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Samstag, 31. Oktober 2020

Hansal Mehtas OMERTÀ – Der Sadismus des Terroristen

Hansal Mehtas OMERTÀ (2017) ist eine Art Gegenstück zu seinem vier Jahre vorher entstandenen SHAHID (2013). Beide Filme beruhen auf Tatsachen, sind frei biografisch, und in beiden Filmen spielt Rajkummar Rao die zentrale Hauptrolle. Ging es aber in SHAHID um unschuldig des Terrorismus Angeklagte, die trotz fehlender Beweise oft jahrelang im Gefängnis sitzen, befasst sich OMERTÀ mit der echten Ware. Im Mittelpunkt steht der Aufstieg einer zentralen Figur des internationalen Terrors, des Briten Omar Saeed Sheikh, eines Gewaltverbrechers voller Fanatismus und Sadismus. Mehta liefert hier, wie in SHAHID, eine dramaturgisch verdichtete Interpretation der Ereignisse, die sich nicht zurückhält in ihrer ungeschminkten Porträtierung. Und es geht um mehr. In den immerhin nur 100 Minuten langen Film werden mehrere Dinge gleichzeitig erzählt, die sich überschneiden, ergänzen, ineinander übergehen. Und so ist OMERTÀ ein sehr reicher, dicht inszenierter, sowohl spannender als auch aufschlussreicher Film, der sich nicht mit der Außenperspektive einer rein biografischen Erzählung zufrieden gibt.

Zunächst einmal geht es um die Radikalisierung eines jungen Briten, der sich auf fast schon masochistische Art und Weise mit Schreckensbildern von serbischen Massakern an Bosniern aus dem Jugoslawienkrieg selbst radikalisiert. Nachgeholfen wird vom Imam in der heimischen Moschee, was daran erinnert, dass man immer wachsam sein muss. Und so beginnt die Terrorkarriere, von der Ausbildung hin zur Praxis. Bemerkenswert ist das gute Funktionieren des internationalen Netzwerks des Terrors.

Aber OMERTÀ ist auch eine Erfolgsgeschichte, eine echte „success story“. Man sieht Omar in seiner ersten großen Aktion, der Entführung von Amerikanern in Neu-Delhi, in dessen reges Straßenleben er sich chamäleongleich einfügt. Mit kaltblütigem Charme macht er sich Freunde bei dummen, vertrauens- und bierseligen Westlern, die auf ein bisschen Nettigkeit hereinfallen. Es folgt seine Verhaftung und die Freipressung aus dem Gefängnis nach einer Flugzeugentführung. Dann ist Omar beteiligt an der Entführung des Journalisten Daniel Pearl, den er eigenhändig köpft. Vollendet ist der Aufstieg in Pakistan. Eine zünftige Heirat folgt. Und plötzlich ist er bürgerlich arriviert, da, wo er hergekommen ist. Das ist es, was er wollte. An die Spitze des Terrors. Fast noch mehr als islamischer Terrorist, ist er ein bourgeoiser Karrierist.

OMERTA ist eben auch das subtile Porträt eines Machtgierigen, eines Gestörten, eines Sadisten. Da gibt es zwei sehr aufschlussreiche Szenen. Einmal das Verprügeln eines Terroristen-Kollegen, der sich über den verwöhnten britischen Mittelklasse-Bubi lustig macht. Um Omars Lippen spielt hinterher ein befriedigtes, zufriedenes Lächeln. Und dann die Ermordung und das Köpfen von Daniel Pearl in reiner Ekstase, das wieder dieses glückliche, direkt erotisch aufgeladene sadistische Lächeln erzeugt. Mehta erfasst das Wesen des Terroristen und seiner zwangsläufigen Entmenschlichung und inneren Leere. Es gibt auch Archivaufnahmen des echten Omar Sheikh. Rajkummar Rao hat es gut studiert, dieses perverse, gottverlassene Lächeln. Rao erfasst Omar überhaupt ausgezeichnet in seiner Doppelgesichtigkeit, dem scheinbaren Charme und der totalen inneren Kälte, die dieser sich bewusst erarbeitet hat.

