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Mittwoch, 29. April 2020

BIDAAY BYOMKESH – Detektiv im Dämmerlicht


In der ersten Einstellung ist ein rot verschmiertes, bluttropfendes Messer im Vordergrund in Nahaufnahme zu sehen. Es wird in Kniehöhe von einem Menschen gehalten, der sich auf eine nächtliche Polizeistation in Kolkata zubewegt. Eine lange Kamerabewegung nach vorne begleitet ihn. BIDAAY BYOMKESH (2018) beginnt dramatisch wie ein Horror-Thriller, etwa wie ein italienischer Giallo. In und vor der Polizeistation döst man schon kräftig vor sich hin; ungehindert geschieht das Betreten der Räumlichkeiten an den Wachen vorbei, aber beim Anblick des Messers wird einer der schläfrig im Schreibtischstuhl hängenden Beamten schnell wach. Ein Mord soll geschehen sein. Als Täter bezichtigt sich der Mann mit dem Messer selbst. Er ist der seit zwei Jahren verschwundene Sohn des alt gewordenen berühmten ikonischen bengalischen Detektivs Byomkesh Bakshi. Damit ist klar, dass das hier kein normaler Fall ist.

BIDAAY BYOMKESH ist der sechste von insgesamt sieben bengalischen Byomkesh-Kinofilmen mit Abir Chatterjee in der Hauptrolle. Es kann in dem Zusammenhang zunächst etwas verwirrend wirken, dass es zwei Byomkesh-Kinoreihen von zwei verschiedenen Produktionshäusern gibt und dass Chatterjee 2010-2014 erst bei der einen, danach bei der anderen die Hauptrolle innehatte. Zehn Filme mit der Figur des Schriftstellers Saradindu Bandyopadhyay insgesamt sind entstanden, dazu kommen noch einzelne Produktionen wie SATYANWESHI BYOMKESH (2019), der die Handlung in die Zeit der indischen und bengalischen politischen Konflikte verlegt, ein Jahr nach dem Tod des Autors 1970.

BIDAAY BYOMKESH jedenfalls wurde produziert von Shrikant Mohta und Mahendra Sonibei für Shree Venkatesh Films (SVF), die übrigens auch Sandip Rays PROFESSOR SHONKU O EL DORADO (2019) produziert haben und verantwortlich sind für eine Reihe von Rituparno-Ghosh-Filmen, darunter leider auch dessen SATYANWESHI (2013), einen völlig missglückten Byomkesh-Film mit Sujoy Ghosh in seiner letzten Rolle, bevor er sich auf seine Regiekarriere konzentrierte. Die danach gestartete Reihe ist glücklicherweise weitaus überzeugender bei der Umsetzung der Welt von Saradindu Bandyopadhyay.

Auch Arindam Sils BYOMKESH PAWRBO (2016), den ich vor ein paar Wochen gesehen habe, gehört zu dieser Reihe von SVF. Dieser Krimi hat nicht so eine dramatische Anfangsszene wie BIDAAY BYOMKESH, ist klassischer, aber dabei sehr unterhaltsam und stilvoll. Ohne ein Postkartenfilm zu sein, ist seine größte Qualität die atmosphärisch schöne Zeichnung einer ländlichen End-1940er-Provinzwelt mit einem Dorf, seinen Bewohnern, dem Dschungel, des Nachts, aber vorwiegend bei Tag und strahlender Sonne. Dazu eine mysteriöse Story um Geisterreiter und Waffenschmuggel. Und auch die Rolle von Byomkeshs Ehefrau wurde als Reisebegleiterin ausgebaut. Das alles beruhend auf einer Originalstory, die es auch auf Englisch gibt: Als „The Death of Amrito“ ist sie erschienen in dem Buch „The Rhythm of Riddles. Three Byomkesh Bakshi Mysteries“ (2012), und das hat ein Vorwort des Filmregisseurs Dibakar Bannerjee, der wiederum vor einigen Jahren mit DETECTIVE BYOMKESH BAKSHY! (2015) den besten aller Byomkesh-Filme gedreht hat, der aber auch ganz anders ist als die so sympathische klassische Detektivfilmunterhaltung und den ich lobpreisend erwähne, wo immer sich die Gelegenheit bietet.

DETECTIVE BYOMKESH BAKSHY! ist schnell, düster und spielt in der Vergangenheit des Zweiten Weltkrieges, als man in Kalkutta japanische Luftangriffe fürchtete, dazu unterlegt mit moderner, krachender Metal- und Industrialmusik, was aber perfekt zur vorherrschenden Dunkelheit passt. Gezeigt wird ein junger Detektiv, der dabei ist, seinen Weg zu finden, noch Fehler macht. Die Handlung ist nicht ganz unkompliziert, aber dafür ist es ein Film, der mit wiederholtem Gucken immer besser wird. Leider war das Werk kein großer Erfolg und verstörte so manchen Byomkesh-Puristen, aber es ist ein Film für die Ewigkeit oder zumindest für das, was Menschen darunter verstehen. Und vielleicht fällt ja plötzlich Finanzierungs-Geld vom Himmel und Bannerjee kann doch noch einen zweiten Film drehen.

