Der Filmregisseur Suresh Krissna hat eine beeindruckende Filmografie mit Werken aus verschiedenen indischen Filmindustrien vorzuweisen. Und darunter befinden sich auch eine ganze Menge Hits. Aber zu keinem seiner Filme werde er so oft angesprochen oder ausgefragt wie zu den drei Tamil-Filmen, die er in den 1990ern mit Superstar Rajinikanth gedreht hat: AANAMALAI (1992), VEERA (1994) und dem vielleicht größten aller Rajinikanth-Klassiker BAASHA (1995). Das erzählt er im Vorwort des empfehlenswerten kleinen Buches „My days with Baasha – The Rajnikanth phenomenon“ (2012), entstanden mit der Journalistin Malathi Rangarajan.
Es ist ein unterhaltsam populäres Buch, ein spannender, anekdotenreicher Einblick in die Entstehung dieser Filme. Denn für Krissna ist Film Teamarbeit, und das sagt er nicht bloß, weil es sich gut anhört, sondern weil seine Filme tatsächlich mit Respekt für alle Mitarbeiter und ihre Kreativität gedreht werden. Krissna demonstriert, wie ergiebig brainstormende Gruppendiskussionen sein können, wo jeder seine Ideen einwirft. Und nach dem Motto „Ehre wem Ehre gebührt“ erzählt er hier ganz offen, von wem welche Idee stammte. Auch bei den kleinen Dingen. Die Dinge, die oft den feinen Unterschied ausmachen. Beispielsweise der Kneifer mit den roten Gläsern, das letzte Accessoire, das noch für das perfekte Äußere der Figur des Baasha fehlte: Der Kostümbildner war es.
Und vor allem ist es ein Porträt des Stars Rajinikanth und seiner Arbeitsmethoden. Die Perspektive Krissnas ist sowohl die des Kollegen als auch die des Fans, der den Star mit seiner Disziplin und Intelligenz, seinem vielseitigen Talent und Charisma aus nächster Nähe bei der Arbeit und live in Aktion beobachten kann. Die Eigenschaften, die aus Rajinikanth den Star gemacht haben, der er ist. Beide arbeiteten eng zusammen, waren sich wohl meistens einig, aber manchmal hatte der Star doch andere Vorstellungen und dann musste Krissna sich etwas Überzeugendes einfallen lassen.
Es ist auch ganz allgemein ein Buch über Masala-Blockbuster, bei denen es genauso auf Kleinigkeiten ankommt wie bei Filmen, die weniger direkt und kalkuliert die Psychologie der Massen in ihre Entstehung mit einbeziehen. Gute Filme für die Massen zu machen, heißt vor allem, sie zu respektieren und ernstzunehmen. Und wenn Krissna in seiner künstlerischen Individualität doch mal zu weit geht, dann wird er von seiner ihm assistierenden Frau zurückgepfiffen mit Bemerkungen wie: „Das verkauft sich nicht.“ Der Regisseur erzählt, dass Rajinikanths Blick nach manchen Szenen zuerst zu Krissnas Ehefrau ging, um die Wirkung der gerade gespielten Einstellung zu überprüfen.
ANNAMALAI
ANNAMALAI hat die aufregendste und interessanteste Entstehungsgeschichte zu bieten und folglich wird diesem Film im Buch am meisten Platz eingeräumt. Denn Krissna bekam den Film von seinem Lehrmeister, seinem Guru, dem Filmemacher und Produzenten K. Balachander zwei Tage vor Drehstart als einen Auftrag, zu dem er nicht nein sagen konnte und mochte. Dabei hatte er vorher noch nie mit Rajinikanth gedreht, kannte diesen nur sehr flüchtig und ansonsten wusste er absolut nichts von dem Projekt, dessen Drehbuch, wie er schnell feststellte, noch einiges an Verbesserungen benötigte. Ein Blockbuster mit einem Superstar, entstanden als ständige Improvisation und als Wettlauf gegen die Zeit, denn der Premierentermin ließ sich nicht mehr verschieben. Das hätte leicht schief gehen können. Ging es aber nicht. Denn heraus kam tatsächlich ein sehr schöner Film, der beim Publikum ein Riesenerfolg wurde. ANNAMALAI ist der Film, in dem zuerst das Wort Superstar im Vorspann im Zusammenhang mit dem Namen Rajinikanths benutzt wurde. Dieser war anfangs über diese Innovation gar nicht begeistert wegen des Drucks, den so etwas erzeugt, immer wieder neu Überwältigendes liefern zu müssen, filmisch und darstellerisch.