OMERTÀ ist nebenbei auch das Porträt eines Staates, dem man besser nicht über den Weg traut. Pakistans Geheimdienst ISI ist in OMERTÀ an allem beteiligt, was in der Region passiert. Sie können Omar als gebildeten Briten gut gebrauchen, auch als Symbolfigur. 2020 wurde übrigens die Verurteilung wegen Mordes gegen Omar Sheikh und seine Gehilfen durch den pakistanischen Supreme Court wieder rückgängig gemacht. Die Berufung läuft aber noch.

Freitag, 30. Oktober 2020

PUTHAM PUDHU KAALAI – Echte Lockdown-Wunder

 

Ein Episoden-Film zum Thema Corona-Lockdown, da kann spontan erst mal so manche Befürchtung aufkommen. Aber der schöne Film PUTHAM PUDHU KAALAI, ein tamilischer Amazon-Prime-Originalfilm, vermeidet konsequent und erfolgreich jede politische, soziale, ökonomische und medizinische Diskussion zu dem Thema. Er zeigt auch keine Menschen in Angst und Furcht und Panik vor einem Killervirus. Er zeigt den Lockdown eher als eine Art von der Regierung verordnete Naturkatastrophe, der man sich gezwungenermaßen und ohne Widerstand beugt, über deren Sinn oder Unsinn aber gar nicht diskutiert wird. Wie angenehm anzugucken, wo im echten Leben doch nur die totale Zurückgezogenheit die einzige sichere Gewähr dafür ist, nicht ständig über Corona reden oder etwas darüber hören zu müssen.

Nun ist es ja an sich immer ein bisschen schwer, Episodenfilme zu mögen, selbst wenn die besten Regisseure beteiligt sind. Das übergreifende Thema kann sehr allgemein, sehr abstrakt sein wie etwa eine bestimmte Stadt oder ein Gefühl. Die einzelnen Kurzfilme sind folglich oft in ihrem Stil, ihrer Haltung, auch ihrer Qualität so unterschiedlich, dass es sich schnell mühselig anfühlen kann, sich ständig auf Neues einzulassen. Doch dieser tamilische Film ist ganz anders, weil der Ort der Handlung und die Stimmung jeweils sehr ähnlich sind, so dass es keine extremen Brüche zwischen den Teilen gibt. Da ist also ein echter Zusammenhang. Man wird nicht aus dem Konzept, aus den Emotionen heraus transportiert.

In vier der fünf Filme – der fünfte fällt amüsant-angenehm aus dem Rahmen – geht es um eine Wiederannäherung von Menschen, die sich im Trubel des Alltags fremd geworden sind oder aus den Augen verloren haben. Der Lockdown schleudert sie aus dem Trott, setzt das Leben auf Pause, der Zwang der Lage kann zu einer neuen Perspektive führen. Es gibt ein begrenztes Personal, zwei bis fünf Hauptfiguren, viel Dialog. Die Geschichten spielen in einem Haus, gehobene Mittelklasse mit genug Raum. Lockdown in einer kleinen Wohnung in einem Chawl oder in einem Slum sieht natürlich anders und beengter aus. Die Örtlichkeiten in PUTHAM PUDHU KAALAI sind ganz einfach die Voraussetzung für das Versöhnliche, realistisch Wunderbare, das den Kern der Storys ausmacht.

Und so setzt der Film gegen das ganze vielleicht von der Krankheit, vielleicht aber auch bloß von ihren Verwaltern angerichtete Elend einen schönen Kontrapunkt, den man einfach mögen muss. Man könnte aus diesen Stoffen überlang gedehnte Feelgood-Filme machen. Aber als höchstens 30-minütige, präzise erzählte Kurzfilme funktioniert das alles ausgezeichnet. Und es ist, ebenfalls ganz im Gegensatz zu anderen Episodenfilmen, praktisch unmöglich, einen Lieblingsbeitrag auszuwählen. Denn irgendwie gehören sie alle zusammen. Das alles ist einfach schön. Es ist heiter, rührend, bezaubernd und gleichzeitig sehr natürlich und ungekünstelt.

