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Samstag, 29. August 2020

Avinash Aruns KILLA – Der Musterschüler und die Mathenieten

Vier Jungen, allesamt Siebtklässler, jagen etwa in der Mitte des Marathi-Films KILLA (2014) mit dem Fahrrad über die einsame Landstraße, durch die Wälder, die Hügel, am Indischen Ozean vorbei. Sie veranstalten ein längeres Radrennen. Avinash Arun interessiert sich in seinem Regiedebüt aber nicht für den Wettbewerb, sondern für das schwerelose Vergnügen, dass die Fahrt für die Jungen bedeutet. Sie fahren bis zum großen Fort, dem Vijaydurg Fort, südlich von Ratnagiri, eine beeindruckende inselartige Anlage direkt an der Konkan-Küste, umgeben und zugewachsen von grünen Wiesen, wo der Schiedsrichter in Gestalt eines fünften Jungen wartet. Denn jedes Rennen muss einen Sieger haben – und Verlierer. Und der Gewinner Chinu erntet die skeptischen Blicke der anderen, weil er neu in der Gegend ist und sowieso schon Klassenbester und Stipendiat. Das sollte doch eigentlich reichen.

Die Kinder strolchen danach durch die große verfallene Festungsanlage, und plötzlich ist der Gewinner allein. Es fängt an zu regnen, er wird pitschnass und stellt fest, dass die anderen weg sind. Aus Begeisterung und Freude werden also Isolierung, Einsamkeit, Verlassenheit und tiefste Niedergeschlagenheit, symbolisiert durch sein Fahrrad, das am Ende als einziges noch an der Mauer lehnt. Die anderen sind schon gefahren. Übergangslos nebeneinander legt Regisseur Arun den extremen emotionalen Höhepunkt und den Tiefpunkt der jungen Hauptfigur. Dieses Zurückgelassenwerden in der labyrinthartigen Festungsanlage nimmt er sich sehr zu Herzen. Er reagiert darauf mit extremer Bockigkeit und mit Verschlossenheit, meidet die anderen Jungs, nimmt nicht einmal die wetterbedingte Entschuldigung an, dass es schließlich stark regnete und er in der großen Anlage nicht zu finden war. Und er ist unausstehlich gegenüber der Mutter, die ihn bewusst nicht mit ihren Problemen am Arbeitsplatz belastet, weshalb er aber denkt, bei ihr laufe alles perfekt.

In einer gewissen unzufriedenen Verteidigungshaltung befindet sich Chinu schon von Anfang an, denn er ist gar nicht damit einverstanden, dass er mit seiner alleinerziehenden Mutter, einer jungen Witwe, von der Großstadt Pune aufs Land ziehen musste. Aber die Mutter arbeitet beim Finanzamt und ist versetzt worden. Da lässt sich nichts dran ändern. Er muss sich also an seine neue ländliche Umgebung gewöhnen, was dem zurückhaltenden Jungen schwer fällt. Parth Bhalerao, dessen bekanntester Kinderdarsteller-Film BHOOTNAT RETURNS (2014) mit Amitabh Bachchan ist, spielt diesen sorgfältig gescheitelten Jungen, der die Welt wachsam und vorsichtig beobachtet. Und Amruta Subhash ist die geduldige geplagte Mutter, die dem neuen Druck nicht ganz gewachsen ist und sich der laschen Provinzmentalität in Sachen Vorschriften anpasst und dafür gleich bestraft wird.

Als eher schüchterner und introvertierter Musterschüler freundet Chinu sich dennoch mit den schlechtesten Schülern an, die er durch Abschreiben und Vorsagen im Mathe-Notfall unterstützt. Und er lernt, dass mit diesen Jungen das Leben auch am lustigsten ist. Und sie lernen voneinander. Am Ende ist das kleine, freche Großmaul der Gruppe sogar nett zu dem kleinen herrenlosen Hund. All das spielt in einer Welt ohne Computer und Smartphones. Auch wenn kein direktes Jahr angegeben wird, sind das vermutlich die 1990er, als der 1985 geborene Regisseur jung war. Es ist eine Zeit, in der ein schöner Stift noch Bedeutung hatte. Mit genau diesem Stift, den sein Schulfreund und Sitznachbar ihm in der Schule geschenkt hat, entdeckt Chinu das Verfassen von Poesie, findet er eine Ausdrucksmöglichkeit.

