Der junge Poet Murad aus
dem Mumbaier Dharavi-Slum findet Stimme, Anerkennung und Bekanntheit
durch Hip Hop. Als Freundin hat er, nicht sehr standesgemäß, die
Arzttochter Safeena, was die Eltern von beiden nichts wissen. Ein
Liebesfilm und ein Hip-Hop-Film. Eine künstlerische Aufstiegsstory
gemischt mit etwas Romeo und Julia. Keine originelle Geschichte also
an sich, aber Zoya Akhtar hat mit GULLY BOY (2019) ihren bisher
besten Film gedreht. Das gemeinsam mit Reema Kagta, selbst eine
spannende Regisseurin, verfasste Drehbuch verbindet eine sehr
innerliche, intime Geschichte mit den großen Problemthemen Indiens:
Kaste, Klasse, Religion. Und dabei hat das Autorenpaar es geschafft,
den Film weder zu überladen noch plakativ zu gestalten. Klischees
werden nicht nur gemieden, sondern auch geschickt unterlaufen, ohne
dass es dabei ironisch wird.
Ein schönes Beispiel ist
eine der ersten Szenen in einem Mumbaier Bus. Murad sitzt hinten auf
der Bank am Rückfenster und hört Musik. Safeena, mit Kopftuch,
steigt ein, bleibt weiter vorne im Gang stehen und schaut öfter zu
ihm herüber, während er jeden Blickkontakt vermeidet. Aber hier
bahnt sich keine Liebesgeschichte an. Die gibt es schon: Neben Murad
wird ein Platz frei, er rutscht zur Seite, sie setzt sich neben ihn
und er gibt ihr einen der kleinen Ohrhörer. Sie reden dabei nicht,
gucken sich nicht an, halten nur Händchen. Eine sehr keusche,
eigentlich unmögliche Beziehung voller Nähe und Distanz. Man trifft
sich an der Bushaltestelle, guckt sich oft nur aus der Ferne an.
Manchmal kann sie den Argusaugen der Eltern entkommen und man hat ein
fast echtes Date. Sie will zu Ende studieren, eine Praxis haben,
Chirurgin werden. Das gibt ihr Unabhängigkeit. Und dann will sie Murad. „Ich komme also erst an zweiter Stelle?“, fragt er einmal
grinsend, wohl wissend, dass das eine schließlich die Voraussetzung
für das andere ist.
GULLY BOY ist auch ein
Familienfilm im moslemischen Milieu. Die biologische und die
Wahlfamilie. Die Hip-Hop-Gemeinschaft wird Murads zweite Familie. Und
erst dadurch bewältigt er die Probleme in der ersten, wo der Vater
sich gerade eine zweite Ehefrau ins Haus geholt hat. Auf der anderen
Seite Safeena, die sich gerne anders anziehen, Lippenstift benutzen
möchte. Mit Kopftuch muss sie herumlaufen, darf nicht ausgehen. Also
hat sie ihren Eltern gegenüber eine Überlebensstrategie entwickelt, die
bewundernswert ist, aber in ihrer Perfektion sprachlos machen kann.
Sie lügt wie gedruckt. Ohne mit der Wimper zu zucken. Und sie lässt
sich nichts gefallen. Mädchen, die sich Murad zu sehr nähern,
werden notaufnahmereif geprügelt. Alia Bhatt spielt Safeena mit
entschlossener Stille, verleiht ihr keinen künstlichen Glamour,
vermeidet es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und wird dadurch
um so präsenter gegenüber Ranveer Singh, dem der Film gehört. Man
spürt Safeenas Stärke, ihre Härte, die der ruhige Murad auch
braucht. Ranveer Singh zeigt zurückhaltend das allmähliche
Aufbrechen der schüchternen, introvertierten Schale Murads. Am Ende,
bei einer Musiknummer finden Ranveer Singh, der Showman, und Murad
zusammen.