Aber um auf BIDAAY BYOMKESH zurückzukommen, das Wagnis einer neu erfundenen Story geht auch Regisseur und Drehbuchautor Debaloy Bhattacharya ein. Das ist ja etwas, wofür man nicht zu Unrecht schnell Prügel beziehen kann. Aber der vermutlich beste aller Sherlock-Holmes-Filme, Billy Wilders DAS PRIVATLEBEN DES SHERLOCK HOLMES (1970), ist auch eine reine Fiktion-Fiktion, die sich Autor Conan Doyle so nicht ausgedacht hat. In BIDAAY BYOMKESH, was „Auf Wiedersehen, Byomkesh“ hat man es im Gegensatz zu Bannerjees Film nicht mit dem noch unsicheren jungen Byomkesh zu tun, sondern mit einem plötzlich unsicheren alten Mann, der zaudert, mit sich und seinem grundlegendes Prinzip der Wahrheitssuche hadert, die er ja ganz philosophisch über die Notwendigkeit der Verhaftung und Strafe stellt. Durch private Gefühle sieht er sie gefährdet, eingeschränkt. Denn hier geht es um ein Familiengeheimnis, um Familienbande und Familienkonflikte. Die zweite Hauptfigur ist Byomkeshs Enkel, der sich zunächst kräftig gegen das Detektiv-Erbe wehrt und seine Wahrheitssuche lieber auf die Physik, etwa auf die Brechung von Licht, verlegt hat. Aber dann zieht es ihn unweigerlich doch hinein. Diese Familiengeschichte der drei Generationen ist der eigentliche emotionale und geistige Kern des Films.

Die formale Umsetzung allerdings kann zunächst etwas irritierend wirken und zunächst habe ich geistig mit den Zähnen geknirscht. Aber nach und nach schluckt man es als nötigen Theatereffekt, weil es auf Dauer einfach funktioniert: Denn Abir Chatterjee und Sohini Sarkar spielen Doppelrollen. Einmal als Byomkesh und jung aussehender Geist seiner Frau, dann als Enkel und dessen Freundin. Der alte Byomkesh in Chatterjees Maskengestalt ist wie eine Mischung aus dem nuschelnden Marlon Brando in DER PATE (1972) und dem greisen David Bowie in Tony Scotts BEGIERDE (1983). Byomkesh selbst ist trotz seines hohen Alters und seiner eingeschränkten Beweglichkeit geistig sehr wach und anderen wie gewohnt schnell einen Schritt voraus. Aber gleichzeitig ist er geistig schon halb im Totenreich. Er redet mit seiner toten Frau, seinem toten Freund Ajit, der aus den Abenteuern immer die Kriminalromane machte. Das alles hat eine melancholisch-morbide Poesie, wo der Tod längst keinen Schrecken mehr hat. Vermutlich ist es kein Zufall, dass von Regisseur Bhattacharya ausgerechnet ein Vampirfilm auf seine Premiere wartet: MR. DRACULA (2020) sollte eigentlich ab Mai in den Kinos zu sehen sein, aber wer weiß, auf welcher Streaming-Plattform der arme Film jetzt vorzeitig endet.

Montag, 27. April 2020

Amit Masurkars NEWTON – Demokratie im Dschungel


Es hat etwas von absurdem Theater, wenn in Amit V. Masurkars NEWTON (2017) die vier Wahlhelfer mit kugelsicheren Westen in den Dschungel ziehen und dort im Rahmen der landesweiten Parlamentswahlen ihrer potentiell 76 Wähler harren. „Warten auf den Wähler“ etwa könnte dieser größte Teil des Films auch heißen. Tatsächlich haben zwischendurch vor allem der Leiter des Wahlhelferteams und der Autor, der gruselige „Jombie“-Geschichten schreibt, etwas von traurigen Clowns in einer höchst seltsamen Welt. Ort der Handlung ist der Bundesstaat Chattisgarh in Zentralindien. Da gibt es in der unerschlossenen Wildnis Bodenschätze, Militär, Maoisten und eine zwischen all dem zerrieben werdende Stammes-Bevölkerung, die alles zusammen am liebsten los wäre. Aber so absurd und auch komisch, satirisch der Film mitunter ist, die Eingangsszene sorgt dafür, dass man es zu keinem Zeitpunkt zu komisch findet: Da wird ein Politiker im Wahlkampf bei der Fahrt durch den Dschungel von einer Straßensperre gestoppt und er und sein Fahrer von maoistischen Terroristen erschossen. Die Bedrohung ist echt. Sie ist keine Erfindung von Militärs oder Kapitalisten.