Es beginnt mit „Ilamai Idho Idho“ von Sudha Kongara, ein verspielter Film über die Liebe an sich. Die Hauptfiguren sind zwei Verwitwete, aber Liebe macht bekanntlich in jedem Alter jung, also sehen wir auch einen Teil des Films einfach junge Menschen, eben so, wie die beiden sich fühlen. Gibt es Probleme, dringt die Wirklichkeit hinein, und sie sind wieder ihr biologisches Selbst, ein älterer Mann und eine ältere Frau. In Gautham Vasudev Menons „Avarum Naanum – Avalum Naanum“ kommen sich Großvater und Enkelin generationsübergreifend näher. Sie begreift langsam den wahren Grund für die Entfremdung zwischen Mutter und Großvater. Am Ende gibt es eine musikalische Versöhnung. „Coffee, Anyone?“ ist von Suhasini Maniratnam, der Ehefrau von Mani Ratnam, der mitgeschrieben hat. Aus dessen Sicht ist es eine Fortsetzung des Themas seines großartigen Films über Jugend und Altwerden O KADHAL KANMANI (2015). Ein alter Mann holt, gegen den Widerstand seiner Töchter, seine im Koma liegende Ehefrau zu sich nach Hause. Er will sie nicht mehr leiden sehen. Ganz automatisch weint man sich bei der scheinbar Bewusstlosen aus. Und auch hier geschieht ein Wunder. Hierin ein Plädoyer gegen seelenlose moderne Lebenerhaltungsmedizin zu sehen, wäre übertrieben, aber es ist zumindest eins gegen den blinden Glauben daran.

In den letzten beiden Filmen spielt Kokain eine kleine Nebenrolle. In „Reunion“ von Rajiv Menon sehen sich alte Schulfreunde wieder, ein mit der Mutter lebender junger Arzt und eine Barsängerin, die dort mitten im Lockdown zufällig gestrandet ist. Problematisch wird es, als ihr der Drogenvorrat ausgeht. Diese Episode ist zurückhaltend, lässt am Ende aber die Chance auf ein Wunder. Vorausgesetzt die Protagonisten greifen zu. Als hätte Gottes Hand zusammengeführt, was zusammengehört. Nur die letzte Episode „Miracle“ von Karthik Subbaraj ist ganz anderes mit seiner exzentrischen Gangsterthematik, bildet aber einen schönen Schlussgag. Zwei kleine Ganoven sind auf Beutejagd gegen den drohenden Hunger. Und wie die dänische Olsenbande entgeht ihnen der große Coup. Aber am Ende gibt es einen überglücklichen Filmregisseur, praktisch wiederauferstanden von den Toten. Noch ein echtes Wunder.

Dienstag, 27. Oktober 2020

J.P. Duttas PALTAN – Grenzkampf im Niemandsland

Im Mai und Juni 2020 kam es zu, im wörtlichsten Sinne, handgreiflichen Grenzstreitigkeiten zwischen China und Indien in Ladakh in Kaschmir und weiter südlich in Sikkim. Die Auseinandersetzungen in Ladakh führten zu schweren Verletzungen bei indischen Soldaten, ohne dass ein Schuss abgefeuert wurde. 20 von ihnen starben schließlich. Vermutlich wurde mit Steinen geworfen und geprügelt bis zum Totschlag. Die chinesische Seite gab keine Zahlen über Verletzte und Tote an die Öffentlichkeit. Wenn sich also in J.P. Duttas Hindi-Film PALTAN (2018) chinesische und indische Soldaten über eine primitive Grenzmarkierung hinweg prügeln und mit vom Boden aufgesammelten dicken Steinbrocken bewerfen, dann ist das nicht einfach bloß eine historische Szene von 1967, sondern es hat aktuelle, ganz allgemeine Bedeutung, auch wenn der Film zwei Jahre vorher entstanden ist. An der Grenze brodelt es ständig.

PALTAN ist an sich ein Kommentar zum Verhältnis der beiden Länder. Regisseur Dutta sagte: „PALTAN enthält alles, was ich über die indisch-chinesischen Beziehungen sagen wollte.“ Bei diesen Grenzstreitigkeiten geht es im Kern darum, dass China die alten Kolonialgrenzen nicht anerkennen will. Und heutzutage geht es auch um die expansive Strategie Chinas, die nicht nur in Indien als „Schuldenfallenpolitik“ kritisiert wird, und womit China sich überall einkauft, wo es geht und Länder von sich abhängig macht. Wie übrigens auch in Griechenland oder Bulgarien. Es gibt Grund genug, sich ein Beispiel an Indien zu nehmen und gegenüber Chinas „Belt and Road Initiative“ großes Misstrauen zu haben.