Rajnikanth spielt den sanften Milchmann Annamalai, der mit Grundstück und Stall einen kleinen Betrieb führt. Seit seiner Kindheit ist er mit einem Reichensohn befreundet, dessen Vater das nicht gefällt. Annamalais Naivität und Gutgläubigkeit führen dazu, dass er sich vom Vater seines Freundes um sein Grundstück betrügen lässt und wütend schwört, eines Tages reicher und mächtiger zu sein und sich zu rächen. Und das schafft er auch. Nur dass er nach vielen Jahren selbst so ist wie die, die er bloß bekämpfen wollte. Es ist ein abwechslungsreicher Film. Ein Twist, eine Wendung jagen die nächste, alles zusammengehalten von Rajinikanth und einer sicheren, pointierten Regie, die weiß, in Länge und Intensität das Gleichgewicht zu halten.
Am Anfang gibt es viel Komödie und schöne Einzelnummern des Stars. Beispielsweise die Erziehung eines arroganten Politikers, in dessen Haus Annamalai seine Kühe treibt, die dort auch ihr Geschäft verrichten. Dazu ein wunderbarer Wutanfall. Oder die Schlange in einer Wohnung, die Annamalai vertreiben soll. Da sieht er aus Versehen seine Zukünftige nackt und ist so verstört, dass er einige Zeit nur noch „Oh Gott, oh Gott“ wiederholen kann.
Wie die anderen beiden
Filme auch, hat ANNAMALAI ausgezeichnete Musiknummern. Mein Favorit
ist das rhythmische Lied über das sanfte, gebende Wesen von Kühen
„Vanthena Paalkaran“. Da sind gute Kampf-Szenen, einfallsreich
choreographiert wie die witzige Mann-Frau-Action beim gemeinsamen
Kampf gegen die Belästigungs-Rowdys. Es macht im Übrigen schon
einen Unterschied, dass Rajinikanth alles selbst gemacht hat, ohne
Stuntman und ohne Tricks. Das verleiht Filmen wie ANNAMALAI
etwas Bodenständiges, Echtes, ein perfekter Ausgleich für den
überbordenden Fantasie-Realismus der Storys. Heute existieren Blockbuster zu oft in einer Art luftleerem Digitalraum.
VEERA
Wurde Krissna in ANNAMALAI praktisch hineingeworfen, musste er zu VEERA vom Star selbst erst überzeugt werden. Rajinikanth wollte etwas Ruhigeres, Friedlicheres, bevor man mit BAASHA erneut in die Vollen ging. VEERA ist das freie Remake eines erfolgreichen Telugu-Films über einen Mann, der durch dumme Umstände plötzlich mit zwei Frauen verheiratet ist. Krissna hatte große Bedenken, denn das ist nicht unbedingt ein Stoff für eine zum großen Teil konservative Fanmasse, aber er schaffte es, die Figur des Helden ausreichend zu entschuldigen und machte vor allem eine Komödie daraus.
