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Montag, 24. August 2020

Vidya Balan in SHAKUNTALA DEVI – Rechengenie und Mutter

Shakuntala Devi (1929-2013) war ein indisches Rechen- und Zahlengenie, das mit ihrer Fähigkeit, schneller als die frühen Computer der 50er-70er zu sein, Rekorde brach und Weltruhm erlangte. Manchmal wird auch der Ausdruck Mathegenie benutzt, aber das ist ein wenig irreführend, denn in der Mathematik als Wissenschaft geht es ja gar nicht primär ums eifache Rechnen mit Zahlen. Devi nutzte ihre Bekanntheit auch sehr einträglich als Astrologin und Autorin von Büchern, darunter auch solche für Kinder, um ihnen die Angst vor Zahlen zu nehmen. Mit dem ihr gewidmeten Film SHAKUNTALA DEVI (2020), inszeniert von Anu Menon, geht die Hindi-Biopicwelle unaufhaltsam weiter, bietet aber diesmal eine echte Überraschung.

Denn SHAKUNTALA DEVI macht mit Shakuntala Devi im Prinzip das, was Jim McBrides GREAT BALLS OF FIRE (1989) mit Jerry Lee Lewis gemacht hat. Dennis Quaid sucht nicht wirklich den realen Jerry Lee, sondern einen Mythos, wie er uns später erscheint, eine innere Essenz. Perspektive bei McBride ist die seiner jungen Ehefrau. Die 50er als großes, buntes, kindliches Knallbonbon, während hinter der öffentlichen Größe Jerry Lees ebenfalls die düstereren Seiten ausgelotet werden. So auch bei SHAKUNTALA DEVI. Es geht nicht darum, Shakuntala Devi einfach nur mit ihren Fähigkeiten und ihrem Weltruhm als große nationale Repräsentantin Indiens zu zeigen. Der Film macht von Anfang an klar, dass es um Shakuntala Devi gesehen mit den Augen der Tochter geht, und auf eine faszinierend ehrliche Weise zeigt der Film sowohl das fantastische Bild einer für Entertainment begabten großen, unabhängigen Frau als auch die egomanische, manchmal empathielose Seite dahinter. Der Blick eines zahlenbesessenen Wirbelsturmhirns auf die beschränkte Restwelt.

Der Anfang ist eine unterhaltsame Nummernrevue, die ganz einfach die Höhepunkte ihres Lebens zeigt. Ein poppig bunter Vintage-Look spiegelt die Entertainment-Seite ihres Lebens wieder. Der Film versucht hier das Tempo und die Fülle dieses Lebens angemessen wiederzugeben. Denn schon mit drei Jahren wurde ihre Fähigkeit entdeckt. Aber sie landet aus Geldmangel nicht in der modernen Bildungsmaschinerie, sondern auf der Unterhaltungs-Bühne. Angeblich war der Vater Zirkusartist, was der Film allerdings nicht erwähnt. Warum auch immer. Es geht um ihre spätere Emanzipation von der Familie, die Entwicklung ihrer totalen Unabhängigkeit. Da ist der Hass auf die Eltern, die die kranke Schwester, auch aus Geldmangel, sterben ließen. Man folgt ihrem Aufstieg, ihrem Umsiedeln nach London, wo sie nach einigen Schwierigkeiten tatsächlich Anerkennung findet. Man sieht die Schlüsselszenen, die Weltrekorde, das Rechnen gegen Computer und der Höhepunkt, als sie einem Computer einen Fehler nachweisen konnte. Und es geht um die Männer in ihrem Leben, die ihren Ansprüchen nicht genügen können. „Du brauchst mich nicht“, damit leiten zwei Männer ihren Abschied ein.

Die Eingangsszene deutet schon an, dass der Film dem Thema eine interessante zweite Perspektive abgewinnt. Denn es beginnt mit der juristischen Klage der inzwischen erwachsenen Tochter Devis gegen die Mutter wegen großer angeblich unterschlagener Summen. Die Tochter ist wütend auf die Mutter, so wie Devi wütend auf ihre war. Sie war ihrer Tochter gegenüber sehr besitzergreifend, anders als die Distanz der eigenen Mutter. Sie nimmt die Tochter aber, ohne es zu merken, nicht als eigenständigen Menschen wahr, sondern als Verlängerung ihrer selbst, deren Traum es natürlich sein muss, mit ihr um die Welt zu reisen. Die Briefe des Vaters aus Indien gibt sie nicht an das Kind weiter. Und die Frage ist: Kann jemand, der der gesellschaftlichen Normalität in eine erfolgreiche Weltkarriere entkommen ist, es akzeptieren, wenn die eigene Tochter normal leben will. So was wird dann gerne als Rückschritt betrachtet. Wenn das einst Unnormale normal geworden ist, wird das einst Normale als unnormal denunziert. Zeitsprünge und Ortswechsel machen die komplexen Beziehungen und Entsprechungen über die Generationen hinweg deutlich.

Devis Stärke ist ihre Schwäche. Alles kreist bei ihr um Zahlen. Als sie einmal ihre Tochter erklärt, warum eine bestimmte Hausnummer eine besondere Zahl ist, erklärt die ihr genervt, dass für die Mutter doch alle Zahlen besonders seien. Gleichzeitig verwandelt Devis mathematisches Hirn alles in ein Spiel. So erfindet sie die Homosexualität des Ex-Mannes, um ihr Buch zu dem Thema besser zu verkaufen. Gegenüber ihrem Mann benutzt sie Argumente der Gleichberechtigung, aber eigentlich denkt sie nur an sich. Sie ideologisiert ihre Egomanie, anstatt sie als solche einfach anzunehmen. Hinter all dem verbergen sich ganz nebenbei vielerlei Verflechtungen aus Familie, Ehe, Gesellschaft, Mutterschaft und eben der Diskussion über Normalität. Der Film hat dabei eine Offenheit, die verhindert, dass daraus schwere, belehrende, pädagogisierende Themen werden.

SHAKUNTALA DEVI ist vor allem Vidya Balans Film. Zwei Schauspielmethoden Balans charakterisieren den Bruch, der durch den Film, aber auch durch den Menschen Shakuntala Devi geht. Die Entertainment-Seite, die Gesellschaftsfrau, hat ein deutliches, aber sehr bewusstes Overacting, eine gewisse heiter-fröhliche Mechanik an sich. Aber das ist genau richtig. Es macht das Ungewöhnliche dieser Frau deutlich. Die private Seite, vor allem die Beziehung zu ihrer Tochter, ist stiller, wird psychologisiert. Balan schafft es, die vielen und auch widersprüchlichen Seiten dieser Frau zu einem Ganzen zu vereinigen. Während des Nachspanns gibt es übrigens noch eine Item-Nummer besonders für Kinder, sozusagen die Bollywood-Essenz von Devis Büchern für Kinder. Hübsch.