Es beginnt mit einem TV-Testbild, das sich von Schwarzweiß auf Farbe umschaltet. Es folgt ein Interviewausschnitt mit einem Minister, der sich gegen die Todesstrafe ausspricht. Plötzlich ein harter Schnitt und man sieht ganz unvermittelt den Vollzug einer Hinrichtung. Sofort danach ein Gespräch mit dem Henker im Gegenlicht und einige Worte eines Verurteilten, bei dem man erst später erfährt, dass es hier direkte Verbindungen zu der die Recherche leitenden Journalistin und Menschenrechtsaktivistin gibt. Sie arbeitet an einer Dokumentation gegen die Todesstrafe.
Das ist der ungewöhnliche, intensive, auch schockierende Anfang des tamilischen Films VIRUMAANDI (2004), die großartige dritte Regiearbeit des tamilischen Superstars Kamal Haasan, der auch die Hauptrolle spielt. Vor allem der abrupte Schnitt auf den zum Tode Verurteilten, der zum harten Geräusch der sich öffnenden Klappe mit dem Strick um den Hals in die Tiefe stürzt, bleibt in Erinnerung. Die Journalistin wird danach selbst Teil des Geschehens, wechselt auf dem Gefängnishof ein paar Worte mit einem zum Tode Verurteilten, der berichtet, dass dort alles schief laufe mit Drogen, Alkohol und Handys, dass die Behandlung sehr schlecht sei. Am nächsten Tag ist er tot, angeblich plötzlich krank geworden. Daher folgen Proteste der Angehörigen vor dem Gefängnis, und es gibt einen Hungerstreik innerhalb der Gefängnismauern. Und das bildet den Übergang zur eigentlichen Handlung, die aus vier Teilen besteht.
Im Mittelpunkt stehen zwei lange Rückblenden, die Bebilderungen zweier Interviews mit Insassen, davon einer zu lebenslanger Haft, der andere zum Tode verurteilt. Alles, was man sieht vom Geschehen, ist also subjektiv gefärbt durch die Auswahl der Erzählenden. Kothala und Virumaandi heißen die beiden. Das erste Gespräch ist scheinbar glasklar, alles wirkt so simpel. Die Darstellung des vermeintlichen Bösewichts hat etwas von der Einfachheit so manchen populären Films. Der von Pasupathy gespielte Kothala ist ein selbstsicherer Typ, der weiß, wie man eine glatte Geschichte liefert. Virumaandi, verkörpert von Haasan, erscheint bei ihm als bewusstloser Unmensch ohne Gefühle, der nur besoffen ist und sich bloß prügeln kann. Mord scheint da dann ganz selbstvertändlich zu sein.
Das zweite Gespräch wirft zwar nur einen ergänzenden Blick auf das Geschehen, aber dadurch sieht dennoch plötzlich alles ganz anders aus. Virumaandi tut allerdings zunächst alles, um die Vorurteile gegen ihn zu bestätigen. Er ist wütend, angesichts seiner Situation absolut desinteressiert an Medienleuten oder Akademikern, lehnt alles ab, fragt provokativ nach der Körbchengröße der Journalistin. Aber dann lässt er sich überzeugen, sachlich zu berichten. Jetzt erhält man viele Informationen, filmisch gesprochen Einstellungen, die vorher fehlten. Und so erscheint die erste Erzählung wie eine propagandistisch zurechtgeschnittene Version der Wirklichkeit. Virumaandi wirkt nun mehr naiv als tatsächlich brutal.
Alles spielt sich ab vor dem Hintergrund des Lebens in einem Dorf, des Kampfes um Land und Wasser. VIRUMAANDI hat einen bunten, atemlosen Beginn, bei dem es schwer ist, sofort einen Überblick zu bekommen. Alles wird bestimmt von Virumaandi. Er siegt beim Jallikattu, dem nicht ungefährlichen Volkssport der Niederringung eines Bullen. Dazu eine bunte Liedszene. Virumaandi wird als Bulle, als fast bewusstloses, gefährliches Tier etabliert. Er beginnt einen riesigen, sinnlosen Streit mit anderen aus dem Dorf. Es folgt der Tod von Virumaandis Großmutter, deren Beerdigung als große musikalische, durchchoreographierte Szene gezeigt wird. Immer mehr ins Zentrum rückt Kothala, in dessen Schwester Annalakshmi Virumaandi sich verliebt. Die von Abhirami mit intelligenter Einfachheit und emotionaler Energie gespielte Frau zähmt den Bullen in Virumaandi. Nach vielen Wendungen fliehen die beiden, heiraten heimlich, aber an einem in diesigen Nebel getauchten Morgen wird sie entführt.
