kopf, klaut Glühbirnen und Fahrradklingeln und verkauft sie. Er träumt davon, endlich alles für sich zu haben, denn genau genommen gehört nichts ihm, sondern seiner 18 Jahre älteren Frau, auf deren Tod er wartet. Dann gibt es da noch Mieter, die er am liebsten weg haben möchte. Und dazu gehört sein Gegenspieler, der Besitzer einer kleinen, schlecht gehenden Weizenmühle. Dazu kommt korruptes Interesse des Staates an dem Haus, vor allem der Denkmalbehörde. Und dazu kommt noch ein Kaufinteressent. Alles ist nach dem Motto viel Lärm um nichts künstlich konstruiert, da kann man schnell das Interesse an Menschen und Geschichte verlieren. Ich weiß nicht, ob man den vollen Überblick behalten kann, wenn man sich denn bemüht.

Konstruiert und künstlich ist auch und vor allem das Spiel von Amitabh Bachchan, dem grobe Gesichtszüge als Maske ins Antlitz gepflanzt wurde. Damit schlurft er dann langsam und gebeugt durch die Gegend, und es ist, als würde er so den ganzen Film niederdrücken. Ob er den trägen Rhythmus des Films beeinflusst hat oder ob er sich angepasst hat, ist schwer zu beurteilen, aber das eine bedingt irgendwie das andere. Aber egal, wie herum, das alles kriecht so selbstverliebt träge dahin, dass man ihn, genauso wie den Film, anschieben möchte. Auch Ayushmann Khurrana als Mann mit der Mühle, mit Bauchansatz, hat sich ein bisschen schwerer gemacht als sonst. Aber das sind isolierte Solonummern. Da ist keine Figur, für die man sich wirklich interessiert. Selbst die 94-Jährige, die mit einer alten Liebe durchbrennt, ist mehr ein Drehbucheinfall, als dass man wirklich dran glaubt. Eine Drehbuchpointe, bei der man das Klappern der Tastatur zu hören meint.

Alles plätschert dahin zum Rhythmus der Musik, bis man sie nicht mehr hören kann. Da ist eine einzige Szene, bei der man aufwacht, bei der ganz kurz Hoffnung aufkeimt: Wenn die Mauer zur Toilette nach einem Tritt plötzlich einstürzt, während einer drin sitzt. Da denkt man, jetzt geht es los. Das ist die Initialzündung, damit irgendwas passiert. Komik, Absurdität, Tragik, Satire, Slapstick, was weiß ich... Die kurz gekeimte Hoffnung geht schnell wieder ein. Es bleibt die völlig leblose, teilnahmslos wirkende Verfilmung eines durchkomponierten Drehbuchs, das sich zu keiner einzigen authentischen Emotion aufraffen kann und sich stimmungsmäßig für die unendliche Schwerfälligkeit entschieden hat. Eine Schwere, die man physisch zu spüren meint. Ein schönes Beispiel dafür, dass ein Film nicht die Summer aller Einzelteile, sondern etwas mehr ist, und dass ein mustergültig konstruiertes Drehbuch allein nicht ausreicht.

Freitag, 19. Juni 2020

GHOST STORIES – Geister und Verwandlungen


Mit der Netflix-Produktion GHOST STORIES (2020) haben sich, nach BOMBAY TALKIES (2013) und LUST STORIES (2018), die Hindi-Filmregisseure Zoya Akhtar, Anurag Kashyap, Dibakar Bannerjee und Karan Johar erneut für einen Episodenfilm mit thematischer Klammer zusammengetan. Oft fallen solche Filme qualitativ auseinander, so wie AUSSERGEWÖHNLICHE GESCHICHTEN (1968) nach Poe, wo die Fellini-Episode die anderen beiden weit überragt. Doch das war in diesen indischen Omnibus-Filmen bisher nicht der Fall, und ist es auch diesmal nicht, wo Geistergeschichten auf dem Programm stehen. Wobei nur zwei der Beiträge echte übersinnliche Geistergeschichten sind. Was aber alle gemeinsam haben, ist trotz fantastischer Imagination eine gewisse Bodenständigkeit. Die Geschichte sind allesamt sehr geerdet in einer sozialen, psychologischen, politischen Realität. Keiner der vier verschwindet völlig in fremden Welten oder erforscht das Jenseits, wie es etwa die beiden INSIDIOUS-Filme (2010/2013) von James Wan tun.