Ein Großteil des Films
spielt in Dharavi, dem Mumbaier Slum, auf den die Kamera einen
bewusst normalen Blick richtet – nichts ausklammert, nichts
beschönigt. Einmal gibt es eine große, weite Totale aus der
Vogelperspektive. Murad geht nach einem Treffen mit Safeena über
eine Brücke nach Dharavi hinein. Darunter ein tiefer langer Graben
voller Müll. Das ist erschreckend, faszinierend, eklig und schön.
Alles gleichzeitig. Und dann ist es dort einfach so. Auch im
Zusammenhang mit Dharavi werden Klischees unterlaufen. Einmal greift
Murad, wie ein echter Kinoheld, seinen Freund an, weil der Kinder
dealen lässt. Er spielt bürgerliche Gerechtigkeit, die aber oft
nichts anderes als gutmenschelnde Selbstgerechtigkeit ist. Denn der
Freund sagt ihm, er solle sich bei denen beschweren, die die Kinder
in der Gosse zurückgelassen haben. Er zumindest ernähre sie.
Dharavi kann ja mit Führungen besichtigt werden. Auch in GULLY BOY
wandert einmal eine westliche, weiße Gruppe mit Führer durch die
Gassen und durch die Wohnung einer Familie, was 500 Rupien extra
kostet. Die Touristen sind ganz offensichtlich begeistert vom
Einfallsreichtum angesichts des wenigen Platzes. Wahrscheinlich
finden sie es spannend, exotisch, pittoresk. Dieser Blick erinnert an
den westlichen Blick auf das populäre indische Kino. Es gibt wohl
kaum ein Weltkino, was immer noch so wenig als normal betrachtet
wird. Die Berliner Filmfestspiele 2019 sind ein schönes Beispiel
dafür. GULLY BOY lief ja dort, was an sich sehr schön ist, aber ich
war doch erstaunt, als ich entdeckt habe, in welcher Kategorie. Da
stößt man auf die Sektion „Berlinale Special“, wo ansonsten
äußerst obskure Werke zu sehen sind, von denen man vermutlich nie
wieder etwas hören und sehen wird. Und intelligente Kritiken zu
indischem Kino kann man von deutschen Zeitungen sowieso nicht
erwarten. Das ZDF etwa charakterisiert Ranveer Singh mit der tollen Information, dass er „in Indien ein Instagram-Star“ ist.
Aber vor allem geht es in
GULLY BOY um Hip Hop, um „Poesie und Rhythmus“, wie einmal gesagt
wird. Der belanglose und ärgerliche Konsum-Hip-Hop um Kleider,
Autos, Weiber, den es natürlich wie überall in Indien gibt und der
manchmal auch den Weg in Bollywood-Filme findet, wird gleich in der
ersten Filmsequenz voller Verachtung verbal in den Müllhaufen geworfen.
Wichtig ist, dass man sich authentisch ausdrückt und, wenn man, wie
Murad, in einem Slum groß geworden ist, man damit der ganzen
Gemeinschaft eine Stimme gibt. Eine Stimme für soziale
Beweglichkeit. Wenn die Gesellschaftsstruktur einer Gesellschaft wie
in Stein gemeißelt erscheint, dann nur, weil die Menschen es sich in
ihr Inneres haben meißeln lassen und daran glauben. Es ist aber auch
ein Fatalismus, der einen überleben lassen kann, wenn man merkt,
dass man selber es nicht schafft. So macht es Murads Vater und er ist
daran verhärtet. Das heißt nicht, dass nicht andere es nicht
schaffen können. Inspiriert ist der Film von den „beiden echten
Gully Boys“, den Rappern Divine und Naezy, denen der Film gewidmet ist. Von
denen kam vor drei Jahren der Song „Mere Gully Mein“ mit Video
heraus. Das wird im Film nicht kopiert, aber in seiner Essenz
beibehalten. Aufgenommen in den Straßen und Gassen von Dharavi mit
Ranveer Singh als Gully Boy und Siddhant Chaturvedi als MC Sher.