KILLA ist ein visuell und stimmungsmäßig wunderschöner Film, der aus einfachen, ruhigen Einstellungen besteht. Das entspricht ganz dem dramaturgischen Prinzip des Films, der, anders etwa als ein thematisch verwandter Film wie Rob Reiners STAND BY ME (1986), ganz und gar auf außergewöhnliche Dramatisierung verzichtet. Eine stille innerliche Poesie, die gleichzeitig eine große der Welt geöffnete Weite in sich trägt, liegt in den Bildern, in denen die Schönheit offensichtlich, aber auch sehr zurückhaltend wirkt. Es gibt keine Einstellungen um ihrer selbst willen, keine Postkartenbilder. Alles wirkt frisch, wie neu entdeckt. Die kleinen Dinge haben hier von alleine Bedeutung. Der Alltag als großes, spannendes Schatzkästchen. Das erinnert ein bisschen an die Bücher von R.K. Narayan, dessen erster Roman ja auch von einer Gruppe von Kindern in einer Kleinstadt handelt.

Insbesondere im Zusammenhang mit den Szenen um die Festung gibt es eine sehr einfache Symbolik, der aber durch die ruhige poetische Gestaltung jede Schwere genommen wird. Der Film besteht nicht darauf, dass man während des Guckens darüber grübelt. Wirklich sehen lassen sich die Zusammenhänge erst am Ende. Denn es geht bei diesem reservierten Jungen darum, heraus aus der individuellen Festung zu kommen, sich zu öffnen, geistig selbstständig zu sein. Und plötzlich bekommt der Weg aus dem bedrohlichen Tunnel heraus ans Licht beim Besuch des Forts eine ganz andere Bedeutung. Erwachsenwerden ist hier auch das Finden des eigenen inneren Gleichgewichts, unabhängig von Äußerem. Obwohl er seine neuen Freunde, sein neues Fahrrad, den niedlichen Hund hinter sich lassen muss, wirkt er am Ende zufrieden. Der Film macht mit dem Jungen, wegen des erneuten Wegzugs aufgrund einer erneuten Versetzung der Mutter, eine Kreisbewegung, aber alles ist leicht verschoben, harmonischer. Er ist klüger, glücklicher, mehr im Einklang mit der Welt.

Dienstag, 25. August 2020

Anvita Dutts BULBBUL – Schauerromantik in Blut getränkt

 

Es ist und bleibt faszinierend. Der indische Horrorfilm will auch in den modern durchdigitalisierten Zeiten nicht von seinen brillanten Anfängen loskommen. Und die liegen bekanntlich in Kamal Amrohis Licht-und-Schatten-Meisterwerk MAHAL (1949), der zwar genau genommen bloß ein Mystery-Film ist, der aber trotzdem der Grundstein ist für ein großes Gebäude aus Filmen, die es ohne ihn so nicht geben würde. Ansonsten ist der indische Horrorfilm leider voll von meist mehr, mal weniger belanglosen Variationen der Trends und Hits aus Hollywood, ein paar Jahre lang auch der aus Südostasien. Karan Johars Produktion BHOOT: PART ONE – THE HAUNTED SHIP (2020) beispielsweise ist so tiefseegrottenschlecht, dass ich nicht mal Lust hatte, ihm einen eigenen Blogbeitrag zu widmen. Jetzt hab ich ihn mal kurz erwähnt. Und das ist fast schon zu viel der Ehre.