Die Hauptfigur des Films heißt Newton, verkörpert von einem unschlagbaren Rajkummar Rao mit dichtem lockigen Haar, der bei seinen Eltern wohnt und endlich heiraten soll. Eigentlich heißt er Nutan, „neu“, was nebenbei auch der Name einer legendären Hindi-Filmschauspielerin ist. Jedenfalls hat er sich selbst anglisiert in „Newton“, was passend ist für jemanden mit Master-Abschluss in Physik. Und natürlich weiß er auch, was Newton im Detail so berühmt gemacht hat, aber die größere Wahrheit hinter dem Ganzen, die muss ihm ein anderer erklären: Newton stünde für Gleichheit. Die naturwissenschaftlichen Gesetze gelten für alle gleich. Ein König platscht aus großer Höhe genauso auf den Boden wie ein Bettler. Für das große Ganze hat der Held des Films also nicht den besten Blick, aber er nimmt es sehr genau mit den kleinen Dingen, den Formalitäten, der Pünktlichkeit – auf die Sekunde. Er ist ein bürokratischer Idealist, ein Demokratieformalist ohne politische Position, der weder für noch gegen Maoisten ist, der sich einfach nur für den richtigen Ablauf der Wahl einsetzt. Dabei ist er kein strahlender positiver Held. Er ist kein charismatischer Pfadfinder wie James Stewart in Washington. Selbst als Zuschauer denkt man manchmal, er solle es jetzt gut sein lassen.

Zwischen Ernst und Satire geschieht alles und so abwechslungsreich die Handlung ist, im Kern wird ein unterhaltsamer Demokratie-Diskurs geführt, ohne dass die miteinander agierenden Figuren reine Träger von Prinzipien oder Inhalten wären. Ein Wahldrama, eine Wahlkomödie, ein Wahlzirkus spielt sich ab sich hier ab, weit draußen in der gefährlichen Einöde, aber mittendrin in der indischen Politik. Von Terroristen eingeschüchterte Wählern, bei denen die Armee nachhelfen muss, überhaupt zu erscheinen. Schwierigkeiten von rein sprachlichen Verständnisschwierigkeiten, bis zur erstarrten Ratlosigkeit gegenüber den Wahlmaschinen. Das Militär, das es sich möglichst leicht machen will. Ausländische Journalisten, denen man ein Potemkinsches Dorf der perfekt funktionierenden Demokratie vorsetzt und die ihre üblichen Phrasen in die Kameras dreschen und so schnell wieder verschwinden, wie sie gekommen sind.

Es ist ein ironischer, subversiver Unterton, der den stilistisch sehr einfachen NEWTON davon abhält, ein skurriler Feelgood-Film zu sein. Dafür ist er zu unbequem, zu uneindeutig, was verhindert, dass man sich gemütlich entspannt zurücklehnt. Und indem er sich einfache Wahrheiten verkneift, enthält er so viele Widersprüche dieses größten Landes mit demokratischer Verfassung. Aber vor allem macht NEWTON die indische Urbevölkerung sichtbar, die sowieso ganz andere Vorstellungen von Herrschaft und Selbstbestimmung hat. Aber so nervig die Figur Newton auch sein kann, am Ende wird klar, dass er recht hat. Denn der absolut korrekte Ablauf der Wahl ist die Voraussetzung für alles andere. Und der Praxisschock hat diesen scheinbar innerlich unzerstörbaren Mann nicht verändert. Und so kommt es zu eine der schönsten Schlussszenen im Kino der letzten Jahre, Und das obwohl gar nichts passiert. Aber damit ist so viel gesagt.

Sonntag, 19. April 2020

Nandita Das' FIRAAQ – Nach dem Pogrom


FIRAAQ (2008) von Nandita Das beginnt gleich mit einer extrem grausamen Szenerie. Das ist ein Schock, das ist sehr unangenehm, aber nur so begreift man, was passiert ist, bekommt man ein Gefühl für das, was folgt. Zwei Männer arbeiten am Ausheben eines Massengrabs. Ein Haufen Leichen liegt um die große Grube herum. Ein voll beladener LKW schafft Nachschub heran, kippt die toten Körper aus wie klumpige Erde. Einer meint, eine Bekannte darunter entdeckt zu haben, hat sich aber geirrt. Dann sehen die Arbeiter die Leiche einer Hindi-Frau. Einer der beiden möchte mit der Hacke auf sie losgehen, doch der andere hält ihn auf.

