Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 31. Dezember 2020

AK VS AK – Anil Kapoor gegen Anurag Kashyap

 

Nachdem Hindi-Superstar Anil Kapoor auf einem Laptop-Bildschirm sehen musste, wie seiner entführten Tochter Sonam Kapoor ein Finger abgeschnitten wurde, stürzt er sich auf den Entführer, den Hindi-Regisseur Anurag Kashyap, und sie prügeln sich heftig, wobei der Weihnachtsbaum und ein Teil der Zimmereinrichtung plattgemacht werden. Das hat natürlich eine Vorgeschichte. Alles fing damit an, dass Kashyap während einer hitzigen TV-Talkshow Kapoor ein Glas Wasser ins Gesicht kippte und dann ein Opfer der von Medien beherrschten Cancel Culture wurde. Niemand wollte mehr mit ihm arbeiten. Seine Karriere war vorbei. Der rettende Gedanke: Kapoors Tochter entführen und den Star zwingen, in einem Reality-Bollywood-Thriller mitzuwirken, in dem er seine Tochter finden und retten soll. Und natürlich ist das alles reine Fiktion und die Netflix-Produktion AK VS AK (2020) ist nicht einmal von Kashyap, denn Regie führte Vikramaditya Motwane, der mit Avinash Sampath das Drehbuch geschrieben hat.

So beginnt die Story zunächst wie eine Komödie im Stil der Sitcoms, in denen jemand eine fiktive, übersteigerte, leicht irre Version von sich selbst spielt, so wie in SEINFELD, PASTEWKA oder der dänischen Serie KLOVN. Dazu kommen noch viele berühmte Leute, aber nichts davon ist echt außer der Fassade. Es ist eine Mediensatire, eine Ironisierung, Selbstironisierung des Bildes, das die Öffentlichkeit hat und sich macht. Das zieht sich durch den ganzen Film, auch noch, wenn er wilder wird. Die beiden Protagonisten beschimpfen sich. Anurag ist nachtragend und immer noch böse, weil Anil ihm vor 17 Jahren eine Absage für einen Film gab. Anil Kapoor sei ein alter Mann und kein Hero-Material mehr. Aber da zumindest die Dialoge des Films übrigens doch von Kashyap selbst sind, lässt er keine Gelegenheit aus, sich selbst zu veralbern. Er ist der Regisseur, der nie einen Hit hatte, der auf den Salman-Khan-Erfolg DABANGG angesprochen wird, der aber doch von seinem Bruder ist. Der Spott über die gescheiterte Ehen. Die Unbekanntheit bei der Masse. Anurag? Anurag wer? Anurag Basu?

Als Anil Kapoor merkt, dass tatsächlich etwas nicht stimmt und Tochter Sonam wirklich verschwunden ist und Kashyap ihr Handy hat, macht er sich auf die Suche. Aber der Star in ihm behindert leider den suchenden Vater, den einfachen Menschen. Ständig muss er seine Nachforschungen unterbrechen, sich fotografieren lassen, einen Tanz aufführen. Da gibt es die wunderbare Szene, wo er verzweifelt in einem Polizeirevier seine Geschichte erzählt, woraufhin das ganze Büro klatscht angesichts der vermeintlich grandiosen Darstellerleistung. Anil Kapoor schauspielert dabei brillant, nicht zu schauspielern. Und die ganze Filmstarfamilie ist da, eine lange Nase den öden Nepotismus-Vorwürfen drehend. Alle: Sonam, Harsh und auch noch Bruder Boney, der so richtig schlechte Laune hat. Ehefrau Sunita wollte übrigens nicht einmal mit ihrer Stimme mitwirken. Sie war bei den Dreharbeiten in Kapoors Haus der einzige Mensch, vor dem man Angst hatte. Hinter jedem großen Mann steht eben eine Frau, die er fürchtet.