CIA-Karte: Shows southern part of China and northern part of India. Border disputes marked. (Wikimedia Commons)
 
Nach der Unabhängigkeit waren die Beziehungen beider Länder eigentlich positiv. Die Verschlechterung setzte mit dem indischen Asyl für den Dalai Lama im Jahre 1959 und der Veränderung im chinesisch-sowjetischen Verhältnis ein. Der erste Krieg zwischen China und Indien begann dann 1962 mit einem für Indien überraschenden und massiven Überfall, der viele indische Soldaten das Leben kostete. Ein hinterhältiger Überfall, aber die Inder waren auch in gutgläubiger Weise nicht vorbereitet. Die naive Politik des Vertrauens auf den Friedenswillen des Nachbarn, mit dem man brüderlich in Frieden leben wollte, war also vorbei. Chetan Anand machte aus diesem Trauma mit HAQEEQAT (1964) einen seiner besten Filme. 1967 schien sich Ähnliches in Sikkim zu wiederholen. In Nathu La kam es im September zu mehrtägigen kriegerischen Handlungen. Aber diesmal waren die Inder strategisch und moralisch besser vorbereitet und entschieden die Kämpfe für sich. PALTAN ist eine Interpretation dieser Ereignisse aus indischer Sicht. Geschildert wird der Krieg von 1967 ganz bewusst auch als Vergeltung für die Hinterhältigkeit von 1962. Man kann es also durchaus patriotische Propaganda nennen. Das fängt schon bei den Gesichtern an. Die chinesischen Soldaten sind ständig wütend und aggressiv, hassverzerrt. Die indischen Soldaten gucken wie normale Menschen.

Auch wenn man die vielen negativen Kritiken nicht teilt, muss man zugestehen, dass PALTAN zwischendurch tatsächlich ein zwiespältiges Erlebnis ist. So sind beispielsweise die Rückblenden der einzelnen Soldaten auf das Leben zu Hause eine erhebliche Schwachstelle und wirken eher wie lebendige Postkarten, die einen nicht wirklich berühren. Wenn man die Soldaten auf ein zerknittertes schwarzweißes Foto von Frau, Kindern, Familie gucken sieht, ist das weitaus bewegender. Auch das Zusammenleben der Soldaten wirkt manchmal etwas hölzern, aber im Endeffekt überwiegen doch die positiven Elemente.

PALTAN beginnt gleich beeindruckend mit zwei ausgezeichneten Szenen, die das Jahr 1962 prologartig zusammenfassen. Es beginnt mit einem blutigen Massaker der chinesischen Kommunisten an indischen Soldaten. Als Nächstes sieht man einen Briefträger, der sich mit dem Fahrrad durch die Straße eines Dorfes bewegt und bei einer Familie nach der anderen ein Telegramm abliefert, worauf dann hinter den hohen Mauern das große Klagen beginnt, ohne dass man irgendetwas sieht. Es wäre besser gewesen, diesen elliptischen, zurückhaltenden Stil auch weiter beizubehalten, dann wären da beispielsweise nicht die erwähnten Postkartenszenen, die natürlich auch einen Gegensatz bilden sollen zu der öden, kargen Berglandschaft, wo es nichts als Sand und Steine gibt. Das Beste aber an PALTAN ist, wie detailliert die Entwicklung dieses Grenzkonflikts gezeigt wird, aber vielleicht muss man sich für die Feinheiten internationaler Politik und des Militärs interessieren, um das alles mächtig spannend und interessant zu finden. Aber es ist Dutta anzurechnen, dass er diese kleinen Einzelheiten, die langsame Eskalation, nicht vereinfacht.

Indien-China, das ist für J.P. Dutta vor allem eine Auseinandersetzung zweier Mentalitäten. Auf der einen Seite steht eine maoistische Politik der Provokation und Hinterhältigkeit, der die Inder mit ihrem direkteren Denken und Zugang zunächst nichts entgegenzusetzen haben. Dann kommt ein neuer befehlshabender Offizier, gespielt von Arjun Rampal, der in England war und vom britischen Militär Taktik gelernt hat. Und er hat die Unterstützung des zuständigen Generals. Die Strategie lautet von nun an, schlauer zu werden, auch so unverschämt zu sein wie der Gegner. Die maoistische Terrortaktik geht von der ständigen Verstörung des Gegners aus, also muss man die Chinesen selbst aus der Fassung bringen. Das zerstört ihre Sicherheit, die oft nur eine künstliche Maske ist. Wenn die Chinesen in einem Scheinangriff auf die Grenze zustürmen, wo sie dann stehenbleiben, dann macht man eben auch mal dasselbe. Die Chinesen errichten einen Bunker, heben einen Schützengraben auf indischem Gebiet aus? Dann muss eben ein Zaun errichtet werden. Und so werden all die kleinen Eskalations-Schritte bis zur unvermeidlichen Auseinandersetzung gezeigt. Der Film endet dann, wie er angefangen hat, mit einer dramaturgisch verdichteten Schlacht mit vielen Toten. Im Ganzen also für etwa 150 Minuten gar nicht so viel Action. Aber genau da liegt ja, trotz der Schwächen, die Stärke des Films.