So groß ist der Hass, ist man am Rande der Verstandeslosigkeit. Tatsächlich waren nach pogromartigen Ausschreitungen gegen die moslemische Bevölkerung im indischen Bundesstaat Gujarat im Jahre 2002 viele Leichen sogar verbrannt und verstümmelt. Unter den 1000-2000 moslemischen Toten, je nach Zählung, waren viele Kinder und Frauen. Die Handlung setzt einen Monat nach den schlimmsten Ausschreitungen ein. Man versucht, wieder in ein normales Leben zurückzufinden nach den Ereignissen, die im Februar 2002 begannen.

Am 27. Februar 2002 starben bei einem Brand in einem Zug 57 Hindu-Pilger. Bei einem Halt im Bahnhof von Godhra waren Streitigkeiten aufgekommen, da die Pilger aus Ayodhya kamen, von einer religiösen Zeremonie an dem Ort, wo bis 1992 die von Hindu-Nationalisten zerstörte Moschee Babri Masjid gestanden hatte. Es kam in der Folge zu pogromartigen Gewalt- und Mordausbrüchen, die ganz offensichtlich zum Teil koordiniert waren. Man hatte Listen über die Adressen mit Moslems. Und die können nur im Vorfeld schon angelegt worden sein. Das Netz ist voll mit widersprüchlichen, völlig entgegengesetzten Theorien zu dieser Gewalt, von denen sowohl Pakistan als auch der jetzige Ministerpräsident Modi Teil der extremsten Versionen sind. Wobei es nicht unwahrscheinlich ist, dass zumindest der Zugbrand tatsächlich ein Unfall war. Aber für die Geschehnisse, die Gewalt danach hat all das im Grunde keine Bedeutung. Es kommt auf dieser Welt ja meistens nicht darauf an, was Fakt, was wirklich ist, sondern was die Menschen für wirklich halten.

Und daher verzichtet die Schauspielerin Nandita Das auf all dies in ihrem Regiedebüt. Es gibt also keine Diskussion über die konkreten Ursachen der Gewalt, so wie auch keine direkte Gewalt gezeigt wird. Nur die Planung der Täter wird erwähnt, die Listen. Die Mitwirkung von Offiziellen. Und zwei Mal wollen Hindus die ursächliche Schuld auf die Schultern der Moslems legen. Nach dem Motto: Die haben angefangen, die haben es verdient, als Beispiel für eine Rachelogik, die nichts anderes als eine Rechtfertigung für alles ist. Durch diese Erzählweise von FIRAAQ wird alles allgemeingültiger. Es könnten auch andere Ausschreitungen zu einer anderen Zeit sein.

Was die Regisseurin in FIRAAQ zeigt, sind ganz einfach unbeteiligte, unschuldige Menschen, über die plötzlich fast der Himmel eingestürzt ist, die aber überlebt haben. Deren Leben aber nie wieder, oder zumindest nicht so schnell, wie vorher sein wird. Man sieht grundlegend veränderte Menschen, unsicher, ängstlich, verstört, übervorsichtig, paranoid. Das Leben steht gerade etwas auf Pause, soll aber wieder in Gang gebracht werden. So entsteht ein großes Gesamtbild aus Individuen, Denkweisen, Reaktionen. Es ist, wie einleitende Worte mitteilen, „ein Werk der Fiktion … basierend auf 1000 wahren Geschichten“.

Da sind einerseits zwei jüngere Pärchen. Einmal eines, dargestellt von Nawzuddin Siddiqui und Shahana Goswami, das das eigene bescheidene Heim in einer Seitengasse ausgebrannt vorfindet. Als Täter vermuten sie jemanden, den sie kennen, und mit dem der Mann vorher schon Ärger gehabt hat. Beide bewegen sich an diesem Abend in der Stadt, außerhalb einer sicheren Zone. Der Mann denkt mit seinen Freunden sogar an Rache. Ein gemischt religiöses Ehepaar, das es sich leisten kann, will nach Delhi ziehen, aber der moslemische Mann entdeckt die Ursache des Problems in sich selbst. Er verleugnet aus Angst seinen Namen, wofür er sich so schämt, dass er ihn in einer risikoreichen Situation extra herausfordernd benutzt.