Jenseits der ironischen Reality-Action-Fassade ist AK VS AK ein Film über den Gegensatz zwischen Regisseur- und Starkino in Bollywood, das ja vor allem ein Starkino ist. Selbst die besten und berühmtesten Regisseure wie Bhansali oder Ratnam müssen achtgeben auf die richtige Besetzung. Und Kashyaps Erpressungs-Film in AK VS AK ist so auch ein bisschen die Rache am mächtigen Star. Jetzt endlich soll die Überlegenheit über den Star bewiesen werden. Wenn man ihn rausschickt auf die echte Straße ohne Stuntman und klimatisierten Wagen, dann zeigt sich seine Schwäche. Aber der Regisseur plant, und der Star lenkt. Denn plötzlich wird es unübersichtlich. Der Film entgleitet Kashyaph. Sicherheit und Kontrolle lösen sich in Luft auf. Das Drehbuch wurde ohne sein Wissen umgeschrieben. Er wird zerrieben zwischen ehrgeizigen, aufstrebenden, zu jedem Verrat bereiten Jungregisseuren und dem Starsystem. Und es gibt ihn auch hier, den großen, berühmten, überraschenden Story-Twist, der alles umdreht und die Uhren auf Null stellt. Dieser Twist entmachtet den Regisseur und macht den Star noch größer, als er eh schon ist. Das ist der der Sieg des Starkinos über das Regiekino. Der Regisseur mag sich noch so sehr als kinoverrückten Wahnsinnigen selbst für ein Genie halten, am Ende wartet aber doch nur die Klapsmühle und die Zwangsjacke auf ihn.

Stilistisch bedient Motwane sich bei Kashyaps gerne propagierter Methode der Guerilla-Filmerei mit Handkamera. Immer filmen, überall, notfalls versteckt auf der Straße. Oder, genauer gesagt: Es erweckt zumindest den Anschein. Es ist schwer auseinander zu halten, was geplant und was vielleicht tatsächlich improvisiert ist. Es geht in oft rasendem Tempo quer durch die Straßen und Gänge, U-Bahn, Bahnhof, Veranstaltungen, eine improvisierte Einlage, rechts steht Kashyap lächelnd und ist höchst angetan von dem Tanz, der gerade die Menge begeistert. Der grandiose und mutige Anil Kapoor hat sich auf einen gewagten Film eingelassen, aber mit zwei der besten Hindi-Filmemacher jeweils vor und hinter der Kamera konnte er das Risiko auf sich nehmen.

Mittwoch, 30. Dezember 2020

PAATAL LOK (Staffel 1) – Zwischen den drei Welten

Die Amazon-Hindi-Serie PAATAL LOK (2020) ist ein aus neun Folgen bestehender Polizeithriller. Verantwortlich für das Produkt sind vor allem ein Autor, zwei Regisseure und eine Produzentin. Führender kreativer Kopf, der „Creator“, ist Drehbuchautor Sudip Sharma, der zwei der besten Hindi-Filme der letzten Jahre geschrieben hat, zwei Filme von Abhishek Chaubey: UDTA PUNJAB (2016) und SONCHIRIYA (2019). Inszeniert wurde PAATAL LOK von zwei Regisseuren. Einmal Avinash Arun, hauptberuflich Cinematographer, der mit dem Regiedebüt KILLA (2014) einen sehr schönen Filme über und mit Kindern gedreht hat. Und dann Prosit Roy, der bei dem Horrorfilm PARI (2018) Regie geführt hat. Produzentin ist Hindi-Filmstar Anushka Sharma, bei der die Arbeit hinter der Kamera inzwischen weit mehr als nur ein zweites Standbein ist.

Im Mittelpunkt der Story stehen zwei Polizisten. Hauptfigur ist der ältere der beiden, Hathiram Chaudhary, gespielt von dem ausgezeichneten und authentischen Jaideep Ahlawat, der einem zwar schon in Nebenrollen durchaus aufgefallen ist, aber da doch im Schatten der Stars stand. Hathiram hat die Erfahrung, aber auch die ernüchternde und ermüdende Routine von 15 Dienstjahren hinter sich, wobei er unterwegs auf der Karriereleiter steckengeblieben und von untauglicheren, aber anpassungsfähigeren Beamten überholt worden ist. Er ist nicht so gut darin, in die Hintern von Vorgesetzten zu kriechen, aber mit den nötigen großen Ermittlungserfolgen hapert es auch. Er ist kurz vor dem Resignieren und macht seinem neuen jungen und unerfahrenen Partner, dem aber im Gegensatz zu ihm noch eine mögliche große Karriere bevorsteht, nicht viel Hoffnung. Mit dieser von Ishwak Singh verkörperten Figur des noch etwas naiven und zurückhaltenden Imran Ansari lernt der Zuschauer alles kennen. Hathiram und Imran sind ein Hindu-Moslem-Team, was auch thematisiert wird.