VIRUMAANDI ist ein ungeheuer dichter Film, der trotz der Länge von drei Stunden keine Leerstellen hat. Er ist kraftvoll und energiereich, ohne sich damit zu begnügen. Es bleibt immer genug denkende Distanz. Besonders, wenn die zweite Version beginnt. Diese ergänzt und vergleicht der Zuschauer unweigerlich ständig mit der Erinnerung an die erste Version. Manche Szenen sind genau gleich, nur aus einer anderen Perspektive gefilmt. VIRUMAANDI ist damit indirekt auch ein Film über die Manipulation durch die filmische Sprache. Es wird dabei immer wieder Kurosawas RASHOMON (1950) zum Vergleich herangezogen, aber das zielt falsch. Es handelt sich bei VIRUMAANDI eben weniger um einen Film über die subjektiv geprägte Unschärfe der Wahrheit, sondern um einen über die Verzerrung der tatsächlich existierenden Wahrheit durch Menschen und Justiz.
Und daher ist VIRUMAANDI
auch kein einfacher Film gegen die Todesstrafe. Es ist einer über
Wahrheit und Gerechtigkeit, über ein dysfunktionales System, das gar
nicht das Recht hat, Todesurteile zu fällen. Denn die rein irdische
Gerechtigkeit, das staatlich-bürokratische Gerichtsurteil, das ja
vor allem der Abschreckung dienen soll, unterliegt allzu oft bloßer
Willkür und menschlichem Irrtum. Oder es ist das bewusste Ergebnis
von Lüge und Korruption. Wahrheit,
eigentlich etwas Göttliches, ist in VIRUMAANDI eine Ware,
eine formbare Masse, die niemandem heilig ist. Beim Prozess gegen
Virumaandi lügt sogar der Brahmanen-Priester, der ihn mit
Annalakshmi getraut hat. Da starrt Virumaandi ungläubig auf den
sogenannten Mann Gottes, lehnt sich resigniert zurück und schließt
die Augen. Aber es geht hier auch um eine höhere
Gerechtigkeit: In einer früheren Szene macht Virumaandi vor Gericht, aus
falscher Loyalität zu Kothala, eine Falschaussage über Morde, und eine Witwe, der er das Leben gerettet hatte, jammert
lautstark, warum er lüge, dass er da doch so gut gewesen wäre. Man sieht, wie er
sich vom Zeugenstand aus an den Leuten vorbei schleicht, während ein
schlechtes Gewissen ihn niederdrückt. „Kothala hat die Menschen getötet, aber ich habe die Wahrheit
getötet“, sagt Virumaandi der Journalistin. Als wäre er in
Wirklichkeit dafür bestraft worden und säße jetzt trotz eines
falschen Urteils nicht ganz zu Unrecht in der Todeszelle.
Aber dieses Theoretische entwickelt sich aus der Handlung und den Bildern. VIRUMAANDI ist ein Meisterwerk mit Körper, Seele und Herz, ein visuell aufregender, ebenso lyrischer wie gewalttätiger, wilder Film, und die Gewalt ist immer latent spürbar. Und wenn sie ausbricht, ist sie exzessiv. Mehrmals werden Körperteile mit Macheten abgehackt. „Kill my father“, schreit ein kleiner Junge, den der eigene Vater kopfüber als Drohung vom Treppengeländer hat baumeln lassen. Selbst ein Vertreter der Gewaltlosigkeit, ein Mann, der nach einem Totschlag vier Jahre im Gefängnis war, greift wieder zur Waffe. Erst am Ende hat der Ausbruch von Gewalt etwas Reinigendes. Wahrheit und Lüge werden erkannt und sauber getrennt. Denn direkt nach den beiden Interviews hat die Unsicherheit über den Wahrheitsgehalt der beiden Versionen durch das Auftauchen eines neuen Beweises ein Ende. Es kommt zu einer brillant choreographierten Jagd durch das Gefängnisgelände mit einer perfekten Ausnutzung der Räume, Winkel, Ecken, Dächer. Eine entscheidende Schlägerei findet direkt unter dem Galgen statt. Aber selbst bei einer eventuellen Begnadigung – da bleibt die Geschichte offen – kann es, nach dem, was geschehen ist und verloren wurde, kein Happy End geben. Ob er glücklich sei, wird Virumaandi abschließend gefragt: „Nein.“