Und dann sind da zwei ältere Menschen. Naseeruddin Shah ist ein ganz in seiner Musik verlorener Sänger, Musiker und Musiklehrer, dem sein Diener die Wahrheit vorzuenthalten versucht. Jener hat eine außerordentlich optimistische und, scheinbar weltfremde Sicht auf die Dinge. „Allah wird dafür sorgen.“, sagt er einer Tochter auf der Beerdigung ihres Vaters. Die fühlt sich an den eigenen Vater erinnert, als wäre so eine Weltsicht nur noch in der alten, aussterbenden Generation zu finden. Deepti Naval verkörpert eine Frau mit schlechtem Gewissen, weil sie eine verfolgte junge, blutverschmierte moslemische Frau in deren Not nicht in ihre Wohnung gelassen hat. Sie versucht, es mit einem kleinen, verwaisten Moslemjungen wieder gut zu machen. Aber der flüchtet schnell: Denn im Haus herrscht der Ehemann, der die Frau tyrannisiert und schlägt und der, wie sich herausstellt, zu den Tätern gehört, der zumindest geplündert hat, vermutlich auch mehr. Er ist ein Mann zum Hassen. Nicht, dass es solche Männer nicht gibt, aber ausgerechnet einen solchen auszuwählen, macht aus einer solchen Gestalt ein Klischeebild des Bösen aus dem Feminismus-Handbuch. Da wäre es direkt besser gewesen, den Blick auf Täter auszusparen aus dem Film. Was FIRAAQ auch nicht erwähnt, ist, dass 200 Polizisten starben bei dem Kampf gegen die Gewalt, und ich vermute mal mutig, dass ein großer Teil der offiziell 200 Hindutoten der Ausschreitungen zur Staatsgewalt gehören.

Und dann irrt da dieses verwaiste Kind durch den Film, kommt am Ende wieder im Flüchtlingslager an, findet den Onkel, kann aber nicht mehr mit den anderen Kindern spielen. Es hat schreckliche Grausamkeiten gesehen und ist im Grunde schon kein Kind mehr. Wie ein ausgebrannter Erwachsener in zu kleinem Körper sitzt es am Ende an einen Baumstamm gelehnt. Und in seinem leeren Blick scheint das unmöglich zu formulierende Fazit des Films zu liegen.

Die Stärke und Wirkung von FIRAAQ liegt in der geschickten fließenden Verschachtelung der einzelnen Erzählfäden, wodurch ein großes Gesamtbild, eine Gesamtatmosphäre entsteht. Dadurch dass man alle gleichzeitig im Kopf hat, identifiziert man sich nicht mit einer bestimmten Figur, sondern mit der Situation, mit der Lage, in der sich die Menschen befinden. Die rationale Ahnung eines Gefühls von Angst und Beklemmung entsteht. Das funktioniert, weil Nandita Das keine düstere Stimmung forciert. Es entsteht von alleine durch vorsichtiges und unaufgeregtes Erzählen.

Freitag, 17. April 2020

Shyam Benegals MANTHAN – Machtkampf um Milch


Shyam Benegals MANTHAN (1976) war einer der großen indischen Filmerfolge der 70er, allerdings nicht auf dem gewohnten Produktions- und Vertriebsweg. Finanziert wurde er als echter Crowdfunding-Film vor seiner Zeit. 500.000 in Milch-Kooperativen organisierte indische Bauern aus dem Bundesstaat Gujarat ermöglichten den Film mit jeweils zwei Rupien und machten den Film als Zuschauer hinterher sofort zu einem Kassenknüller. Denn im Gujarat, wo man schon 1946 in Gang gekommen war, war man Vorreiter und Vorbild für die Bildung von Milch-Kooperativen. Und im Gegensatz zu der zerfallenden Milchkooperative, die der isländische Film MILCHKRIEG IN DALSMYNNI (2019) schildert, funktioniert das bis heute sehr gut. Man hat eine bis ins Ausland beliebte Marke geschaffen: Amul. „Weiße Revolution“ ist der Ausdruck für diese Erfolgsgeschichte. Der Titel des Films, übersetzt "The Churning", bedeutet einerseits ganz konkret die praktische Herstellung von Butter und andererseits ist es in der Hindu-Mythologie, sehr einfach gesagt, das Aufwühlen des Meeres durch Götter und Dämonen, um das Elixier der Unsterblichkeit wiederzuerlangen.

Woanders klappte die Schaffung von Milch-Kooperativen nicht so gut. Shyam Benegal beklagte in den 80ern, dass sich die in Bengalen regierenden Kommunisten beispielsweise gar nicht dafür eingesetzt hätten. MANTHAN jedenfalls war in den 70ern der Versuch, diese Bewegung voranzutreiben. Hinterher wurde der Film auch massenhaft im Ausland gesehen. Es ist eine ausführlich recherchierte, spannende Mischung aus didaktischem Lehrfilm, dokumentarischem Porträt und emotionaler Story um einen heftigen Machtkampf, der MANTHAN so erfolgreich machte. MANTHAN erfüllte mehr als seinen praktischen Zweck und überzeugt auch heute noch als intensiver Film mit einer ausgezeichneten Besetzung, die unter realistischen Bedingungen neben echten Bauern und Bäuerinnen zu sehen ist.