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Samstag, 24. Oktober 2020

Nawazuddin Siddiqui in RAAT AKELI HAI – Es ist eine grausame Welt

 

Honey Trehans RAAT AKELI HAI (2020), nach einem Drehbuch von Smita Singh, beginnt, wie zur Illustration des Filmtitels "Die Nacht ist einsam", sehr düster, sehr brutal und sehr rätselhaft mit einem ganz offensichtlich gut geplanten Doppelmord in dunkler Nacht auf einsamer Landstraße irgendwo im Niemandsland Nordindiens, im Bundesstaat Uttar Pradesh. So wie der polizeiliche Ermittler dieses Hindi-Films sich später den Weg durch das Gestrüpp aus Fährten, Vermutungen und Indizien erkämpfen muss, durchschneiden in einer eröffnenden weiten Totalen die Scheinwerfer eines kleinen Autos das dichte Dunkel der Nacht. 

Nur dass die Aufdeckung der Wahrheit hier noch gestoppt werden kann, zumindest für die nächsten fünf Jahre. Denn nach einem provozierten Autounfall werden zwei Kehle aufgeschlitzt und die Leichen vor dem Verscharren mit Säure unkenntlich gemacht. Dieser grausame Prolog legt die atmosphärische Grundlage des Films und liefert zusätzlich einen gewissen Wissensvorsprung für den Zuschauer, der in der zweiten Hälfte des Films wichtig wird. Dadurch verliert man sich nicht zu sehr in dem großen Rätsel und kann die Geschichte auch unter anderen Blickwinkeln betrachten.

Es gibt in RAAT AKELI HAI eine Reihe solcher düsterer Thriller-Elemente, also das, was man alles heutzutage in einer fürchterlich unklaren Begriffsexpansion „Noir“ nennt. Wie beispielsweise bei „Nordic Noir“. Aber trotz dieser „Noir“-Elemente geht es nach dem Vergangenheits-Prolog erst einmal in eine ganz andere Richtung. Der Zuschauer befindet sich plötzlich mitten in einem klassischen Whodunit, in einer Geschichte mit der einfachen Frage: Wer ist der Mörder?

Ein Polizist wird an einen Tatort in einem großen palastartigen Haus gerufen. Die Dekorationen einer Hochzeitsfeier werden gerade abgebaut. Auf seinem Bett liegt tot und mit eingeschlagenem Gesicht das Familienoberhaupt, das soeben seine viel jüngere jahrelange Geliebte geheiratet hat, da er in die Politik wollte. Die ist jetzt die vielgehasste Erbin. Jeder aus der großen Familie ist verdächtig. Nach und nach tauchen Motive und Beziehungen der Personen untereinander auf. Das alles könnte im Kern ein Krimi von Agatha Christie sein. Der sture ermittelnde Polizist, der unbedingt die Wahrheit finden will und sich von nichts davon abhalten lässt, hat etwas von einem Byomkesh Bakshi in Uniform, um lieber ein Beispiel aus der indischen Tradition zu wählen.

RAAT AKELI HAI bedient sich auch bei klassischen Verschwörungs-Standards. Polizeichef, Politiker, in so einem Film müssen die einfach irgendwie mit in das Böse verwickelt sein. Und die Atmosphäre des großen Palastes, die Untaten eines bösen, autoritären Familienoberhauptes an wehrlosen Frauen, zusätzlich ein geheimnisvolles Landhaus, all das erinnert dann auch wieder an die Zutaten des klassischen indischen Mystery-Films, in dem die unnatürlich Verstorbenen ständig präsent sind. So zieht die fließend und zurückhaltend erzählte Geschichte langsam immer größere Kreise wie eine sich ausdehnende kleine Welle in einem Teich.