PAATAL LOK ist eine Serie über Klasse und Kaste, über getrennt voneinander existierende Welten in einer Gesellschaft, einem Staat. Eine kleine Eingangsrede Hathirams für den Neuling dient als Vorbereitung auf das, was diesen erwartet. Himmel, Erde, Hölle, das wird von Hathiram bezogen auf bestimmte Stadtteile Delhis und was sie für den Polizisten und seine Karriere bedeuten: Was in der Hölle, der Unterwelt, passiert, interessiert sowieso keinen. Und das, was im Himmel passiert, dringt sowieso niemals nach draußen oder es macht Ärger. Karriere macht man mit erfolgreichen Ermittlungen auf der Erde, der Zwischenwelt.

Erste große Szene des Films ist die Verhaftung von vier jungen Leuten aus einem Auto heraus auf einer Brücke. Die Anklage lautet auf Verschwörung zum Mord. Das Opfer soll ein links-liberaler Starjournalist sein, der gerade um seine Karriere kämpfen muss. Mit seinen Recherchen ist er ausgerechnet dem Besitzer des Senders, für den er arbeitet, auf die Füße getreten. Die beiden in diesem Fall zuständigen Polizisten Hathiram und Imran müssen jetzt Beweise heranschaffen und ermitteln erst einmal Namen und die Hintergrundgeschichte der vier Angeklagten. Und so beginnt der Film, zwischen den Welten hin- und herzuspringen. Vom abseitigen Dorf, in dem Kastenverbrechen geschehen, hin zum dekadenten Großstadthotel. Reichtum und Armut. Psychische Wohlstandsprobleme und Kampf ums Überleben. Von der Liebe zu Hunden zum brutalen Serienmörder. Visuell sorgt das für viel Abwechslung – vom sauberen, lichterfüllten Glanz hin zu dunklen Gassen, engen Treppen, schmutzigen Ecken. Es ist eine Ausdehnung in alle Richtungen. In Delhi vertikal von oben nach unten, in allen drei Welten. Dann eine horizontale Ausdehnung in die Provinz, aufs Land, wo die Kaste ein tödlich endendes Problem sein kann, wo legale und illegale Verbrechen Hand in Hand gehen. Da gibt es mehr oder weniger vertauschbare Gangster, Politiker, Geschäftsleute.

Auch wenn fast ein bisschen zu mustergültig indische Problembereiche durchexerziert und es zu jedem Gangster oder Verbrechen gefühlsmäßig eine soziologische oder psychologische Erklärung gibt, wie das heutzutage in Mode ist, entkommt der Film der Gefahr, ein Themenfilm zu sein. Denn PAATAL LOK hat, verstärkt noch in der zweiten Hälfte, eine mitunter fast schon irritierend lockere Struktur, sodass man nie das Gefühl des ideologischen Zeigens oder der politischen Belehrung hat. Alles wird ohne große Empörung, ohne künstliche Aufregung registriert. Trotz der Action-Szenen, trotz großer Nähe zu den Figuren behält die Serie einen ruhigen Rhythmus. Es gibt Abschweifungen, Rückblenden. Es geht darum, die drei Welten sichtbar, fühlbar zu machen.

Die Auflockerung der Erzählstruktur ab der fünften Folge hängt auch zusammen mit dem Bruch in der Geschichte. Die ersten vier Folgen sind noch ein relativ dichter, erzählerisch stringenter Thriller und plötzlich erfolgt die Suspendierung der Hauptfigur vom Dienst und dessen Erkenntnis, dass man einer Scheinspur gefolgt ist, der man brav folgen sollte. Aber Hathiram will es sich selbst beweisen und stolpert von nun an auf eigene Faust durch die drei Welten, um die Wahrheit herauszufinden, und stößt dabei auf das System, das hinter allem steht. Es mag die Trennung der Welten geben, aber im Endeffekt hängt doch alles zusammen und dahinter steht das System. Wie jemand sagt: das System funktioniert, ist immer da, und bloß die Menschen werden ausgetauscht.