Zu Anfang werden in ein paar präzisen Sequenzen die stimmungsmäßigen und inhaltlichen Grundlagen ausgebreitet. Es beginnt mit einer Zugeinfahrt in einen kleinen in der Einöde liegenden Bahnhof. Wie ein neuer Sheriff in der Stadt steigt der von Girish Karnad verkörperte individuelle Held aus. Er wird mit dem Karren abgeholt und und gleich hier wird klar: Er ist anders. Er will nicht im Karren mitfahren, denn als staatlicher Tierarzt will er das arme, etwas müde Zugtier nicht noch mehr überlasten. Also geht er zu Fuß. Während des Vorspanns erklang ein ländliches Lied, bezeichnenderweise ein Liebeslied, denn Emotionen gibt es hier auch. Dann erfährt man die Ursache für die Anwesenheit des Beamten und bekommt eine Ahnung der kommenden Konflikte. Der Molkereibesitzer ist sicher, dass Kooperativen in seinem Gebiet nicht funktionieren werden. Aber dessen persönliche Profitinteressen stellen schließlich eines der Probleme dar.

Probleme gibt es natürlich viele. Und auch wenn es im Kleinen um eine einzelne Kooperative geht, so spiegeln sich darin doch die großen Probleme und zu verändernden sozialen Verhältnisse des ganzen Landes wieder. Daher hat man es mit den klassischen Themen zu tun. Es geht vor allem um Kaste, Klasse, Geschlecht. Und immer geht es um Macht, um religiös begründete Ausbeutung, um finanziell begründete Herrschaft, um Unterdrückung in der Ehe. Zusätzlich zeigt MANTHAN die Grenzen und Schwierigkeiten des Engagements der Experten von außen, die sich untereinander selbst nicht einig sind, die sich vielleicht zu viel vornehmen, die schnell zwischen den kämpfenden Parteien zerrieben werden können. „Unparteiisch“, solle er sein, ermahnt ein Kollege den Partei ergreifenden Tierarzt. Doch dieser meint, die einen hätten doch schon Geld und Macht, die anderen nichts. Wie solle man da unparteiisch sein?

Es ist vor allem eine Politik der kleinen Schritte. Zunächst ist es eine Zeit des Kennenlernens, des Vertrauensgewinnens, des Diskutierens. Die Bauern, viele davon Dalit, sind chronisch misstrauisch. Das hat ihnen lange Erfahrung gelehrt. Smita Patil spielt eine besonders kämpferische Bäuerin, die die Entnahme einer Probe ihrer Milch als Diebstahl betrachtet. Naseeruddin Shah ist der feindselige Dalit-Sohn eines Ingenieurs, der in der Gegend mal gearbeitet und sich schnell wieder aus dem Staub gemacht hat. Es gibt also gute konkrete Gründe, gegenüber Stadtleuten misstrauisch zu sein. Und es geht um einfache ökonomische, marktwirtschaftliche Mechanismen, die den Menschen beigebracht werden müssen, um gegen Manipulationen gewappnet zu sein. So werden sie von nun an nach Fettgehalt und nicht nach Gewicht bezahlt. Dann gibt es einen Preiskrieg, um den neuen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, und wenn der aufgegeben hat, kann das Monopol wieder die Preise bestimmen.

Schließlich wird der Machtkampf hart und heftig, denn es gibt Wahlen für den Vorsitz der Kooperative. Den betrachtet der Dorfvorsteher als sein selbstverständliches Vorrecht, allein aus Prestige-Gründen, denn hohe Posten sichern ihm nach außen hin Einfluss und Einkommen. So kommt es zu Gewalt nach dem Sieg des Dalit-Vertreters. Dass Herrschaft etwas sich wandelndes, flexibles ist, gehört auch zu den Veränderungen nach der langen Zeit der für eine Minderheit profitablen Erstarrung. Die kleinen Hütten der Dali-Gemeinschaft werden angezündet, und sie brennen ab. Hilflos versucht man mit Erde zu löschen. Alles ist auf die Aufrechterhaltung der Abhängigkeit ausgelegt. Aber es ist eine durch Wohlwollen verschleierte Abhängigkeit. Auf den Brandangriff folgt die paternalistische Attitüde des Molkereibesitzers, der Decken und neue Kredite bringt, die wiederum für erneute Abhängigkeit sorgen sollen. Der von Amrish Puri dargestellte Besitzer betrachtet die Dalit als Kinder und hier sollte man nicht vergessen, dass selbst der verehrte Gandhi den Begriff „Harijan“, „Kinder Gottes“, prägte, also schützenswert, aber irgendwie auch hilflos und einfältig, eine Autorität benötigend.

