In
der ersten Einstellung ist ein rot verschmiertes, bluttropfendes
Messer im Vordergrund in Nahaufnahme zu sehen. Es wird in Kniehöhe
von einem Menschen gehalten, der sich auf eine nächtliche
Polizeistation in Kolkata zubewegt. Eine lange Kamerabewegung nach
vorne begleitet ihn. BIDAAY BYOMKESH (2018) beginnt dramatisch wie
ein Horror-Thriller, etwa wie ein italienischer Giallo. In und vor
der Polizeistation döst man schon kräftig vor sich hin; ungehindert
geschieht das Betreten der Räumlichkeiten an den Wachen vorbei, aber
beim Anblick des Messers wird einer der schläfrig im
Schreibtischstuhl hängenden Beamten schnell wach. Ein Mord soll
geschehen sein. Als Täter bezichtigt sich der Mann mit dem Messer
selbst. Er ist der seit zwei Jahren verschwundene Sohn des alt
gewordenen berühmten ikonischen bengalischen Detektivs Byomkesh
Bakshi. Damit ist klar, dass das hier kein normaler Fall ist.
BIDAAY
BYOMKESH ist der sechste von insgesamt sieben bengalischen
Byomkesh-Kinofilmen mit Abir Chatterjee in der Hauptrolle. Es kann in
dem Zusammenhang zunächst etwas verwirrend wirken, dass es zwei
Byomkesh-Kinoreihen von zwei verschiedenen Produktionshäusern gibt
und dass Chatterjee 2010-2014 erst bei der einen, danach bei der
anderen die Hauptrolle innehatte. Zehn Filme mit der Figur des
Schriftstellers Saradindu Bandyopadhyay insgesamt sind entstanden,
dazu kommen noch einzelne Produktionen wie SATYANWESHI BYOMKESH
(2019), der die Handlung in die Zeit der indischen und bengalischen
politischen Konflikte verlegt, ein Jahr nach dem Tod des Autors 1970.
BIDAAY
BYOMKESH jedenfalls wurde produziert von Shrikant Mohta und Mahendra
Sonibei für Shree Venkatesh Films (SVF), die übrigens auch Sandip
Rays PROFESSOR SHONKU O EL DORADO (2019) produziert haben und
verantwortlich sind für eine Reihe von Rituparno-Ghosh-Filmen,
darunter leider auch dessen SATYANWESHI (2013), einen völlig
missglückten Byomkesh-Film mit Sujoy Ghosh in seiner letzten Rolle,
bevor er sich auf seine Regiekarriere konzentrierte. Die danach
gestartete Reihe ist glücklicherweise weitaus überzeugender
bei der Umsetzung der Welt von Saradindu Bandyopadhyay.
Auch Arindam Sils
BYOMKESH PAWRBO (2016), den ich vor ein paar Wochen gesehen habe,
gehört zu dieser Reihe von SVF. Dieser Krimi hat nicht so eine
dramatische Anfangsszene wie BIDAAY BYOMKESH, ist klassischer, aber dabei sehr
unterhaltsam und stilvoll. Ohne ein Postkartenfilm zu sein, ist seine
größte Qualität die atmosphärisch schöne Zeichnung einer
ländlichen End-1940er-Provinzwelt mit einem Dorf, seinen Bewohnern, dem
Dschungel, des Nachts, aber vorwiegend bei Tag und strahlender Sonne.
Dazu eine mysteriöse Story um Geisterreiter und Waffenschmuggel. Und
auch die Rolle von Byomkeshs Ehefrau wurde als Reisebegleiterin
ausgebaut. Das alles beruhend auf einer Originalstory, die es auch
auf Englisch gibt: Als „The Death of Amrito“ ist sie erschienen
in dem Buch „The Rhythm of Riddles. Three Byomkesh Bakshi
Mysteries“ (2012), und das hat ein Vorwort des Filmregisseurs
Dibakar Bannerjee, der wiederum vor einigen Jahren mit DETECTIVE
BYOMKESH BAKSHY! (2015) den besten aller Byomkesh-Filme gedreht hat,
der aber auch ganz anders ist als die so sympathische klassische
Detektivfilmunterhaltung und den ich lobpreisend erwähne, wo immer
sich die Gelegenheit bietet.