Es geht los mit Zoya Akhtars Beitrag, die mit Janhvi Kapoor in der Hauptrolle eine sehr reale Geschichte erzählt über eine Pflegerin, die einen neuen Job beginnt in einer Wohnung, die förmlich nach einem Geist schreit und wo man besser alle Lichter anlässt, um das Düstere etwas auf Abstand zu halten. Der Horror ist zunächst einmal bloß die Arbeit an sich in dieser gruftigen Atmosphäre, mit einer schwierigen Patientin, die man offensichtlich eine Zeit lang ganz allein gelassen hat – es liegt viel Post im Briefkasten – und die zwischendurch seltsame Fähigkeiten entwickelt. Eigentlich halbseitig gelähmt von einem Schlaganfall, sitzt sie plötzlich aufrecht im Bett. Dazu kommen noch seltsame Geräusche auf dem Flur, und man weiß, da stimmt etwas nicht, auch wenn es für die junge Frau nie wirklich bedrohlich wird. Es wirkt bloß bedrohlich. Man merkt, dass Zoya Akhtar vor allem an der realistischen Seite der Geschichte interessiert ist, an einer alleingelassenen alten Frau, die ständig von ihrem Sohn spricht, der vermeintlich in der Wohnung sein soll. Aber eigentlich ist so eine Wirklichkeit ja auch gruseliger als die meisten Geister.

Kashyaps Film ist der seltsamste und unangenehmste der vier Filme. Es geht um ein eine Ehefrau, die den frühen Kindstod des neugeborenen Babys nicht verkraftet hat und jetzt wieder schwanger ist. Gleichzeitig ist sie Tages- und Ersatzmutter für den besitzergreifenden Neffen, der bei dem alleinerziehenden Vater lebt. Kashyap mischt verschiedene Horror-Themen. Einmal gibt es den Schwangeren-Horror, die Angst um das Ungeborene, den fragilen Geisteszustand der werdenden Mutter, die in einem Zimmer voller Puppen Mama spielt. Dazu kommt Tierhorror, anhand von Raben auf dem Dach das alte Thema der Metamorphose. Und dann gibt es das Motiv der „bösen Saat“, also eines Kindes, das seinen bösen Willen durchsetzt, wie in DAS OMEN (1976) oder eben DIE BÖSE SAAT (1956). Hier ist es aber keine dämonische Besessenheit, sondern das Egoistische, das in jedem Kind mehr oder weniger ausgeprägt existiert. Es ist kein Schwarzweißfilm, sondern einfach farblos, während man noch ein paar Farbtöne hinter der grauen Fassade erahnen kann. Die Episode ist schmerzhaft und verstörend.

Bannerjee bedient sich beim heutzutage so beliebten Zombie-Horror, liefert aber eine ganz persönliche Variante, wobei er mehr mit George A. Romeros klassischem politisch-metaphorischen Splatter gemeinsam hat als mit den modernen Mode-Untoten und ihren amüsanten, aber streng genommen sinnfreien Parodien wie ZOMBIELAND (2009/2019). Bannerjees Beitrag beginnt zunächst als abstrakter, klaustrophobischer Horror, um dann ins intensiv Physische umzuschlagen. Es geht vom Eingeschlossensein, vom stillen Verbergen in einem Raum vor dem unbekannten Bösen vor der Tür zum direktesten Kontakt damit. Bei Bannerjee handelt es sich um eine Art umgekehrte Evolution, ein Zurück zum Fressen und Gefressenwerden, eine Rückentwicklung des Menschen in Steinzeit-Tiermonster. Und es bezeichnet ganz einfach unsere Gegenwart. Ebenso wie Kashyap hat er eklige Szenen eingebaut.