MANTHAN zeigt das staatliche Eingreifen, Einrichten einer Kooperative als Prozess, der am Ende des Films nicht abgeschlossen ist. Zwar war hier ein individueller, die Dinge vorantreibender Held, aber er ist ein Außenstehender, kein Übermensch. Er hat seine Grenzen, und am Ende wird er nach Hause beordert. Aber er hätte ja auf alle Fälle nicht dauerhaft bleiben können. Dafür schwingt sich ein Dalit-Mann zur neuen Führungsfigur auf. Und so soll es auch sein. Führung und Lösungen müssen dauerhaft von innnen kommen, ohne die lähmende staatliche Bürokratie, was auch das Erfolgsrezept der Gujarat-Kooperativen ist.

Im Laufe des Films gibt es eine unausgesprochene Zuneigung zwischen dem Tierarzt und der kämpferischen Milchbäuerin, die aber beide zwischen den Fronten stehen. Parallel dazu gibt es eine sexuelle Beziehung zwischen einem der Staatsangestellten und einem Dalit-Mädchen, dem er die berühmte Ehe versprochen hat. Der Tierarzt jagt ihn wütend nach Hause. Aber hier wird verdeutlicht, dass nicht nur die klassisch Bösen voller Statusarroganz sind. Die Frau des Tierarztes beispielsweise ist entsetzt, aber nicht über diese sexuelle Ausbeutung, sondern dass der Mitarbeiter „so tief sinken“ konnte, sich überhaupt mit so einem Mädchen einzulassen. Die platonische Liebe zwischen Arzt und Bäuerin hingegen droht nur einmal eine gewisse Grenze zu überschreiten, als sie sich in einer erotischen Szene die Füße wäscht und der Tierarzt die Augen nicht von ihren Beinen losreißen kann. Aber auch sie ist nicht frei. Als ihr saufender und prügelnder Ehemann wieder im Haus ist, ist es vorbei mit ihrer Unabhängigkeit. Tatsächlich ist sie so abhängig, dass man sie sogar dazu bewegen kann, den Tierarzt fälschlich der Vergewaltigung zu bezichtigen. Am Ende bleibt ihnen nur das Liebeslied des Vorspanns.

Freitag, 3. April 2020

Anurag Kashyaps MANMARZIYAAN – Liebe und Ehe


Anurag Kashyaps MANMARZIYAAN (2018) ist eine Auftragsproduktion des Regisseurs und hat eine Vorgeschichte. Dieses Projekt nach einem Drehbuch der Schriftstellerin Kanika Dhillon hatte schon einen anderen Regisseur und andere Hauptdarsteller, aber Produzent Aanand L. Rai gefiel nicht, was er da sah, stoppte alles, und das Material wurde wohl vernichtet oder landete im Archiv. Übrigens ist der deutsche Filmtitel ausnahmsweise mal absolut korrekt übersetzt mit „Herzenswünsche“, worunter er auch hin und wieder auf dem deutschen Bollywood-Sender Zee.One zu sehen ist. International hieß er „Husband Material“.

Schließlich kam Anurag Kashyap an Bord, der normalerweise seine Film selbst schreibt oder zumindest mitschreibt. Es ist also offensichtlich keine bewusste Planung seinerseits, dass MANMARZIYAAN wie ein bewusstes Gegenstück zu seinem vorherigen Film MUKKABAAZ (2017) wirkt. Das war ein echtes, direktes, kraftvolles Melodrama mit geradlinigen und starken Gefühlen: Junger Mann will boxen und ist verliebt in eine junge Frau, deren Vater jenen hasst. MANMIRZIYAAN ist genau das Gegenteil, und das betrifft nicht nur den leichteren, heitereren Ton. Hier gibt es keinen Bösewicht, die Hindernisse liegen vor allem in den Figuren selbst. Nicht einmal die Gesellschaft mit ihren Regeln und Anforderungen ist hier ein wirkliches Hindernis, es gibt genug Gelegenheit, die Probleme selbst zu lösen.

Rumi und Vicky haben eine enge Beziehung, die vor allem aus Sex besteht. Vicky, der durchgestylte DJ mit den tausend auffälligen selbst bedruckten T-Shirts, ist unter den Augen der Nachbarn ein Terrassenkletterer, da Rumi die Dachwohnung des Hauses bewohnt. Sie werden auf frischer Tat erwischt, und Rumi soll nun heiraten. Wenn's sein muss auch Vicky, aber der bibbert ängstlich, wenn es um Ehe geht. Und da Rumi ein ziemlich wildes Mädchen ist, das schnell zornig wird, gibt sie in ihrem Zorn auf ihren feigen Lover der Familie ihr Wort, dann eben halt den „nächstbesten Idioten“ zu heiraten, den die Familie ihr vorsetzt. Und so kommt es nach einigen Verwicklungen auch. Sie heiratet den Bänker Robbie und bemüht sich, rein formal, eine gute Ehefrau zu sein. Doch die Anziehung zu Vicky ist noch da.