Daher ist in PAATAL LOK der Weg, der Akt der Aufklärung wichtiger als die Auflösung. Es ist keine Rebellen-Serie von einem, der auszog, die Welt zu verändern. Denn das System ändert sich nicht. Man kann es eine Weile verlangsamen, Strukturen offenlegen, aber es bleibt unaufhörlich in Gang. Egal ob in Indien oder auch in den USA, wo man sich heutzutage bei der Wahlfälschung sogar ungestraft filmen lassen kann, ohne dass es die System-Medien auch nur im Geringsten interessiert. So schafft PAATAL LOK es, durchgehend politisch ambivalent zu bleiben, wodurch ein abstraktes und kein politisch korrektes Unwohlsein entsteht. Auf der einen Seite gibt es abscheuliche Verbrechen an Menschen niedriger Kasten, auf der anderen Seite spielen die Dalits gewalttätige Hilfsarmee für zweifelhafte Politiker, die sich für sie einsetzen, nur um bei Wahlen ihre Stimmen zu bekommen. Um sich dann nach persönlichen Kontakten mit heiligem Wasser zu waschen.

Der liberale Journalist wird, wie bei uns im Westen, ein Vertreter der gleichgeschalteten Fake-News-Medien, spielt aber weiter den Linken, ist aber bloß nur noch ein Teil des internationalen Reichensozialismus, wo alles nur dafür da ist, die Reichen reicher und die Mächtigen mächtiger zu machen. Folglich bleibt dem einzelnen Menschen nur das Individuelle, das Private, dem ab der fünften Folge viel mehr Raum gegeben wird. Und so besteht das Happy-End nicht darin, dass der Held irgendwelche Bürokraten-Hintermänner ausfindig gemacht hat, sondern dass er mit seiner so lange dysfunktionalen Familie, mit Frau und Sohn, gemeinsam auf der Kirmes ist und dass er in seiner Arbeit seine Würde und sein Selbstvertrauen wiedergewonnen hat.

Sonntag, 27. Dezember 2020

PAAVA KADHAIGAL – Die seelische Leere der Ehre

 

Auf Netflix erscheint PAAVA KADHAIGAL (2020) als kleine vierteilige tamilische Serie, jeder 35-minütige Abschnitt mit jeweils eigenem Vor- und Nachspann, aber eigentlich handelt es sich um einen Episodenfilm, in dem die Einzelteile lose thematisch verbunden sind. Der eher seltsame Titel PAAVA KADHAIGAL (2020), also „Sündhafte Geschichten“, könnte irgendwie übrig geblieben sein von dem ursprünglichen Plan, ein Remake des Hindi-Episodenfilms LUST STORIES (2018) zu machen. Und eigentlich hat man das Thema umgedreht. In einer Gesellschaft mit engmaschigen Kasten- und Moralregeln erscheint normal menschliches Verhalten schnell als sündhaft. Hier handelt es sich übrigens um die erste tamilische Eigenproduktion von Netflix, wo ja leider immer noch ein großes Übergewicht an Hindi-Filmen herrscht.

PAAVA KADHAIGAL enthält vier Geschichten mit sozial-politischer Thematik, und wenn man schon einen Katalog gesellschaftlicher Probleme abarbeiten will, dann tatsächlich am besten auf die episodische Art. Eins nach dem anderen in einer abgeschlossenen Geschichte. Es gibt ja bei uns heutzutage gerne die Tendenz, in Filmen und Serien die cool angesagten Sorgenthemen strichlistenartig abzuarbeiten, um im Sinne der staatspolitisch wertvollen Kultur der Problem- und Bevölkerungsdiversität möglichst alles in einem Werk unterzubringen, ganz ohne Rücksicht auf Dramaturgie und erzählerisches Gleichgewicht. Aber zurück nach Südindien.