Anvita Dutts BULBBUL (2020) ist also im Kern echter Landhaus-Grusel mit allen Zutaten, die dazugehören. Ein Zamindar-Film mit einigen abstoßenden Hauptfiguren, wo besonders die Frauen etwas zu leiden haben. Nur dass es hier nicht die entfernte, fast vergessene Vergangenheit ist, während derer die Mauern der Gemäuer sich mit dem Leid der Opfer vollgesaugt haben und das jetzt herauströpfelt und Böses anrichtet, sondern es geschieht alles gleichzeitig in der Gegenwart der Filmhandlung Ende des 19. Jahrhunderts. Da sind der alte Palast, grausame Vorgänge, eine geheimnisvolle Frau draußen in der Wildnis. Statt der klassischen Geisterfrau, die durchs Haus oder die Umgebung streift und dabei ein ätherisch-romantisches Lied singt, ist es hier eine waschechte Dämonin, die angeblich grausame Morde begeht und immerhin noch summt statt singt. Das hat ja auch die rein praktische Wirkung, dass der Zuschauer weiß, dass sie in der Nähe ist. Das Lied, oder hier das Summen, ist gewissermaßen die Materialisierung des unheimlichen Gefühls, dass entsteht, wenn eine übersinnliche Erscheinung in der Nähe ist. Im Ganzen ist der Palast ein Hort aus Pädophilie, Perversion, Frauenmisshandlung und Vergewaltigung. Das ist eine Denunziation des Landadels, wie sie Bimal Roy, dem großen Regisseur des zweiten bedeutenden Zamindar-Geisterfilms MADHUMATI (1958), der selbst aus diesem Milieu entstammte und es dadurch verabscheuen lernte, vielleicht gefallen hätte.

Die Story ist einfach: Einer von drei Brüdern kommt nach einigen Jahren der Abwesenheit zurück ins alte Familienanwesen, wo sich alles geändert hat. Jetzt herrscht seine jungen Schwägerin Bulbbul, die vorher hilfloses Opfer war, plötzlich uneingeschränkt und unwidersprochen über alles. In einem Prolog wurde am Anfang gezeigt, wie sie als Kindbraut dorthin gekommen war. Die Gegenwart und die in Rückblenden erzählte junge Vergangenheit treffen sich dann im Höhepunkt der Geschichte. Leider sind die Andeutungen von Melodrama öde, die Gefühle sind eher aus zweiter Hand, das Geschehen bleibt einem fremd. Alles ist zunächst furchtbar korrekt. Es herrscht bloß eine unangenehme Atmosphäre vor, an der man am liebsten gar nicht teilhaben möchte. Aber wenn der Film so seinen Lauf nimmt und in Fahrt kommt, stellt man fest, dass die Regisseurin ein scharfsinniges Gespür für Quälerei und Sadismus hat, nicht nur von Männern gegen Frauen, auch von Frauen untereinander. So gibt es eine langsame Steigerung des Films, aber erst wenn er den Realismus abstreift, kommt er wirklich zu sich.

Gegen Anfang gibt es eine klassische Kutschenfahrt durch einen angeblich dämonisch verzauberten Wald, wo der Mond dunkel und blutrot scheint. Und alles ist digital dunkelrot eingefärbt und das wirkt an der Stelle fürchterlich künstlich. Und es hat auch keine atmosphärische Wirkung. Da hat bloß jemand in einem Bildbearbeitungsprogramm herumgeklickt. Aber das Interessante an BULBBUL ist, dass diese leicht nervige Masche ab einem bestimmten Punkt zur Methode wird und funktioniert. Wenn der Irrsinn und die Grausamkeit erwachen und anwachsen, wenn BULBBUL sich immer mehr von der klassischen Schauerromantik entfernt, bekommt alles Wirkung.

Das Digitale übernimmt die Vorherrschaft, so auch in einem Nachthintergrund mit Mond. Und die Einfärbungen wirken plötzlich wie die viragierten Teile eines alten und gut rekonstruierten Stummfilms. Auf die Art bekommt BULBBUL einen fast experimentellen Anstrich, der visuell angemessen auf eine apokalyptisch brennende Welt der Zerstörung zusteuert. Hatten sich die alten indischen Schwarzweißfilme vor allem durch düstere Poesie ausgezeichnet, durch eine gewisse Traurigkeit, Melancholie, wird dies hier durch apokalyptische Blutpoesie abgelöst. Und wenn das Digitale zum Prinzip wird, kann man an Coppolas brillanten Experimentalhorror-Film TWIXT (2011) denken. Schade, dass BULBBUL nicht viel früher die Kontrolle verliert.

