In Venedig nahm der Marathi-Film THE DISCIPLE / DER SCHÜLER (2020) von Chaitanya Tamhane am Wettbewerb teil und gewann den Kritikerpreis. Verdient, denn es ist ein schöner, äußerst vielseitiger Film über klassische indische Musik, über Ideal und Praxis, über den jetzigen Zustand der klassischen Musik in Indien. Regisseur Tamhane kommt eigentlich vom Theater und hat davor schon den Kurzfilm SIX STRANDS (2012) und den Spielfilm COURT (2014) gedreht.
SIX STRANDS ist eine legendenhafte Erzählung über eine allein lebende Teeplantagenbesitzerin, die besessen ist von ihrem besten Produkt: Moonlight Thurston. Er wirkt einen Monat lang, funktioniert auf mehreren ekstatischen Geschmacks- und Wirkungsebenen und da ist sie auch wieder jung. Danach hingegen ist sie wieder allein mit ihren Erinnerungen. Aber in diese Mystik der Teeherstellung mischt sich die Tagespolitik in Form einer unterdrückten Arbeiterrebellion mit 80 verhungerten Familien. Schon viele Merkmale von Tamhanes zwei Spielfilmen sind hier zu sehen. Die ruhige Beobachtung. Die Liebe zu Leerstellen. Das Uneindeutige. Und das inszeniert Dokumentarische.
COURT (2014) ist ein Film über die Justiz mit einer sehr starken dokumentarischen Note, obwohl eben alles sorgfältig inszeniert ist. Ein alter Volkssänger wird, wegen eines seiner Lieder, der Anstiftung zum Selbstmord angeklagt. In langen Sequenzen kann man die sich hinziehende Gerichtsprozedur beobachten, die wegen neuer Beweislagen immer wieder verlängert wird. Und das trotz des hohen Alters des Angeklagten, dem wegen seines früheren rebellischen Verhaltens keine Kaution gewährt wird. Gezeigt wird auch, wie sich das System in einen freigesprochenen Angeklagten mit neuen Vorwürfen verbeißen kann, denn dahinter stecken Karrieren, die sich beweisen wollen. So kann es unter Umständen ein ewiger Prozess werden.
Was aber auch im Mittelpunkt steht, ist die private Beobachtung von Anwalt und Staatsanwältin. So verschieden sie sind, es sind zwei Seiten einer Medaille. Der Menschenrechtsanwalt aus einer steinreichen Familie, der ständig mit seinen Eltern streitet, sitzt zu Hause müde vor dem Fernseher, geht mit Freunden in eine edle Bar und hat privat keine Verbindung zu den Menschen, die er verteidigt. Die Staatsanwältin lebt in einer bescheidenen Bleibe mit Mann und zwei Kindern, Sie hat den Drang nach oben, zum Richteramt. Da ist aber auch die schlecht versteckte Verachtung für die vor allem aus dem Süden zugewanderten Unterkastigen. Die Angeklagten erscheinen als reine Treppenstufen auf dem Weg nach oben. Am Ende gibt es einen Gruppenausflug mit mehreren Familien in ein Strandressort, wo man sich kräftig anstrengt, sich zu amüsieren. Am Ende liegt über allem bloß eine ungeheure Müdigkeit.
Tamhane hat eine Vorliebe für große und halbe Totalen, lange Einstellungen, die genau durchkomponiert, choreographiert sind. Es ist der schon erwähnte Scheindokumentarismus, bei dem er genauestens die Bewegungsabläufe und die Bedeutungen kontrolliert. Nichts wird dem Zufall überlassen. Gleichzeitig wirken seine Filme in alle Richtungen offen, verschreiben sich der Mehrdeutigkeit statt der Vermittlug einer Botschaft. Dieser Detailreichtum in Totalen macht Tamhanes Filme aber eigentlich auch zu echten Kinofilmen für die große Leinwand. Auch THE DISCIPLE hat viele ruhige Einstellungen, ist aber weit weniger statisch, da ja auch weniger bürokratisch, als COURT. THE DISCIPLE ist fließender, beweglicher, durch die eine Hauptperson, auf der der Schwerpunkt liegt, auch einheitlicher.