RAAT AKELI HAI ist bemerkenswert wegen seiner ganz natürlich wirkenden Stil- und Erzählsicherheit. Die rauen Actionszenen werden ohne künstliche Effekte eingebunden, wobei der Film allerdings trotz der Eingangssequenz wenig explizite Gewalt enthält und es eher die allgemeine Atmosphäre der Gewalt und der Unterdrückung ist, um die es hier geht. Es gibt keine Anpassung an die vielen kleinen Bildschirme, auf denen ein Netflix-Film geguckt wird. RAAT AKELI HAI ist eigentlich ein echter Kinofilm, den man gerne auf der großen Leinwand entdeckt hätte. Das Gesamtergebnis ist bemerkenswert für einen Debütregisseur, der allerdings seit fünfzehn Jahren als Casting Director arbeitet, darunter bei einer ganzen Reihe von brillanten Filmen, und der auch schon Second-Unit-Regiearbeiten für Vishal Bhardwaj oder Abhishek Caubey erledigt hat. Und bekanntlich ist Casting ja die halbe Miete. Honey Trehan hatte da besonders bei den beiden Hauptrollen einen untrüglichen Riecher und wählte Nawazuddin Siddiqui als moralischen Ermittler und Radhika Apte als zunächst abweisende, aber innerlich sehr emotionale und traurig resignierte Geliebte.

Eine leicht komödiantische Entspannung bieten die Auseinandersetzungen zwischen Ermittler und seiner Mutter, die ihn endlich verheiraten will, auch wenn er aus dem heiratsfähigen Alter schon heraus ist, wie sie sagt. Sie läuft mit seinem Foto herum, zeigt es ledigen jungen Damen. „Zu dunkel“ ist eine der Antworten. Er benutzt daher heimlich Hautaufheller, will aber als nicht idealer Bräutigam die ideale Frau, was natürlich eine nicht aufgehende Gleichung ist. Seine Mama weiß das.

Dieses Mutter-Sohn-Geplänkel dient aber zu mehr als dem privaten Kennenlernen der Hauptfigur. Es bildet den Rahmen für die allgemeine Thematik, die des Patriarchats. Das ist sowohl ein reales Problem in Indien, aber auch ein bisschen ein Modethema, bei dem man vorsichtig sein muss und wo man sich das große Ganze angucken sollte. Totalitäre Frauenherrschaft im Politischen oder Privaten ist schließlich auch nicht beglückender. Man schaue sich bei uns hier im Westen nur das eindeutig psychopathisch gepolte Gender-Matriarchat an. Es sollte eher ganz allgemein um Herrschaft an sich gehen. Aber man muss RAAT AKELI HAI zugestehen, dass hier alles andere als billige und einfache Patriarchats-Kritik geliefert wird. Denn gezeigt werden Patriarchat und Matriarchat in stiller und mörderischer Eintracht vereint, sofort bereit, die Töchter für die Söhne zu opfern.

Dienstag, 20. Oktober 2020

Hansal Mehtas SHAHID – Die Beschleunigung der Justiz

 

Hansal Mehtas auf Tatsachen beruhender Hindi-Film SHAHID (2013) beginnt mit einem Mord, den man nicht sieht, sondern nur hört. Der Mord an einem offensichtlich Ahnungslosen, der seine Mörder gerade noch freundlich hineingebeten hat. Kurz danach fallen Schüsse. Am Ende des Films, als dieser Augenblick wiederholt wird, sieht man die Mörder nur als verschwommene Schemen.

Dass dieser Mord im Jahre 2010 an dem Anwalt Shahid Azmi einer mit Ansage war, davon handelt SHAHID auch. Denn ernst zu nehmende Drohungen gegen ihn hatte es schon lange gegeben. Und alles im Prinzip nur, weil Shahid seine Arbeit als Anwalt korrekt ausführt, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen ohne Zynismus, ohne aufs Geld zu schielen, ohne die Verdrehung von Tatsachen und Beweisen, ohne manipulierte Zeugen. Er verteidigt bevorzugt Menschen, gegen die es keine ausreichenden Beweise gibt und die daher als unschuldig zu gelten haben.