Montag, 24. August 2020

Vidya Balan in SHAKUNTALA DEVI – Rechengenie und Mutter

Shakuntala Devi (1929-2013) war ein indisches Rechen- und Zahlengenie, das mit ihrer Fähigkeit, schneller als die frühen Computer der 50er-70er zu sein, Rekorde brach und Weltruhm erlangte. Manchmal wird auch der Ausdruck Mathegenie benutzt, aber das ist ein wenig irreführend, denn in der Mathematik als Wissenschaft geht es ja gar nicht primär ums eifache Rechnen mit Zahlen. Devi nutzte ihre Bekanntheit auch sehr einträglich als Astrologin und Autorin von Büchern, darunter auch solche für Kinder, um ihnen die Angst vor Zahlen zu nehmen. Mit dem ihr gewidmeten Film SHAKUNTALA DEVI (2020), inszeniert von Anu Menon, geht die Hindi-Biopicwelle unaufhaltsam weiter, bietet aber diesmal eine echte Überraschung.

Denn SHAKUNTALA DEVI macht mit Shakuntala Devi im Prinzip das, was Jim McBrides GREAT BALLS OF FIRE (1989) mit Jerry Lee Lewis gemacht hat. Dennis Quaid sucht nicht wirklich den realen Jerry Lee, sondern einen Mythos, wie er uns später erscheint, eine innere Essenz. Perspektive bei McBride ist die seiner jungen Ehefrau. Die 50er als großes, buntes, kindliches Knallbonbon, während hinter der öffentlichen Größe Jerry Lees ebenfalls die düstereren Seiten ausgelotet werden. So auch bei SHAKUNTALA DEVI. Es geht nicht darum, Shakuntala Devi einfach nur mit ihren Fähigkeiten und ihrem Weltruhm als große nationale Repräsentantin Indiens zu zeigen. Der Film macht von Anfang an klar, dass es um Shakuntala Devi gesehen mit den Augen der Tochter geht, und auf eine faszinierend ehrliche Weise zeigt der Film sowohl das fantastische Bild einer für Entertainment begabten großen, unabhängigen Frau als auch die egomanische, manchmal empathielose Seite dahinter. Der Blick eines zahlenbesessenen Wirbelsturmhirns auf die beschränkte Restwelt.

Der Anfang ist eine unterhaltsame Nummernrevue, die ganz einfach die Höhepunkte ihres Lebens zeigt. Ein poppig bunter Vintage-Look spiegelt die Entertainment-Seite ihres Lebens wieder. Der Film versucht hier das Tempo und die Fülle dieses Lebens angemessen wiederzugeben. Denn schon mit drei Jahren wurde ihre Fähigkeit entdeckt. Aber sie landet aus Geldmangel nicht in der modernen Bildungsmaschinerie, sondern auf der Unterhaltungs-Bühne. Angeblich war der Vater Zirkusartist, was der Film allerdings nicht erwähnt. Warum auch immer. Es geht um ihre spätere Emanzipation von der Familie, die Entwicklung ihrer totalen Unabhängigkeit. Da ist der Hass auf die Eltern, die die kranke Schwester, auch aus Geldmangel, sterben ließen. Man folgt ihrem Aufstieg, ihrem Umsiedeln nach London, wo sie nach einigen Schwierigkeiten tatsächlich Anerkennung findet. Man sieht die Schlüsselszenen, die Weltrekorde, das Rechnen gegen Computer und der Höhepunkt, als sie einem Computer einen Fehler nachweisen konnte. Und es geht um die Männer in ihrem Leben, die ihren Ansprüchen nicht genügen können. „Du brauchst mich nicht“, damit leiten zwei Männer ihren Abschied ein.