DETECTIVE BYOMKESH
BAKSHY! ist schnell, düster und spielt in der Vergangenheit des
Zweiten Weltkrieges, als man in Kalkutta japanische Luftangriffe
fürchtete, dazu unterlegt mit moderner, krachender Metal- und
Industrialmusik, was aber perfekt zur vorherrschenden Dunkelheit
passt. Gezeigt wird ein junger Detektiv, der dabei ist, seinen Weg zu
finden, noch Fehler macht. Die Handlung ist nicht ganz unkompliziert,
aber dafür ist es ein Film, der mit wiederholtem Gucken immer besser
wird. Leider war das Werk kein großer Erfolg und verstörte so
manchen Byomkesh-Puristen, aber es ist ein Film für die Ewigkeit
oder zumindest für das, was Menschen darunter verstehen. Und
vielleicht fällt ja plötzlich Finanzierungs-Geld vom Himmel und
Bannerjee kann doch noch einen zweiten Film drehen.
Aber
um auf BIDAAY BYOMKESH zurückzukommen, das Wagnis einer neu
erfundenen Story geht auch Regisseur und Drehbuchautor Debaloy
Bhattacharya ein. Das ist ja etwas, wofür man nicht zu Unrecht schnell Prügel
beziehen kann. Aber der vermutlich beste aller Sherlock-Holmes-Filme, Billy Wilders DAS
PRIVATLEBEN DES SHERLOCK HOLMES (1970), ist auch eine reine
Fiktion-Fiktion, die sich Autor Conan Doyle so nicht ausgedacht hat. In BIDAAY BYOMKESH, was „Auf Wiedersehen, Byomkesh“ hat man es im Gegensatz zu Bannerjees Film nicht mit dem noch unsicheren jungen Byomkesh zu tun, sondern mit
einem plötzlich unsicheren alten Mann, der zaudert, mit sich und seinem
grundlegendes Prinzip der Wahrheitssuche hadert, die er ja ganz
philosophisch über die Notwendigkeit der Verhaftung und Strafe
stellt. Durch private Gefühle sieht er sie gefährdet,
eingeschränkt. Denn hier geht es um ein Familiengeheimnis, um
Familienbande und Familienkonflikte. Die zweite Hauptfigur ist
Byomkeshs Enkel, der sich zunächst kräftig gegen das Detektiv-Erbe
wehrt und seine Wahrheitssuche lieber auf die Physik, etwa auf die
Brechung von Licht, verlegt hat. Aber dann zieht es ihn unweigerlich
doch hinein. Diese Familiengeschichte der drei Generationen ist der
eigentliche emotionale und geistige Kern des Films.
Die
formale Umsetzung allerdings kann zunächst etwas irritierend wirken
und zunächst habe ich geistig mit den Zähnen geknirscht. Aber nach
und nach schluckt man es als nötigen Theatereffekt, weil es auf Dauer einfach funktioniert: Denn Abir Chatterjee und Sohini Sarkar
spielen Doppelrollen. Einmal als Byomkesh und jung aussehender Geist
seiner Frau, dann als Enkel und dessen Freundin. Der alte Byomkesh in
Chatterjees Maskengestalt ist wie eine Mischung aus dem nuschelnden
Marlon Brando in DER PATE (1972) und dem greisen David Bowie in Tony
Scotts BEGIERDE (1983). Byomkesh selbst ist trotz seines hohen Alters
und seiner eingeschränkten Beweglichkeit geistig sehr wach und
anderen wie gewohnt schnell einen Schritt voraus. Aber gleichzeitig
ist er geistig schon halb im Totenreich. Er redet mit seiner toten
Frau, seinem toten Freund Ajit, der aus den Abenteuern immer die
Kriminalromane machte. Das alles hat eine melancholisch-morbide
Poesie, wo der Tod längst keinen Schrecken mehr hat. Vermutlich ist
es kein Zufall, dass von Regisseur Bhattacharya ausgerechnet ein
Vampirfilm auf seine Premiere wartet: MR. DRACULA (2020) sollte eigentlich ab Mai in den Kinos zu sehen sein, aber wer weiß, auf welcher
Streaming-Plattform der arme Film jetzt vorzeitig endet.