Der gemeinsame Nenner der vier Filme auf PAAVA KADHAIGAL ist die sogenannte Ehre, die ja in dem Wort Ehrenmord auftaucht, das man ruhig benutzen sollte, wenn man denn diese Ehre als geistige Perversion definiert. Es geht vorwiegend um Eltern und um Kinder, deren reine Existenz plötzlich ein Stigma, einen Schandfleck im engmaschigen Netz der gesellschaftlichen Normen darstellt. Mord ist da eine ganz logische Lösung. Und so sehr in diese Verbrechen auch religiöse Vorschriften und Gesetze hineinspielen, vollzieht sich der Mechanismus auf einer rein gesellschaftlichen, materiellen Ebene. Aber es ist ein ambivalentes Thema, und da sollte jeder in sich selbst hineingucken, um die eigenen Dämonen zu sehen. Und auch die entsprechende Episode „Vaanmagal“ macht es sich nicht leicht. Denn wenn etwa ein Bruder den oder die Vergewaltiger seiner Schwester umbringt, nicken wir da nicht vielleicht zustimmend, spüren ein bisschen Befriedigung angesichts der vollbrachten Gerechtigkeit? Aber das ist doch auch ein Ehrenmord!

Ein verbreitetes Verhalten herauszuholen aus der Normalität, das macht PAAVA KADHAIGAL inhaltlich bedeutsam. Die Geschehnisse wirken in der verkürzten Form umso heftiger, da sie nicht durch endlose Erzählebenen überlagert werden, die die Laufzeit eines Spielfilms füllen sollen. Rein filmisch hat mich allerdings nur ein Beitrag wirklich beeindruckt. Vieles ist eben sehr vorhersehbar, da es möglichst grässlich und schwer erträglich sein soll.

Sehr vorhersehbar ist „Oor Iravu“ von Vetrimaaran, nur dass es ganz bewusst weit über die Schmerzgrenze hinaus geht. Ein Vater lockt die schwangere Tochter zurück ins Heimatdorf, um sie da zu vergiften. Das Gift wirkt anders als gedacht, und es gibt einen unendlich langen Todeskampf. Dabei ruht die Kamera die meiste Zeit auf dem Vater, gespielt von Prakash Raj, der eine beängstigende, seelenlose Präsenz entwickelt und neben den vielen ausgezeichneten Darstellern die bleibende Erinnerung des Gesamtfilms ist.

In „Thangam“ von Sudha Kongara, geht es um einen jungen homosexuellen Mann, der eine Frau sein will und Geld für eine Operation spart. Er opfert sich für seine Schwester und seinen Freund, die gemeinsam durchbrennen und in der Großstadt heiraten. Ein Jahr später erfahren sie, dass der Bruder und Schwager umgebracht wurde. Interessant an dem Film ist, trotz der vorhersehbaren Handlung, die Charakterisierung des jungen Mannes, der sich in seiner Angst und Verlorenheit ein prophylaktisch aggressives Verhalten angewöhnt hat. Er hat sich in seinen besten Freund verliebt, was kein Wunder ist, da dieser vermutlich der einzige Mensch ist, der jemals wirklich nett zu ihm gewesen ist. „Vaanmagal“ von Gautham Menon schildert das Dilemma einer glücklichen Familie angesichts des Problems, wie sie mit der Vergewaltigung der 12-jährigen Tochter durch Freunde des Bruders umgehen soll. Kein einfacher Weg wird aufgezeigt, es sei denn, man befreit sich von der Angst darüber, was die anderen sagen, man erkennt das Konzept der Ehre als Konzept der kollektiven Unterdrückung an.

„Love Panna Uttranum“ von Vignesh Shivan ist der Beste der vier Filme. Ein Politiker muss gegen seine Überzeugung handeln und lässt seine Tochter und deren Freund umbringen. Da reist die Zwillingsschwester aus der Großstadt an. Diese Episode meidet den reinen Sozialrealismus und legt angesichts eines bedrückenden Themas keine falsche, ehrfürchtige Pietät an den Tag. Sie führt nicht in die geistige Verzweiflungssackgasse. Durch kruden Humor und einen Sinn für das Absurde ist Shivan so dem Wahnsinn des Kastensystems besser auf der Spur als die, die einfach nur zeigen, was da ist. Der Politiker, der mit Kaste Wahlkampf macht, ist plötzlich im eigenen Haus wie ein Gefangener der in der Vergangenheit selbst herbeigerufenen Dämonen.