Diese Story scheint einfach, doch dahinter steckt ein psychologisch sehr konstruiertes, hyperaktives Drehbuch, ein ständiges Hin und Her der Aktionen und Gefühle, das bei einem mittelmäßigen Regisseur schnell ein entnervtes Kopfschütteln des Zuschauers hervorrufen kann. Alles hängt da von den Figuren ab, ob man ihnen geistig folgen kann und ob man sich für sie interessiert. Wie schnell könnte Rumi als nervige Zimtzicke, Vicky als Volltrottel und Robbie als dröger Bänker dastehen. Aber die drei Hauptfiguren bekommen in der Gestalt von Vicky Kaushal, Taapsee Pannu und Amitabh Bachchan Echtheit, Authentizität, Sympathie, Interesse. Das ist umso wichtiger, als es hier vor allem um das Innenleben der Figuren geht, nicht so sehr um die Erzeugung von großen Emotionen. Man identifiziert sich mit keine der Personen, keine hat Recht oder Unrecht, man fiebert auf kein bestimmtes Ende hin, allenfalls ganz am Ende, als die Fronten gewissermaßen geklärt sind. Dennoch wurde dafür nicht die Form des kleinen, intimen psychologisch-heiteren Dramas, sondern die des großen Bollywood-Films mit Musik und Tanz und einem kraftvoll-energischen Soundtrack von Amit Trivedi gewählt.

Von Anfang an ist MANMARZIYAAN, mit selbstverständlicher und unverklemmter Direktheit, ein Film über Sex und Erotik: Vicky und Rumi haben eine fast kindlich-naive wilde, sehr besitzergreifende Sex-Liebesbeziehung, und man sieht die beiden bei wirklich nichts anderem. Treffen sie sich zum Reden endet es sofort irgendwo in der Waagerechten. Man kann sich die beiden kaum in einem normalen Alltag vorstellen. Als beide durchbrennen wollen, erwacht bei Rumi aber das weiblich Praktische und sie will zurück. Denn Vicky hat wie immer keinen Plan, was Rumi sich eigentlich hätte denken können. Es ist deprimierend komisch, wie er nicht einmal einen kleinen Imbiss bezahlen kann und sowieso kein Geld für Benzin hat. Eine Flucht ins Leere, ohne praktische Aussichten will Rumi also auch nicht. Das Ganze würde ja auch sowieso nur in Streit und gegenseitigen Vorwürfen enden. Der Ehezwang beschleunigt eigentlich nur die sowieso langsame Erkenntnis bei ihr, die sonst länger gedauert hätte, dass Vicky vielleicht doch kein „Ehemannmaterial“ ist.

In den Szenen von Vicky und Robbie wird der Film leiser, stiller, ruhiger. Das erste Kennenlernen, dann die Gewöhnung an die neue Situation. Erst realisiert sie die Ehe gar nicht, setzt sich im Auto nach hinten, wie um sich zu distanzieren, als wäre Robbie der Fahrer. Sie muss alleine joggen gehen, um sich in der Flitterwochen-Bergwelt Kaschmirs auszuweinen. Das Trinken bringt die beiden einander näher, scheinbar näher. In einer witzigen Trinkszene, wo sie seine stille Zurückhaltung aufbrechen will, halten sie die ganze Nachbarschaft vom Schlafen ab. Aber bei allem bleibt eine große Distanz. Die Nähe reicht erst mal nur fürs Bett.

Wie Kashyap die Waage hält zwischen romantischer Bollywood-Komödie und psychologischem Drama ist ausgezeichnet. So wird auch eine gewisse Vorhersehbarkeit des Drehbuchs unbedeutend. Bei Kashyap ist es immer der Moment, der zählt, die innere Spannung jeder einzelnen Szene und Entscheidung. Trotz der vielen Hektik ist es ein innerlicher Film Kashyaps, vielleicht sein innerlichster, gekennzeichnet von intelligenter und subtiler Regie. Dazu kommt Kashyaps Sinn für den Raum, für Drehorte, für die Schaffung einer passenden Atmosphäre. Gleich am Anfang wird in den engen Gassen getanzt. Der Realismus wird nur gebrochen durch die starke Musik und die Texte sowie durch das Licht, die vollen Farben. MANMARZIYAAN ist kein großer Kashyap-Film, aber ein sehr, sehr schöner.