Die Eingangsszene deutet schon an, dass der Film dem Thema eine interessante zweite Perspektive abgewinnt. Denn es beginnt mit der juristischen Klage der inzwischen erwachsenen Tochter Devis gegen die Mutter wegen großer angeblich unterschlagener Summen. Die Tochter ist wütend auf die Mutter, so wie Devi wütend auf ihre war. Sie war ihrer Tochter gegenüber sehr besitzergreifend, anders als die Distanz der eigenen Mutter. Sie nimmt die Tochter aber, ohne es zu merken, nicht als eigenständigen Menschen wahr, sondern als Verlängerung ihrer selbst, deren Traum es natürlich sein muss, mit ihr um die Welt zu reisen. Die Briefe des Vaters aus Indien gibt sie nicht an das Kind weiter. Und die Frage ist: Kann jemand, der der gesellschaftlichen Normalität in eine erfolgreiche Weltkarriere entkommen ist, es akzeptieren, wenn die eigene Tochter normal leben will. So was wird dann gerne als Rückschritt betrachtet. Wenn das einst Unnormale normal geworden ist, wird das einst Normale als unnormal denunziert. Zeitsprünge und Ortswechsel machen die komplexen Beziehungen und Entsprechungen über die Generationen hinweg deutlich.

Devis Stärke ist ihre Schwäche. Alles kreist bei ihr um Zahlen. Als sie einmal ihre Tochter erklärt, warum eine bestimmte Hausnummer eine besondere Zahl ist, erklärt die ihr genervt, dass für die Mutter doch alle Zahlen besonders seien. Gleichzeitig verwandelt Devis mathematisches Hirn alles in ein Spiel. So erfindet sie die Homosexualität des Ex-Mannes, um ihr Buch zu dem Thema besser zu verkaufen. Gegenüber ihrem Mann benutzt sie Argumente der Gleichberechtigung, aber eigentlich denkt sie nur an sich. Sie ideologisiert ihre Egomanie, anstatt sie als solche einfach anzunehmen. Hinter all dem verbergen sich ganz nebenbei vielerlei Verflechtungen aus Familie, Ehe, Gesellschaft, Mutterschaft und eben der Diskussion über Normalität. Der Film hat dabei eine Offenheit, die verhindert, dass daraus schwere, belehrende, pädagogisierende Themen werden.

SHAKUNTALA DEVI ist vor allem Vidya Balans Film. Zwei Schauspielmethoden Balans charakterisieren den Bruch, der durch den Film, aber auch durch den Menschen Shakuntala Devi geht. Die Entertainment-Seite, die Gesellschaftsfrau, hat ein deutliches, aber sehr bewusstes Overacting, eine gewisse heiter-fröhliche Mechanik an sich. Aber das ist genau richtig. Es macht das Ungewöhnliche dieser Frau deutlich. Die private Seite, vor allem die Beziehung zu ihrer Tochter, ist stiller, wird psychologisiert. Balan schafft es, die vielen und auch widersprüchlichen Seiten dieser Frau zu einem Ganzen zu vereinigen. Während des Nachspanns gibt es übrigens noch eine Item-Nummer besonders für Kinder, sozusagen die Bollywood-Essenz von Devis Büchern für Kinder. Hübsch.

Samstag, 22. August 2020

GUNJAN SAXENA: THE KARGIL GIRL – G.I. Gunjan

 

GUNJAN SAXENA: THE KARGIL GIRL (2020) ist vor allem ein Film über die Verwirklichung eines scheinbar unmöglichen Traums. Von klein auf will das 1975 geborene Mädchen Gunjan Saxena Pilotin sein und fliegen. Dafür tut sie alles, aber immer wieder sind die Widerstände größer als erwartet, sodass sie wiederholt kurz davor ist aufzugeben. Bis sie bei der indischen Luftwaffe ihre Chance suchen kann. Auf diese plötzliche Möglichkeit, die sich ihr durch eine neue Rekrutierungspolitik eröffnet, macht sie ihr Vater, selbst Offizier, nicht nur aufmerksam. Der Vater an sich ist es, der sie immer wieder aufmuntert weiterzumachen, nicht aufzugeben, der sie auch vor den aggressiv-traditionellen Ansichten des Bruders beschützt. Der wahre Kern des Films ist also weniger das Militär, sondern dieses Vater-Tochter-Verhältnis, das sich später bei einem älteren, sie fördernden Offizier, im Kleinen wiederholen wird.