Samstag, 26. Dezember 2020

PAKT MIT DEM TEUFEL – CHANDRA BOSES KAMPF UM INDIENS UNABHÄNGIGKEIT

 

Tilman Remmes Dokumentarfilm PAKT MIT DEM TEUFEL – CHANDRA BOSES KAMPF UM INDIENS UNABHÄNGIGKEIT ist von 2008 und hat inzwischen schon so manche öffentlich-rechtliche TV-Ausstrahlung auf dem Buckel. Dass ich diesem informativen, knapp einstündigen Film dennoch jetzt einen Blogbeitrag widme, liegt einmal daran, dass er als thematischer Abschluss einfach passend ist, nachdem es in den letzten zehn Monaten in drei Blogbeiträgen hier um Filme ging, in denen der indische Politiker und Freiheitskämpfer Subhas Chandra Bose direkt oder indirekt im Zentrum steht. Filme, in denen es um die während des Zweiten Weltkrieges deutsch unterstützte Legion Freies Indien oder die japanisch geförderte Indian National Army geht. Zweitens habe ich jetzt erst entdeckt, dass die deutsche DVD von PAKT MIT DEM TEUFEL noch 100 spannende Minuten Zusatzmaterial in Form von äußerst interessanten Interviews enthält. Und zumindest zum jetzigen Zeitpunkt gibt es diese Doppel-DVD noch sehr preiswert online zu kaufen. Selbst wenn also jemand einfach nur mal neugierig reingucken will, da kann man so gar nichts falsch machen.

PAKT MIT DEM TEUFEL ist eine solide, faktenreiche und unideologische Zusammenfassung mit einer Unmenge an Archivbildern. Zwar geht es um die ganze Lebensgeschichte Boses, aber der Schwerpunkt liegt natürlich bei seinen Versuchen, von den Achsenmächten aus eine indische Armee aus Kriegsgefangenen zusammenzustellen, deren Einsatz auf indischem Boden die Initialzündung für einen landesweiten Aufstand gegen die britische Besatzung sein sollte. Erst mit Deutschland, wo der Britenfan Hitler sich nicht für den indischen Freiheitskampf interessierte, dann mit Japan. Dabei endet es nicht mit Boses Tod, oder besser gesagt dessen Verschwinden  im Jahr 1945, denn die britischen Hochverratsprozesse gegen drei "Freies Indien"-Offiziere riefen riesige indische Solidaritätsdemonstrationen hervor und machten den Briten ihre totale Wehrlosigkeit im Krisenfall deutlich.

Die Legion Freies Indien war eine seltsame ausländische Armee im deutschen Reich mit seinem absurden Rassenwahn, wo man zwar „Arier“ sagte, aber eigentlich „Germane nordischen Typs“ meinte, wo es aber dennoch Sympathien für südöstliches Denken und besonders Indien gab, darunter durch SS-Chef Himmler. Die Legion wurde nach der Abreise Boses aus Deutschland tatsächlich nicht wie andere ausländische Einheiten an der Ostfront verheizt. Das Versprechen Himmlers an Bose wurde also wirklich gehalten. Erst wurde die Legion in Holland eingesetzt, dann bei Bordeaux, wo es auch klimatisch für die vom Wetter angegriffenen Soldaten besser war.  Zu diesen politisch-historischen Zusammenhängen kommt der menschliche Blickwinkel durch die Einbeziehung Anita Pfaffs, der österreichischen Tochter Boses, die bei einem Besuch in Indien ist und wo der Zuschauer die große Verehrung für ihren Vater, die sich dann auch auf sie überträgt, betrachten kann.