SHAHID schildert ein Land mit einem an sich absolut funktionierenden Rechtssystem, das aber einerseits zu langsam arbeitet und wo andererseits in gewissen Fällen Teile der Bevölkerung und auch des Staatsapparates nicht der Meinung sind, dass die Prinzipien des Rechtsstaates konsequent Anwendung finden sollten. Das gilt vor allem für die Anti-Terror-Gesetze. Und viele von Shahids Klienten sind nun einmal individuelle Kollateralschäden der Anti-Terror-Ermittlungen und sich daraus ergebender Verhaftungen. Mit seinen erreichten Freisprüchen blamiert er ein unter Druck stehendes Ermittlungs- und Anklagesystem, das zur Not auch manipuliert. SHAHID demonstriert dies anschaulich anhand von zwei beispielhaften, dramaturgisch verdichteten Fällen. Ungemütlich für Shahid wird es besonders, als er Angeklagte der schlimmen islamischen Terrorattentate von 2006 verteidigt.

SHAHID beruht auf gründlichen Recherchen, wobei auch mit der Familie gesprochen wurde. Shahid Azmi macht das, was ihm richtig erscheint, ein bisschen auch, als könnte er die eigenen Wunden damit heilen. Denn er hat genug eigene Erfahrungen. Als junger Mann mit Brüdern und Mutter übersteht er 1992 schwere anti-islamische Ausschreitungen. Danach sieht man ihn in einem Ausbildungslager von Kaschmir-Terroristen. Aber dort ist er nur kurz, denn daraus flieht er, als er anschaulich den wahren Kopf-ab-Sadismus dieser Menschen vorgeführt bekommt. Aber die Spur seiner Verbindung verschwindet nicht und wegen einer Telefonnummer auf dem Handy eines Terroristen kommt er ins Gefängnis. Dort gerät der leicht naive junge Mann fast an die Dschihad-Rattenfänger, die Nachwuchs und Neuzugänge mit schönen, sanften Worten und geschliffener Rhetorik für später rekrutieren. Davor wird er bewahrt von zwei Helfern, einem Professor und einem unschuldig eingesperrten Mann, die ihn ermuntern weiter zu lernen und zu studieren. Und tatsächlich schafft er es, wieder draußen und als unschuldig rehabilitiert, Anwalt zu werden.

Rajkummar Rao, der hier seine große Durchbruchsrolle hatte, macht bis zum Schluss keinen Helden aus Shahid. Am Anfang wirkt er bloß wie ein verwirrter großer Junge, der auf naive Weise wütend wird und dies fast in Terrorismus kanalisiert hätte. Aber eine gewisse Getriebenheit bleibt, und die nutzt er für seine Arbeit. Das Justizsystem ist zu langsam? Er beschleunigt es mit unbestechlicher Logik. Er bringt Tempo, Energie, Ungeduld und Empörung in diese träge, manchmal auch bewusst träge, Ermittlungsbürokratie. Seine besondere Art kann privat aber ebenso unerwartet, direkt verstörend auf die Menschen in seiner Umgebung wirken. Einen Heiratsantrag stellt er ganz unvermittelt in einer nicht sehr gepflegten Lokalität. Er bekommt jede Hilfe seiner traditionellen Familie, verschweigt aber die Heirat mit einer modernen, geschiedenen jungen Frau. Aber im Endeffekt ist ihm die Arbeit immer wichtiger als das Persönliche. Er kann nicht aufhören, und Rao spielt dies eher als unaufhörliche innerlich notwendige Zwangshandlung denn als irgendwie bewussten Heroismus.

Diese Darstellung der Figur Shahid passt zu dem sehr improvisiert gedrehten Film mit seinem rauen Stil und der alles andere als gelackten, einheitlichen Lichtsetzung. SHAHID ist ein sehr angespannter Film, ruhelos, mit leichter Nervosität, ohne jedoch hektisch zu sein. Die Lebensstationen gehen ziemlich eilig ineinander über und es gibt mit intensivierter Dramatik eine Konzentration auf das Wesentliche. Die Kamera ist beweglich, anpassungsfähig. Kleine, kaum merkbare Jump Cuts in derselben Einstellung, mal ein Stück näher, dann ein Stück weiter, sorgen für eine gedankliche Fragmentierung, obwohl alles zeitlich chronologisch erzählt wird. Zu Recht hat Editor Apurva Asrani Drehbuch-Credits bekommen, denn tatsächlich trägt diese Erzählweise mit ihrem regelmäßigen, aber unaufhörlich pulsierenden Rhythmus, unerhört viel zu Inhalt und Atmosphäre bei.