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Samstag, 29. August 2020

Avinash Aruns KILLA – Der Musterschüler und die Mathenieten

Vier Jungen, allesamt Siebtklässler, jagen etwa in der Mitte des Marathi-Films KILLA (2014) mit dem Fahrrad über die einsame Landstraße, durch die Wälder, die Hügel, am Indischen Ozean vorbei. Sie veranstalten ein längeres Radrennen. Avinash Arun interessiert sich in seinem Regiedebüt aber nicht für den Wettbewerb, sondern für das schwerelose Vergnügen, dass die Fahrt für die Jungen bedeutet. Sie fahren bis zum großen Fort, dem Vijaydurg Fort, südlich von Ratnagiri, eine beeindruckende inselartige Anlage direkt an der Konkan-Küste, umgeben und zugewachsen von grünen Wiesen, wo der Schiedsrichter in Gestalt eines fünften Jungen wartet. Denn jedes Rennen muss einen Sieger haben – und Verlierer. Und der Gewinner Chinu erntet die skeptischen Blicke der anderen, weil er neu in der Gegend ist und sowieso schon Klassenbester und Stipendiat. Das sollte doch eigentlich reichen.

Die Kinder strolchen danach durch die große verfallene Festungsanlage, und plötzlich ist der Gewinner allein. Es fängt an zu regnen, er wird pitschnass und stellt fest, dass die anderen weg sind. Aus Begeisterung und Freude werden also Isolierung, Einsamkeit, Verlassenheit und tiefste Niedergeschlagenheit, symbolisiert durch sein Fahrrad, das am Ende als einziges noch an der Mauer lehnt. Die anderen sind schon gefahren. Übergangslos nebeneinander legt Regisseur Arun den extremen emotionalen Höhepunkt und den Tiefpunkt der jungen Hauptfigur. Dieses Zurückgelassenwerden in der labyrinthartigen Festungsanlage nimmt er sich sehr zu Herzen. Er reagiert darauf mit extremer Bockigkeit und mit Verschlossenheit, meidet die anderen Jungs, nimmt nicht einmal die wetterbedingte Entschuldigung an, dass es schließlich stark regnete und er in der großen Anlage nicht zu finden war. Und er ist unausstehlich gegenüber der Mutter, die ihn bewusst nicht mit ihren Problemen am Arbeitsplatz belastet, weshalb er aber denkt, bei ihr laufe alles perfekt.

In einer gewissen unzufriedenen Verteidigungshaltung befindet sich Chinu schon von Anfang an, denn er ist gar nicht damit einverstanden, dass er mit seiner alleinerziehenden Mutter, einer jungen Witwe, von der Großstadt Pune aufs Land ziehen musste. Aber die Mutter arbeitet beim Finanzamt und ist versetzt worden. Da lässt sich nichts dran ändern. Er muss sich also an seine neue ländliche Umgebung gewöhnen, was dem zurückhaltenden Jungen schwer fällt. Parth Bhalerao, dessen bekanntester Kinderdarsteller-Film BHOOTNAT RETURNS (2014) mit Amitabh Bachchan ist, spielt diesen sorgfältig gescheitelten Jungen, der die Welt wachsam und vorsichtig beobachtet. Und Amruta Subhash ist die geduldige geplagte Mutter, die dem neuen Druck nicht ganz gewachsen ist und sich der laschen Provinzmentalität in Sachen Vorschriften anpasst und dafür gleich bestraft wird.

Als eher schüchterner und introvertierter Musterschüler freundet Chinu sich dennoch mit den schlechtesten Schülern an, die er durch Abschreiben und Vorsagen im Mathe-Notfall unterstützt. Und er lernt, dass mit diesen Jungen das Leben auch am lustigsten ist. Und sie lernen voneinander. Am Ende ist das kleine, freche Großmaul der Gruppe sogar nett zu dem kleinen herrenlosen Hund. All das spielt in einer Welt ohne Computer und Smartphones. Auch wenn kein direktes Jahr angegeben wird, sind das vermutlich die 1990er, als der 1985 geborene Regisseur jung war. Es ist eine Zeit, in der ein schöner Stift noch Bedeutung hatte. Mit genau diesem Stift, den sein Schulfreund und Sitznachbar ihm in der Schule geschenkt hat, entdeckt Chinu das Verfassen von Poesie, findet er eine Ausdrucksmöglichkeit.

KILLA ist ein visuell und stimmungsmäßig wunderschöner Film, der aus einfachen, ruhigen Einstellungen besteht. Das entspricht ganz dem dramaturgischen Prinzip des Films, der, anders etwa als ein thematisch verwandter Film wie Rob Reiners STAND BY ME (1986), ganz und gar auf außergewöhnliche Dramatisierung verzichtet. Eine stille innerliche Poesie, die gleichzeitig eine große der Welt geöffnete Weite in sich trägt, liegt in den Bildern, in denen die Schönheit offensichtlich, aber auch sehr zurückhaltend wirkt. Es gibt keine Einstellungen um ihrer selbst willen, keine Postkartenbilder. Alles wirkt frisch, wie neu entdeckt. Die kleinen Dinge haben hier von alleine Bedeutung. Der Alltag als großes, spannendes Schatzkästchen. Das erinnert ein bisschen an die Bücher von R.K. Narayan, dessen erster Roman ja auch von einer Gruppe von Kindern in einer Kleinstadt handelt.

Insbesondere im Zusammenhang mit den Szenen um die Festung gibt es eine sehr einfache Symbolik, der aber durch die ruhige poetische Gestaltung jede Schwere genommen wird. Der Film besteht nicht darauf, dass man während des Guckens darüber grübelt. Wirklich sehen lassen sich die Zusammenhänge erst am Ende. Denn es geht bei diesem reservierten Jungen darum, heraus aus der individuellen Festung zu kommen, sich zu öffnen, geistig selbstständig zu sein. Und plötzlich bekommt der Weg aus dem bedrohlichen Tunnel heraus ans Licht beim Besuch des Forts eine ganz andere Bedeutung. Erwachsenwerden ist hier auch das Finden des eigenen inneren Gleichgewichts, unabhängig von Äußerem. Obwohl er seine neuen Freunde, sein neues Fahrrad, den niedlichen Hund hinter sich lassen muss, wirkt er am Ende zufrieden. Der Film macht mit dem Jungen, wegen des erneuten Wegzugs aufgrund einer erneuten Versetzung der Mutter, eine Kreisbewegung, aber alles ist leicht verschoben, harmonischer. Er ist klüger, glücklicher, mehr im Einklang mit der Welt.