Und an sich wird diese Vater-Tochter-Geschichte durchaus hübsch, nett erzählt. Wenn mich nicht irgendwas irritiert hätte. Denn auch wenn die reale Gunjan Saxena selbst irgendwie an dem Projekt beteiligt war, stellt sich schon bei diesem Teil des Films die Frage, wie authentisch das alles eigentlich ist. Das ist zwar nicht unbedingt etwas, dass an sich bedeutsam sein muss, aber ich hatte beim Sehen des Films ein seltsames Deja-vu-Feeling, schob es aber zunächst auf die Tatsache, dass man solch eine Geschichte ja nicht zum ersten Mal erzählt bekommt. Aber dann wurde mir klar, dass es mich an den Malayalam-Film UJARE (2019) erinnerte, wo das spätere Säureopfer unbedingt Pilotin werden will und dabei bedingungslos von ihrem Vater unterstützt wird.

Als Saxena es dann tatsächlich in die Armee zur begehrten Ausbildung zur Hubschrauberpilotin geschafft hat, ist sie die einzige Frau dort und es wartet überall Widerstand. Mit aller Kraft macht der Film sie zur Solo-Heldin, um dann die Story in das klassische Gut-Böse-Schema zu pressen. Denn eine Heldin braucht Gegnerschaft, um sich zu beweisen. Und wie es sich gehört für einen Armeefilm, ist es besonders ihr Ausbilder, der sie terrorisiert, der ihr klarmachen will, dass sie als Frau nicht die richtige Härte für den Krieg hat.

Und ab da vergisst man lieber, dass das alles angeblich inspiriert ist von einer echten Geschichte, denn erzählt wird es so offensichtlich klischeehaft und grob holzschnittartig und nach Standard-Muster, dass man spätestens jetzt weiß, an einen ganz beliebigen Armeefilm nach Baukastenprinzip geraten zu sein. Und auch hier kann man übrigens ein Deja-vu haben. Denn am Ende rettet Saxena ihrem Ausbilder das Leben. Das erfordert nicht nur die Dramaturgie. Das gibt es zufälligerweise auch in dem thematisch verwandten US-Erfolgsfilm DIE AKTE JANE (1997) von Ridley Scott. Aber das war ein Film, der die Fiktion seiner unterhaltsam militaristisch-feministischen Phantasie ja gar nicht verleugnete. Allein der Originaltitel G.I. JANE, statt des Ausdrucks „G.I. Joe“, gab dem Ganzen etwas Allgemeines. GUNJAN SAXENA hingegen arbeitet mit dem Namen einer historischen Person.

Die indische Luftwaffe hat sich gegen ihre eigene Darstellung im Film gewehrt und einige Korrekturen veröffentlicht. Schließlich wird der Film unverschämterweise mit "A true story" beworben. Dabei ist die Frage, wie korrekt das Ganze ist, zumindest für die Betrachtung und Bewertung des Films unwichtig. Schließlich ist es ein Spielfilm. Selbst die Tatsachen, dass Gunjan Saxena in Wirklichkeit nicht die einzige neue Pilotin war, dass die Heldentat am Ende nicht stattgefunden hat, sind nicht das Problem. Dennoch hat man hier eine Chance vertan. Natürlich gab es Probleme, Reibungen, Widerstände und sicher auch genug Männer, die an sich keine Frauen in der Armee wollten, aber in GUNJAN SAXENA herrscht eine unglaubwürdige, unsubtile, ganz offene, grundsätzlich kollektive Ablehnung. Andere Fliegerinnen berichten, dass es in Wirklichkeit eher um eine unterschwellige Ablehnung ging, was sehr glaubwürdig klingt. Doch der Film greift aus purer Faulheit zur Methode der Stereotypisierung, um gegen Stereotypisierung anzukämpfen. Mit den Mitteln des Kinokassenfeminismus stereotypisiert man ganz einfach die Armee und die Soldaten an sich. Das ist kein Verbrechen, aber es produziert einen langweiligen, fürchterlich vorhersehbaren Film ohne jede Zwischentöne.

