Es ist und bleibt faszinierend. Der indische Horrorfilm will auch in den modern durchdigitalisierten Zeiten nicht von seinen brillanten Anfängen loskommen. Und die liegen bekanntlich in Kamal Amrohis Licht-und-Schatten-Meisterwerk MAHAL (1949), der zwar genau genommen bloß ein Mystery-Film ist, der aber trotzdem der Grundstein ist für ein großes Gebäude aus Filmen, die es ohne ihn so nicht geben würde. Ansonsten ist der indische Horrorfilm leider voll von meist mehr, mal weniger belanglosen Variationen der Trends und Hits aus Hollywood, ein paar Jahre lang auch der aus Südostasien. Karan Johars Produktion BHOOT: PART ONE – THE HAUNTED SHIP (2020) beispielsweise ist so tiefseegrottenschlecht, dass ich nicht mal Lust hatte, ihm einen eigenen Blogbeitrag zu widmen. Jetzt hab ich ihn mal kurz erwähnt. Und das ist fast schon zu viel der Ehre.
Anvita Dutts BULBBUL (2020) ist also im Kern echter Landhaus-Grusel mit allen Zutaten, die dazugehören. Ein Zamindar-Film mit einigen abstoßenden Hauptfiguren, wo besonders die Frauen etwas zu leiden haben. Nur dass es hier nicht die entfernte, fast vergessene Vergangenheit ist, während derer die Mauern der Gemäuer sich mit dem Leid der Opfer vollgesaugt haben und das jetzt herauströpfelt und Böses anrichtet, sondern es geschieht alles gleichzeitig in der Gegenwart der Filmhandlung Ende des 19. Jahrhunderts. Da sind der alte Palast, grausame Vorgänge, eine geheimnisvolle Frau draußen in der Wildnis. Statt der klassischen Geisterfrau, die durchs Haus oder die Umgebung streift und dabei ein ätherisch-romantisches Lied singt, ist es hier eine waschechte Dämonin, die angeblich grausame Morde begeht und immerhin noch summt statt singt. Das hat ja auch die rein praktische Wirkung, dass der Zuschauer weiß, dass sie in der Nähe ist. Das Lied, oder hier das Summen, ist gewissermaßen die Materialisierung des unheimlichen Gefühls, dass entsteht, wenn eine übersinnliche Erscheinung in der Nähe ist. Im Ganzen ist der Palast ein Hort aus Pädophilie, Perversion, Frauenmisshandlung und Vergewaltigung. Das ist eine Denunziation des Landadels, wie sie Bimal Roy, dem großen Regisseur des zweiten bedeutenden Zamindar-Geisterfilms MADHUMATI (1958), der selbst aus diesem Milieu entstammte und es dadurch verabscheuen lernte, vielleicht gefallen hätte.
Die Story ist einfach: Einer von drei Brüdern kommt nach einigen Jahren der Abwesenheit zurück ins alte Familienanwesen, wo sich alles geändert hat. Jetzt herrscht seine jungen Schwägerin Bulbbul, die vorher hilfloses Opfer war, plötzlich uneingeschränkt und unwidersprochen über alles. In einem Prolog wurde am Anfang gezeigt, wie sie als Kindbraut dorthin gekommen war. Die Gegenwart und die in Rückblenden erzählte junge Vergangenheit treffen sich dann im Höhepunkt der Geschichte. Leider sind die Andeutungen von Melodrama öde, die Gefühle sind eher aus zweiter Hand, das Geschehen bleibt einem fremd. Alles ist zunächst furchtbar korrekt. Es herrscht bloß eine unangenehme Atmosphäre vor, an der man am liebsten gar nicht teilhaben möchte. Aber wenn der Film so seinen Lauf nimmt und in Fahrt kommt, stellt man fest, dass die Regisseurin ein scharfsinniges Gespür für Quälerei und Sadismus hat, nicht nur von Männern gegen Frauen, auch von Frauen untereinander. So gibt es eine langsame Steigerung des Films, aber erst wenn er den Realismus abstreift, kommt er wirklich zu sich.
Gegen Anfang gibt es eine klassische Kutschenfahrt durch einen angeblich dämonisch verzauberten Wald, wo der Mond dunkel und blutrot scheint. Und alles ist digital dunkelrot eingefärbt und das wirkt an der Stelle fürchterlich künstlich. Und es hat auch keine atmosphärische Wirkung. Da hat bloß jemand in einem Bildbearbeitungsprogramm herumgeklickt. Aber das Interessante an BULBBUL ist, dass diese leicht nervige Masche ab einem bestimmten Punkt zur Methode wird und funktioniert. Wenn der Irrsinn und die Grausamkeit erwachen und anwachsen, wenn BULBBUL sich immer mehr von der klassischen Schauerromantik entfernt, bekommt alles Wirkung.
Das Digitale übernimmt
die Vorherrschaft, so auch in einem Nachthintergrund mit Mond. Und
die Einfärbungen wirken plötzlich wie die viragierten Teile eines
alten und gut rekonstruierten Stummfilms. Auf die Art bekommt BULBBUL
einen fast experimentellen Anstrich, der visuell angemessen auf eine
apokalyptisch brennende Welt der Zerstörung zusteuert. Hatten sich
die alten indischen Schwarzweißfilme vor allem durch düstere Poesie
ausgezeichnet, durch eine gewisse Traurigkeit, Melancholie, wird dies
hier durch apokalyptische Blutpoesie abgelöst. Und wenn das
Digitale zum Prinzip wird, kann man an Coppolas brillanten
Experimentalhorror-Film TWIXT (2011) denken. Schade, dass BULBBUL
nicht viel früher die Kontrolle verliert.