Erstes Interview auf der Bonus-CD ist eines mit Surya Kumar Bose, einem Großneffen von Subhas Chandra Bose. Jener ergänzt den Lebenslauf des Großonkels durch eine ausführliche Darstellung von dessen Werdegang und den Konflikten innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung. Außerdem gibt es spannende persönliche Details zu Boses Ende, das vermutlich nicht durch einen Flugzeugabsturz hervorgerufen wurde. Der Neffe erzählt, wie Boses Begleiter hinterher seltsame Dinge erzählte, die nicht passen, so wie auch die angeblichen Fotos des Wracks ein US-amerikanisches Flugzeug statt eines japanischen darstellen und man auf einem Bild einen Tempel sehen kann, den es zum Zeitpunkt des angeblichen Absturzes gar nicht mehr gab. BETWEEN GANDHI AND HITLER – THE MYSTERIOUS DEATH OF AN INDIAN HERO ist übrigens der englische Titel der Doku, die sicher haupsächlich in Indien gesehen wird, und das zeigt, wo dort das Hauptinteresse liegt. Da muss man keine grundlegenden Infos über Bose mehr verbreiten. Die Diskussion über sein Verschwinden hält bis heute an.

Das zweite Interview wurde mit Dr. Rudolf Hartog geführt, der als Dolmetscher ja nah dran war an den indischen Soldaten. Er hat auch ein Buch geschrieben zu dem Thema. Er berichtet von seinem Weg von der Ostfront in die Legion. Und er gibt Einblicke in das innere Leben der Legion, vor allem das private. In der Doku gab es schon einen Ausschnitt, wo sich Menschen aus dem Ausbildungs-Ort Kirchenbrück positiv an die Inder und ihre Lieder erinnern können. Hartog berichtet zusätzlich von menschlichen Kontakten und Völkerfreundschafts-Kindern, während die reichsdeutschen Rassengesetze solche Verbindungen oder gar eine Hochzeit eigentlich grundsätzlich verbaten.

Das dritte Interview ist mit dem Offizier und Ausbilder Wilhelm Lutz, der über die militärische Organisation und ihre Einbettung in die deutsche Militärhierarchie berichtet. Wiederholt erwähnt er das warme Charisma, das Bose bei der Anwerbung der indischen Kriegsgefangenen entwickeln konnte, während er zu den deutschen Offizieren ein kühles und distanziertes Verhalten an den Tag legte. Sowohl Hartog als auch Lutz machen klar, dass die Legion keine Einheit der Waffen-SS, sondern eine der Wehrmacht war, und dass die Eingliederung in die SS erst gegen Kriegsende im Zuge einer allgemeinen, von Himmler bei Hitler durchgesetzten, Umorganisation stattgefunden hat. Aber sie wurde in dem End-Chaos nie völlig vollzogen und blieb sehr oberflächlich. Und bei der Gefangennahme konnte sie daher ohne Schwierigkeiten vertuscht werden.

Dienstag, 22. Dezember 2020

Anurag Basus LUDO – Das ganze Leben ist ein Spiel

Das Leben ist wie „Mensch ärgere dich nicht“, international auch als „Ludo“ bekannt. Das ist die Grundweisheit von Anurag Basus gleichnamiger Hindi-Gangster-Action-Komödie LUDO (2020), das hier sogar ein Spiel des Totengottes, in der Gestalt von Basu selbst, und seines Buchhalters ist, die dann durch das Chaos, das sich abgespielt hat, in ihrer ironischen Allwissenheit schreiten. Denn sie sind, wie die Kamera und mit ihr die Zuschauer, immer pünktlich am zentralen Ort des Geschehens. Natürlich ist das alles bloß ganz amüsanter Formalismus, der eigentlich nur helfen soll, die einzelnen Episoden in diesem Schachtelfilm zusammenzuhalten. Natürlich ist das Leben nicht wie Ludo, denn nach dem Herauswurf darf man ja mit einer Sechs wieder auf dasselbe Spielfeld zurück. Wiederauferstehung statt Wiedergeburt sozusagen. Also vielleicht ist das Leben ja eher wie „Schiffe versenken“, da geht man unter und das war's, aber das Spiel hat man ja mit dem Trash-Blockbuster BATTLESHIP (2012) vor ein paar Jahren schon verfilmt. Und übrigens, ich habe gerade einen Artikel gelesen, in dem es hieß, nicht nur das Leben, nein, das ganze Universum, sozusagen unsere universale Existenz, seien wie Schach. Genau genommen habe ich aber nur etwa die Hälfte gelesen. Dann hatte ich keine Lust mehr auf die ganze verwurstete Logik. LUDO allerdings habe ich ohne Pause, Toilettenpause nicht mitgerechnet, bis zum Ende geguckt, weil ja doch auch so einiges passiert und es über weite Strecken sehr unterhaltsam ist.