Janhvi Kapoor spielt Saxena, und voller künstlicher Emotionalisierungen haben große Teile des Publikums darauf reagiert. Auf der einen Seite totale Begeisterung, auf der anderen kühle Nepotismus-Verachtung, als wäre das ein Kriterium. Die Nepotismus-Debatte ist eine müßige Debatte, da Bollywood eine Privatindustrie ist und das Schöne daran ist, dass der Staat da keine Eingreifmöglichkeiten hat und auch nicht haben sollte. Und es wird auch schnell vergessen, dass das indische Starsystem andere Qualitäten verlangt, als allein schauspielern zu können. Und Starkids hatten schließlich eine ganze Kindheit und Jugend Zeit, sich das alles durch Zugucken anzueignen. Aber ist Janhvi Kapoor eine gute Schauspielerin. Ich weiß es nicht. Spielt Janhvi Kapoor gut in GUNJAN SAXENA? Sie funktioniert ganz ordentlich in einem nicht sonderlich guten Film. Mehr wird von ihr nicht verlangt. In Zoya Akhtars Episode aus dem Horror-Omnibusfim GHOST STORIES (2019) hat sie mir aber sehr gut gefallen. Aber das war ja auch ein guter Kurzfilm von einer guten Regisseurin. Man muss halt abwarten. Oh ja, einen Regisseur hat der Film angeblich auch: Saran Sharma. Wieder einmal hat Produzent Karan Johar einen Assistenten und Regiedebütanten verschlissen, von dem man vermutlich nicht mehr viel hören wird.

Montag, 3. August 2020

Lijo Jose Pellisserys JALLIKATTU – Hysterische Büffeljagd


Lijo Jose Pellisserys Malayalam-Film JALLIKATTU (2019), der auf dem Indischen Filmfestival Stuttgart 2020 (online) zu sehen war, ist der Film zum gleichnamigen traditionsreichen südindischen Volks- und Extremsport, wobei es schon staatliche Verbote gab und gibt, aber auch Proteste gegen diese Einschränkungen sowie regionale Erlasse, die das wilde Treiben wieder erlauben. Das Grundprinzip ist einfach: Ein indischer Bulle wird auf eine Menschenmenge losgelassen, und Ziel ist es, sich an dem Buckel festzukrallen und das Tier zum Stehen zu bringen. Das ist vor allem gefährlich für Menschen, und es hat schon viele Todesfälle gegeben. In JALLIKATTU (2019) nun ist es eine echte Jagd. Ein wild gewordener Büffel entkommt dem Schlachter und richtet erst im anliegenden Dorf und dann in den Feldern drum herum deftige  Verwüstungen an. Und irgendwie haben die Menschen große Probleme damit, ihn zu fangen und zu töten, auch weil egoistische Jagdinstinkte hervorbrechen und Besitzansprüche auf Jagdbeute geltend gemacht werden, wo es doch eigentlich nur um den Schutz des Dorfes gehen sollte.

JALLIKATTU, mit 90 Minuten ein relativ kurzer indischer Film, hat vier Teile, einen Prolog, zwei Hauptteile und und einen gezeichneten, animierten Nachspann als Epilog. Es beginnt mit einer vorwärts treibenden Montagesequenz nach dem Ticken der Uhr. Es ist morgens, Menschen werden wach. Man sieht das Schlachten eines Tieres, den Verkauf des Fleisches. Man spürt hier Pellisserys Freude am rein Formalen, auch um dessen selbst willen, am Rhythmischen, am Einfangen verschiedener Eindrücke zu einem großen Ganzen. Auch Pellisserys ANGAMALY DIARIES (2017) hat zu Beginn eine, wenn auch weit weniger komplexe, Montagesequenz vor allem aus Straßenständen und deren Zubereiten von Essen, was übrigens auf eine fast schon sadistische Art und Weise unverschämt gelungen Hunger macht.

Der Ausbruch des Büffels erfolgt ziemlich am Anfang von JALLIKATTU, sodass es schnell losgeht mit großen Zerstörungen im Dorf, auf den Felder, den Gärten. Und als das Tier erst einmal im Dschungel verschwunden ist, beginnt die richtige Jagd: ungeordnet, dilettantisch, chaotisch, aber auch spannend und intensiv. Doch die Menschen haben, auch durch staatliche Verbote, verlernt gezielt zu jagen. Die Jagd wird ekstatischer, kultartiger, auch versoffener, mit Rowdys aus dem Nachbardorf, sodass es auch zu einem Wettbewerb wird. Immer mehr Männer beteiligen sich, der Jagdinstinkt bricht aus und greift um sich. Es wird alles immer schneller, wilder. Dann fängt der Büffel sich selbst und fällt in einen großen, tiefen, verschlammten Brunnen.