Die letzte Episode von Karan Johar würde man problemlos auch ohne Hinweis sofort erkennen. Da gibt es Production value, ein schönes Haus, schöne Einrichtung, schöne Menschen und ein schöne Hochzeit. Aber hinter den perfekten Fassaden verbergen sich ja oft die tiefsten oder zumindest seltsamsten und bizarrsten Abgründe. Johar widmet sich dem klassischen Gothic horror, auch wenn er auf die Inszenierung der Architektur verzichtet, denn dies ist ein heller, eher sonniger Geisterfilm, und der Geist, die Oma, spukt nicht als unheimliches Etwas durch die nächtlichen Gänge und es erklingt auch kein Lied dazu, nein, sie ist glückliches aktives Mitglied der Familie und wenn etwas entschieden wird, berät man sich mit ihr. Und wenn sie sogar in die Hochzeitsnacht hineinplatzt, dann wird man an die katastrophale Hochzeitsnacht in Johars Episode zu LUST STORIES erinnert. Johar spielt offensichtlich gerne mit dem indischen Hochzeitsnacht-Mythos. Und eins lernt man hier eindringlich: Man sollte nie Geister beschimpfen, an die man nicht glaubt. Sie könnten es hören.

Mittwoch, 17. Juni 2020

Anurag Kashyaps CHOKED: PAISA BOLTA HAI – Schwarzes Geld


Anurag Kashyaps neuer Film CHOKED: PAISA BOLTA HAI (2020), eine Netflix-Produktion, beginnt mit einer Ehe auf dem Tiefpunkt. Die Frau arbeitet, der Mann macht mal dies, mal das, auf jeden Fall macht er zu wenig Hausarbeit. Findet sie. Und zu allem Überdruss hat er auch noch einen Haufen kaum zurückzahlbarer Schulden. Aber in Wirklichkeit schwelt hinter diesen konkreten Problemen ein zerplatzter Traum von etwas Schönerem, Glamouröserem, denn bis zu einem Talentshow-Auftritt, wo der Frau vor Lampenfieber vor versammeltem Publikum die Stimme wegblieb, hatten die beiden als Musiker und Sängerin einiges vor. Der tote Traum ist jetzt ihr großes Trauma. Vor allem sie wirft es sich selbst vor und wirft ihrem Mann vor, es ihr vorzuwerfen. Eine deprimierende Spirale. Jetzt arbeitet sie als vorbildliche Angestellte in der Zweigstelle einer staatlichen Bank.

In diesem Haushalt in einem nicht mehr ganz frischen Mittelklasse-Appartementblock in Mumbai herrscht jedenfalls ständige Spannung und Unzufriedenheit, die auch der junge Sohn zu spüren bekommt. Da gibt es eine tragikomische, absurde Szene, wie sie auf diese Weise vielleicht nur Kashyap hinkriegt, wo der Sohn in der Mitte im Bett schläft und das Ehepaar eine Diskussion beginnt. Erst ganz leise, man will den Kleinen ja nicht wecken, dann etwas lauter, und dann gewinnt alles eine faszinierende Eigendynamik. Sie werden richtig laut und heftig, verlieren jede Rücksicht und zu guter Letzt rütteln sie den Jungen auch noch aus dem Schlaf, damit er als Schiedsrichter bei der Uneinigkeit fungiert, obwohl es sich, wie meistens bei solchen Ehestreitigkeiten, um eine Bagatelle dreht. Alles in einer Einstellung. Schrecklich. Komisch. Gespielt werden die beiden von Saiyami Kher als spröde und im Laufe des Films immer mehr in sich und ihrem Traum vom materiellen Paradies zurückgezogenen Ehefrau und Roshan Mathew als mit sich selbst unzufriedener Ehemann, der unter seiner eigenen Schwäche leidet.