Nach der Eröffnung durch einen Mord finden sich nach und nach alle im Hauptquartier eines Gangsters ein. Und da kommen alle Figuren-Farben aufs Spielfeld in Form einer stilgerechten Eröffnung, denn dabei müssen sie über einen tiefen Wassergraben springen. Und dann findet erst mal durch eine Explosion ein Massenherauswerfen mit vielen Toten statt. Solch ein Massenschlachten gibt es noch einmal am Ende. Und man hat das Gefühl, dass Basu den Film vor allem für die ausgeklügelten Konstruktionen des Anfangs und des Endes gedreht hat. Leider wird es in der langen Mitte hin und wieder etwas gedehnt. Die vier Hauptspielfiguren, zu denen sich noch einige Partnerfiguren gesellen, sind: außer dem Gangster ein junger Mann auf der Suche nach einem die Frau kompromittierenden Sexvideo, ein Gangster mit Sehnsucht nach seiner kleinen Tochter, ein unglücklich verliebter Restaurantbesitzer.

Das Beste am Film ist nicht die amüsant-theoretische Ludo-Prämisse, sondern sind die äußerst gut gelaunten Darsteller, denen das Ganze offensichtlich Spaß gemacht hat. Alle überragend ist Rajkummar Rao als tragikomisch verliebter Ex-Gangster im peinlichen Mithun-Chakraborty-Look, der der Liebe seines Lebens, die einen anderen geheiratet hat, einfach nichts abschlagen kann. Anstatt klugerweise das Weite zu suchen, wenn sie auch nur am Horizont auftaucht, erstarrt er, hängt an ihren Lippen und tut, worum immer sie ihn bittet. Und das ist nicht wenig. Dann ist da Pankaj Tripathi als unendlich schmieriger Gangster. Aditya Roy Kapoor als mittelloser Bauchredner, Synchronsprecher und Stimmenimitator. Oder Sanya Malhotra, die reich heiraten will, aber sich gerne wider besseres Wissen volllaufen lässt und dumme Sachen macht. Und während alle sich auf die eine oder andere Art austoben dürfen, hat Abhishek Bachchan die Rolle des Verlierers und Ausgestoßenen, der sowieso keine Chance hat. Mit überwiegend finsterem Gesichtsausdruck und demonstrativ vorgeschobener Unterlippe absolviert er seinen Part, um den herum die ewig lange Entführungsgeschichte aus Basus BARFI (2012) neu aufgekocht wird. Als wäre es da nicht schon ausreichend überstrapaziert worden. Da hätte man Bachchan etwas Originelleres gegönnt. Das ist definitiv der schwächste Teil des ganzen Erzählknäuels.

Mit diesem großen Ensemblefilm knüpft Basu von der Struktur her an seinen, neben GANGSTER-- A LOVE STORY (2006), schönsten Kinofilm LIVING IN A … METRO (2007) an, der auch verschiedene Schicksale miteinander verflochten hat. Sonst macht es sich Basu ja ganz gerne sehr leicht. Seine beiden wohl bekanntesten Filme sind reine, technisch einwandfreie Oberflächenwerke, stylisch, perfekt gemacht, aber bei genauerer Betrachtung ziemlich leer. Einmal KITES (2010) mit seiner Hochglanzfassade und Hrithik Roshans breitem Damenbezauberungs-Dauerlächeln, das die, auf die es nicht wirkt, durchaus nerven kann. Und dann die aufgesetzte Dauernaivität von BARFI mit seiner Penetranzpoesie. Auch in seiner TV-Arbeit springt Basu unbefangen von Anspruchsvollerem wie der TV-Serie STORIES BY RABINDRANATH TAGORE (2015) zu einer Rolle als Jurymitglied in „Super Dancer“. Bei LUDO, der sich irgendwo dazwischen bewegt, verflüchtigt sich jetzt in den besten Momenten erfreulicherweise alles in Action, Tempo, Chaos und Ironie.