Regisseur Pellissery zeigt vor allem in der ersten Hälfte des Films seine allgemeinen Qualitäten. JALIKATTU ist auch das Porträt eines Dorfkollektivs, so wie der Vorgängerfilm EE.MA.YAU. (2018), der vermutlich Pellisserys bisher bester Film ist und vom Ritual der Beerdigung und seinen belastenden finanziellen und sozialen Anforderungen handelt: Ein Sohn, der im betrunkenen Gespräch mit seinem Vater diesem eine königliche Beerdigung verspricht, verliert den Verstand, als der Vater plötzlich an einem Herzinfarkt stirbt und er sich an sein Versprechen gebunden fühlt, obwohl er sowieso schon genug Geldsorgen hat. Außerdem zeigt JALLIKATTU Pellisserys formale Qualitäten, die man schon in einem sehr frühen Werk wie CITY OF GOD (2011) deutlich sehen kann. An sich ist dieses Krimi-Melodram zwar bloß ein dramaturgisch-künstlerisch etwas bemühter Masala-Film über mehrere Menschen, um Wanderarbeiter, einen Regisseur, eine Schauspielerin, Gangster, Kapitalisten, kurz, ein Stadtporträt von Mumbai. Was Pellissery aber gelingt, ist, dieser künstlichen Story Authentizität zu verleihen, auch wenn es manchmal zu viel des Guten ist, wie die Kamera versucht, direkter, distanzloser Teilnehmer von gewalttätigen Auseinandersetzungen zu sein. Denn Pellissery hat auch eine ziemliche Vorliebe für Hysterie, für Testosteron-Energie, für Dauer-Adrenalin, nicht bloß beim Zuschauer, sondern vor allem bei den Figuren im Film selbst.

Und gerade in JALLIKATTU kommt diese Seite Pellisserys zum Tragen, hier in Form von echter Massenhysterie. Denn im zweiten Teil wird das Tier lebendig aus dem Brunnen gehievt, kommt wieder frei und alles gerät völlig außer Kontrolle. Und ab hier wird der Film zum Selbstzweck, ergötzt sich einfach an dem, was er zeigt. Die Menschen verlieren die Kontrolle, gehen aufeinander los und schreien sich pausenlos an. Pausenlos. Es gibt Streit um Vorrechte, Streit um Teil an der Beute, Streit an sich. Formal und visuell ist das alles aber sehr brillant. Der Film enthält beispielsweise großartige Bilder von der Nacht, mit Massen, die mit Fackeln, mit Laternen, mit Taschenlampen durch den dunklen Wald jagen. Das Problem ist bloß, dass all das auf Dauer einfach auf die Nerven geht. Da löst sich auch das möglicherweise angeführte Argument der kritischen, filmischen Darstellung dieses Verhaltens, wo der Mensch zum verstandeslosen Jagd-Tier wird und sich von seiner Beute nicht mehr unterscheidet, in Luft auf, denn als echtes Adrenalin-Powerkino ist JALLIKATTU viel zu sehr ein faszinierter Teil all dessen, zeigt und filmt es ohne jede Distanz.

Und daher wirkt auch der gesamte Schluss eher prätentiös als intelligent. Denn am Ende wird der Film surreal, und es bildet sich über dem toten Büffel ein großer Menschenhaufen, alle gierig auf ein Stück der Beute. Das ist auch der Übergang zum animierten Epilog, der ein bisschen überdeutlich Bedeutung liefert, anstatt im Vagen, Ambivalenten zu bleiben. Es gibt Bilder aus Steinzeithöhlen und einen Nachspann mit Steinzeitmenschen. Zu diesem überflüssigen Evolutionsquark kann man nur bedauernd sagen, dass es schade ist, denn es ist unübersehbar, was für ein ausgezeichneter und intelligenter Regisseur Pellissery ist. Er sollte nur darauf verzichten, intelligenter – im Komparativ – sein zu wollen. Seine Virtuosität hat er mit JALLIKATTU aber unbestreitbar unter Beweis gestellt.


(Quelle: Indisches Filmfestival Stuttgart)