VEERA ist sehr storyorientiert, sodass wenig spektakuläre Szenen darin sind. Am Anfang hat es sogar noch einen gewissen Ernst, durch die viele Musik auch eine gewisse Poesie. Die erste Ehefrau ist Tochter eines Musikers, und der Held muss erst vom jungen Rowdy zu einem vernünftigen Menschen werden. Er geht zu einem hochdotierten Musikwettbewerb in die Großstadt, damit die Mutter endlich ihre Schulden bezahlen kann. Ein Hochwasser spült unterdessen das Haus der Zukünftigen weg, und sie wird fälschlicherweise für tot gehalten. Er beginnt nun ernsthaft eine Musikkarriere. Es ist dann besonders die Mutter, die ihn drängt, erneut zu heiraten. Gerade da taucht die erste Frau wieder auf und statt tragischer Konflikte folgt nun die überdrehte Komödie. Das hätte peinlich schief gehen können, aber es funktioniert. Man denkt über die Situation gar nicht weiter nach, sondern überlässt sich als Zuschauer einfach der screwballartigen Situationskomik. Und als am Ende klar wird, dass der Held sicher nicht viel Spaß an dieser Situation haben wird, ist die moralische Frage sowieso hinfällig. Da kommt er einem eher wie ein armes Opfer vor.
BAASHA
BAASHA ist der kraftvolle
Klassiker über einen Mann mit zwei Identitäten, die die Frage
aufkommen lassen, wer er denn nun wirklich ist. Einmal der
zurückhaltende Autorikscha-Fahrer und dann der für Gerechtigkeit
kämpfende knallharte Gangster, den sogar die Polizei respektiert. Am
Anfang des Films ist er einfach nur der perfekte Familienmensch, der
sich selbst zurückstellt, um ganz nach seinem Versprechen an den sterbenden Vater den jüngeren Geschwistern den Weg ins Leben zu
bahnen. Doch bei der Misshandlung von Schwester und Mutter durch Gangster platzt ihm
der Geduldsfaden. Und dann lernen wir in einer Rückblende seine
Vergangenheit als Gangsterboss in Bombay kennen. Da ist Baasha, der
Mann mit den roten Augengläsern, dem ernsten, oft wütenden, leicht
verzerrten Gesicht. Der Mann, der den Bösen spielt, um das Böse zu
bekämpfen. Das Böse in Gestalt echter Bösewichter-Gesichter. Ein
wichtiges stilistisch-visuelles Mittel wurde schon in ANNAMALAI
angetestet. Da gab es ein psychedelisches Bild der Hauptfigur bei
einem Wutanfall. Das wird dann in Baasha zum Prinzip, um lange kein
wirkliches, erkennbares Bild von dieser Figur zu zeigen und natürlich die Spannung zu steigern.
Interessant sind die beiden Schwierigkeiten, die Krissna hatte, um zwei seiner zentralen Ideen gegen Widerstand durchzusetzen. Das sind spannende Anekdoten, denn wer den Film schon kennt oder vor dem Lesen des Buches das erste Mal geguckt hat, dem werden gerade diese beide Sequenzen perfekt und unverzichtbar vorkommen. Dabei gingen ihnen kontroverse Diskussionen voraus. Erstens ging es um die subtilen Bemühungen für die Szene, in der Rajinikanth verprügelt wird. Hier legte ein empörter Produzent fast sein Veto ein, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass das Publikum das akzeptieren würde. Vermutlich sah er sich schon ruiniert und unzählige Kinosäle in Trümmern. Krissna erzählt nun, wie jedes Detail, wie der dramatische Aufbau, die visuelle Gestaltung genauestens geplant wurden, um dennoch eine begeisterte Reaktion beim Publikum zu erreichen.
Zweitens geht es um die
wunderbare Musiksequenz „Nee Nadandhaal“, in der die Heldin immer
nur den Helden sieht in jedem fremden Mann, der an ihr vorüber
läuft. Die Wirkung verdankt sich einer schauspielerischen
Meisterleistung Rajinikanths aber auch einem präzisen Schnitt, wo
ständig verborgen und enthüllt wird. Eigentlich hatte man für den
Film zu viele Lieder und Rajinikanth wollte dieses Liebeslied nicht im Film
haben, da es die Story verlangsamen würde. Und er blieb stur, bis …
Ja, bis Suresh Krissna eine Idee hatte, die sofort den sprudelnden
Ideenreichtum des Superstars anzapfte. Auch der berühmteste Satz Baashas ist von Rajinikanth: "Wenn ich es einmal gesagt habe, ist es, als hätte ich es hundert Mal gesagt!"