THE DISCIPLE beginnt mit der Aufführung eines klassischen Konzerts im kleinen Rahmen und durch einen langsamen Zoom, vorbei am Sänger, nähern wir uns dem Spieler einer Tanpura oder eines ähnlichen Instruments. Der Musiker wirkt glücklich, freut sich über jede gesangliche Wendung seines Gurus. Das Jahr ist 2006. Der junge Mann, Sharad Nerulkar, gespielt vom Debütanten Aditya Modak, ist 24. Der Film zeigt die Entwicklung dieses jungen Mannes bis in die Gegenwart. Neben seinem alten, etwas kränkelnden Gesangs-Guru spuken ihm aber noch zwei andere Lehrmeister im Kopf herum. Der Vater, zu dem es einige Rückblenden gibt, den er aber am liebsten aus seinen Gedanken verbannen möchte und der ihn in der Kindheit in die Musik herein gezwungen hat. Und dann die nur wenig bekannte legendäre Sängerin Maai, von der er geheime Aufnahmen von Vorträgen hat und deren höchste spirituelle Ideale er wie einen Schatz für sich allein behält. Als wären sie der allein selig machende Weg zum seelentiefen Singen und zum Erfolg. Und so geht er auch brav zum Yoga, hält sich von allem Weltlichen fern. Wiederholt zeigt der Film seine nächtlichen Motorradfahrten in Zeitlupe, die Welt um ihn herum gleitet an ihm vorbei, aber er nimmt sie nicht wahr. Er lebt in der Welt des Ideals. Nur dass sich dies nicht auf seine praktischen Gesangfähigkeiten auswirkt. Sein Leben, seine Selbstsicherheit geraten aus dem Gleichgewicht, als er in einem Gesangswettbewerb nicht einmal unter die ersten drei kommt.
Er ist vor allem auch ein Fan klassischer Musik, ein wandelndes Lexikon, das sich gerne beklagt, dass die anderen alle keine Ahnung haben. Und das sind fast alle anderen. THE DISCIPLE ist nicht nur ein Film über die Musik, sondern auch über die dahinter steckende Infrastruktur mit ihren Auftrittsmöglichkeiten, Veranstaltungen. Der Film spielt in der Welt der kleinen Konzerte, kleinen Säle, vor teilweise privatem, auserlesenem Publikum. Es ist nicht immer voll, und die Gage reicht oft nicht mal für die Reise. Auf der anderen Seite gibt es die Gegenwelt der Masse, für jede Art von Musik. Konzerte heißen da Events, man braucht Sponsoren. Und sexy sein, das ist angesagt, in Indien bevorzugt man gerne das Wort „hot“, als wäre das weniger geifernd. Und man muss im Netz gefallen, kommunizieren, sich beliebt machen, so wie seine ehemalige Mitschülerin. Sharad hingegen wird im Netz wenig beachtet, erregt bloß Desinteresse, allenfalls Sympathie und Mitleid.
Das einzig Übernatürliche, was er erlebt, das ist die Stimme der
Sängerin Maai, die ihm wie in einer Vision die verdrängte Wahrheit
über sein Verhältnis zu seinem Guru und über sein fehlendes Talent
sagt. Aber er will sich das Ideal nicht nehmen lassen, trotz der
brutalen Geschichten eines zynischen Musikgeschichtlers, der jede
Illusion verloren hat. Sharad hat am Ende ein eigenes Label für alte
Aufnahmen. Und tritt somit in die Fußstapfen seines Vaters, dem
ebenfalls gescheiterten Sänger, der Bücher über die Art von
klassischer Musik geschrieben hat, die es in der Gegenwart nicht mehr
gäbe. Die Frage, die sich stellt, ist bloß, ob es dieses
verwirklichte Ideal jemals in kompromissloser Reinform gegeben hat
oder ob es ein luftig-spiritueller Traum der Erbverwalter ist.