Lijo Jose Pellisserys Malayalam-Film JALLIKATTU (2019), der auf dem Indischen Filmfestival Stuttgart 2020 (online) zu sehen war, ist der Film zum gleichnamigen traditionsreichen südindischen Volks- und Extremsport, wobei es schon staatliche Verbote gab und gibt, aber auch Proteste gegen diese Einschränkungen sowie regionale Erlasse, die das wilde Treiben wieder erlauben. Das Grundprinzip ist einfach: Ein indischer Bulle wird auf eine Menschenmenge losgelassen, und Ziel ist es, sich an dem Buckel festzukrallen und das Tier zum Stehen zu bringen. Das ist vor allem gefährlich für Menschen, und es hat schon viele Todesfälle gegeben. In JALLIKATTU (2019) nun ist es eine echte Jagd. Ein wild gewordener Büffel entkommt dem Schlachter und richtet erst im anliegenden Dorf und dann in den Feldern drum herum deftige Verwüstungen an. Und irgendwie haben die Menschen große Probleme damit, ihn zu fangen und zu töten, auch weil egoistische Jagdinstinkte hervorbrechen und Besitzansprüche auf Jagdbeute geltend gemacht werden, wo es doch eigentlich nur um den Schutz des Dorfes gehen sollte.
JALLIKATTU, mit 90 Minuten ein relativ kurzer indischer Film, hat vier Teile, einen Prolog, zwei Hauptteile und und einen gezeichneten, animierten Nachspann als Epilog. Es beginnt mit einer vorwärts treibenden Montagesequenz nach dem Ticken der Uhr. Es ist morgens, Menschen werden wach. Man sieht das Schlachten eines Tieres, den Verkauf des Fleisches. Man spürt hier Pellisserys Freude am rein Formalen, auch um dessen selbst willen, am Rhythmischen, am Einfangen verschiedener Eindrücke zu einem großen Ganzen. Auch Pellisserys ANGAMALY DIARIES (2017) hat zu Beginn eine, wenn auch weit weniger komplexe, Montagesequenz vor allem aus Straßenständen und deren Zubereiten von Essen, was übrigens auf eine fast schon sadistische Art und Weise unverschämt gelungen Hunger macht.
Der Ausbruch des Büffels erfolgt ziemlich am Anfang von JALLIKATTU, sodass es schnell losgeht mit großen Zerstörungen im Dorf, auf den Felder, den Gärten. Und als das Tier erst einmal im Dschungel verschwunden ist, beginnt die richtige Jagd: ungeordnet, dilettantisch, chaotisch, aber auch spannend und intensiv. Doch die Menschen haben, auch durch staatliche Verbote, verlernt gezielt zu jagen. Die Jagd wird ekstatischer, kultartiger, auch versoffener, mit Rowdys aus dem Nachbardorf, sodass es auch zu einem Wettbewerb wird. Immer mehr Männer beteiligen sich, der Jagdinstinkt bricht aus und greift um sich. Es wird alles immer schneller, wilder. Dann fängt der Büffel sich selbst und fällt in einen großen, tiefen, verschlammten Brunnen.
Regisseur Pellissery zeigt vor allem in der ersten Hälfte des Films seine allgemeinen Qualitäten. JALIKATTU ist auch das Porträt eines Dorfkollektivs, so wie der Vorgängerfilm EE.MA.YAU. (2018), der vermutlich Pellisserys bisher bester Film ist und vom Ritual der Beerdigung und seinen belastenden finanziellen und sozialen Anforderungen handelt: Ein Sohn, der im betrunkenen Gespräch mit seinem Vater diesem eine königliche Beerdigung verspricht, verliert den Verstand, als der Vater plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt und er sich an sein Versprechen gebunden fühlt, obwohl er sowieso schon genug Geldsorgen hat. Außerdem zeigt JALLIKATTU Pellisserys formale Qualitäten, die man schon in einem sehr frühen Werk wie CITY OF GOD (2011) deutlich sehen kann. An sich ist dieses Krimi-Melodram zwar bloß ein dramaturgisch-künstlerisch etwas bemühter Masala-Film über mehrere Menschen, um Wanderarbeiter, einen Regisseur, eine Schauspielerin, Gangster, Kapitalisten, kurz, ein Stadtporträt von Mumbai. Was Pellissery aber gelingt, ist, dieser künstlichen Story Authentizität zu verleihen, auch wenn es manchmal zu viel des Guten ist, wie die Kamera versucht, direkter, distanzloser Teilnehmer von gewalttätigen Auseinandersetzungen zu sein. Denn Pellissery hat auch eine ziemliche Vorliebe für Hysterie, für Testosteron-Energie, für Dauer-Adrenalin, nicht bloß beim Zuschauer, sondern vor allem bei den Figuren im Film selbst.
Und gerade in JALLIKATTU kommt diese Seite Pellisserys zum Tragen, hier in Form von echter Massenhysterie. Denn im zweiten Teil wird das Tier lebendig aus dem Brunnen gehievt, kommt wieder frei und alles gerät völlig außer Kontrolle. Und ab hier wird der Film zum Selbstzweck, ergötzt sich einfach an dem, was er zeigt. Die Menschen verlieren die Kontrolle, gehen aufeinander los und schreien sich pausenlos an. Pausenlos. Es gibt Streit um Vorrechte, Streit um Teil an der Beute, Streit an sich. Formal und visuell ist das alles aber sehr brillant. Der Film enthält beispielsweise großartige Bilder von der Nacht, mit Massen, die mit Fackeln, mit Laternen, mit Taschenlampen durch den dunklen Wald jagen. Das Problem ist bloß, dass all das auf Dauer einfach auf die Nerven geht. Da löst sich auch das möglicherweise angeführte Argument der kritischen, filmischen Darstellung dieses Verhaltens, wo der Mensch zum verstandeslosen Jagd-Tier wird und sich von seiner Beute nicht mehr unterscheidet, in Luft auf, denn als echtes Adrenalin-Powerkino ist JALLIKATTU viel zu sehr ein faszinierter Teil all dessen, zeigt und filmt es ohne jede Distanz.
Und daher wirkt auch der gesamte Schluss eher prätentiös als intelligent. Denn am Ende wird der Film surreal, und es bildet sich über dem toten Büffel ein großer Menschenhaufen, alle gierig auf ein Stück der Beute. Das ist auch der Übergang zum animierten Epilog, der ein bisschen überdeutlich Bedeutung liefert, anstatt im Vagen, Ambivalenten zu bleiben. Es gibt Bilder aus Steinzeithöhlen und einen Nachspann mit Steinzeitmenschen. Zu diesem überflüssigen Evolutionsquark kann man nur bedauernd sagen, dass es schade ist, denn es ist unübersehbar, was für ein ausgezeichneter und intelligenter Regisseur Pellissery ist. Er sollte nur darauf verzichten, intelligenter – im Komparativ – sein zu wollen. Seine Virtuosität hat er mit JALLIKATTU aber unbestreitbar unter Beweis gestellt.