Wie auch diese eine Szene schon zeigt, handelt es sich bei CHOKED, nach einem Drehbuch von Nihit Bave, also um alles andere als einfach ein graues Ehedrama. Dass man das schon von Anfang an weiß, dafür sorgt ein surrealer Prolog, der nicht nur die Stimmung und die Stimmungen vorgibt, er saugt den Zuschauer auch förmlich auf und in den Film hinein. Man folgt einer anonymen Gestalt, deren Gesicht nicht gezeigt wird: Ein Mann geht mit einer Tasche in eine Wohnung, in ein Bad und macht sich am Abfluss im Fußboden zu schaffen. Da hinein kommen wasserdicht verpackte kleine Geldrollen. Und dann taucht die Kamera hinterher in den schmalen Abgrund, und hinter der Dunkelheit schwebt eine glitzernde Discokugel, aber nur kurz, denn alles verwandelt sich in dunklen Schlamm, in schwarzes Abwasser, das nach oben quillt. So könnte ein Horrorfilm anfangen, eine Episode aus dem Kollektivfilm GHOST STORIES (2020), zu dem Kashyap eine Episode beigetragen hat.

Aber es ist kein Horrorfilm, kein Thriller, dafür ist zu viel Ironie und Humor dabei, es ist eher ein fantastisch-reales, heiter-düsteres Alltagsmärchen mit subtil-hysterischen Zwischentönen, wo das Geld nachts aus dem schlammigen Küchenabfluss auftaucht, wie aus der Unterwelt, und wo man durch das Brackwasser watet und sich dann glücklich bei einer höheren Macht bedankt. Rein praktisch kommt das Geld aus der geheimnisvollen Obergeschoss-Wohnung eines Assistenten eines korrupten Politikers. Diese Wohnung fungiert in der Geschichte als sagenumwobene Schatzkammer, auf die es heimlich das ganze Haus abgesehen hat. Doch das Märchen entwickelt sich zu einem immer unübersichtlicher werdenden Alptraum, parallel zu der immer hektischer und wilder die Banken stürmenden Bevölkerung, denn CHOKED spielt 2016, zur Zeit der Entwertung der 500- und 1000-Rupienscheine, eine Maßnahme, mit der Premier Modi illegal gehorteten Schwarzgeldmassen, als Ergebnis verbreiteter Korruption, zu Leibe rücken wollte.

Denn außer um eine Ehe, eine Familie, geht es hier um ein Wohnhaus in Geldsorgen, um ein ganzes Land im Stillstand, denn die Schlangen vor den Banken sind lang, und man darf pro Transaktion nur eine begrenzte Summe altes Geld in neues wechseln. So verwandelt sich alles von einem Tag auf den anderen in Wahnsinn. Kashyap nutzt alte Fernsehbilder, was dem Ganzen als Hintergrund eine breite soziale Atmosphäre gibt. Und eine Bankangestellte als Hauptfigur gibt Gelegenheit, auch das Innere der überfüllten Banken zu zeigen, die Hektik, die Drängeleien, der Wahnsinn, die Nervosität. Die Nerven liegen blank. Das alles fängt er adäquat ein. Wirkungsvoll wie eigentlich immer in einem Kashyap-Film ist auch die Musik, diesmal von Karsh Kale. Vor allem das jazzige, rhythmische Schlagzeug treibt alles dynamisch voran. Aber dann gibt es auch wieder harmonische Wechsel zum ganz Intimem, Stillem. Und mitten in all dem ist eben die korrekte Bankangestellte, die ja auch ihr illegales Geld aus dem Abfluss umwechseln will. Aber so sehr sie sich auch beim Hausaltar bedankt, sie ist tatsächlich dabei, den Verstand zu verlieren, hat einen gruseligen Alptraum. Überhaupt bekommen Ausdrücke wie „Geld aus dem Untergrund“ oder „schwarzes Geld“ hier eine faszinierend konkrete Bedeutung. Ein kleiner, großer, großartiger Film.