Vergleicht man die beiden Videos, sieht man nicht nur die perfektere
Ästhetik des Films. Man sieht auch die wärmeren Farben, das weiche
Licht, was dem ganzen Film Ruhe und Harmonie innerhalb all der echten
Konflikte verleiht.
GULLY BOY gehört zu den
modernen Filmen aus Mumbai, die an die Zeit vor dem globalen Phänomen
Bollywood anknüpfen, das zu großen Teilen ein Mittelklasse-Kino
voller Konsumfreude ist, während die Unterschiede von Kaste, Klasse
und Religion zuvor im Kino so wichtig waren. Dass man realistische
Filme über diese Themen drehen kann, ohne deprimierend zu sein, wie
es das rein materialistisch-politische Kino ja meist ist, hatte man schon
in den ersten drei Jahrzehnten des indischen Tonfilms gewusst, von
den 30ern bis in die 60er. Stille Poesie und tiefe, echte Gefühle waren das Geheimnis.
Und das ist auch die Grundlage von GULLY BOY, der ein Hip-Hop-Film
ohne Aggressivität ist, selbst wenn er aggressives Verhalten zeigt.
Übrigens nicht nur patriarchalische Brutalität. Hier prügelt auch
die Mutter die Tochter mit den Worten „Ich schlag dich tot.“
Daher denke ich bei GULLY BOY eher an Guru Dutts Dichterfilm PYAASA (1957) als etwa an
Curtis Hansons Eminem-Film 8 MILES (2002). Und bei den anklagenden sozialen Texten der Lieder denke ich an die indische Tradition, in der sie
ganz automatisch stehen, wie etwa der große sozialistische Urdu-Poet Sahir Ludhianvi,
der passenderweise auch die Texte für PYAASA geschrieben hat. Und
das wiederum passt zu Zoya Akhtars Familiengeschichte. Sie ist ja
nicht nur Tochter des Drehbuchautors und Dichters Javed Akhtar. Sie
ist auch Enkelin des politisch bewussten Poeten Jan Nisar Akhtar.
Zwei Sequenzen stechen in
ihrer Schönheit und Poesie, ihrer Verbindung aus Musik und Bild
dabei heraus. Die eine ist die, in der Kalki Koechlin als Sky den
zunächst zögerlichen Murad mitnimmt, die Stadt zu bemalen, das
heißt kreativ-ästhetischen Widerstand gegen die Konsumgesellschaft,
verbildlicht durch Werbung für teure Mode oder Kosmetik, zu leisten,
indem man ihre Symbole verändert und verunstaltet. Aber auch hier
verzichtet der Film auf Botschaften, sondern zeigt einfach die
Schönheit der Nacht, die Freude der Beteiligten, die Fahrt im Auto
und dazu singt Ankur Tewari auf dem Soundtrack „Jeene Mein Aaye
Maza“, ein sanftes, anschmiegsames, verträumtes, aber auch leicht sperriges Lied im
Walzerrythmus, eingeleitet durch melodisches Pfeifen. In einer
anderen, brillanten Sequenz werden Murads Fremdheitsgefühl, sein
Frust, seine Traurigkeit und damit die demütigende Natur der
Klassengesellschaft gezeigt. Es beginnt mit einer einzigen
Einstellung. Er hat als Fahrer die Tochter des reichen Hauses in
einen großen Club gefahren und wartet. Die Musik zieht ihn an. Er
geht vorwärts, um in den Bereich der Musik zu kommen, zuzuhören. Im
Hintergrund sieht man den Türsteher, der ihn mehrmals wegwinkt.
Frustriert geht er zurück. Man sieht ihn dann im dunklen Auto
sitzen, in dessen frischem, blank geputztem Lack sich alle Lichter
des Clubs spiegeln wie ein bunter Sternenhimmel. Aber drinnen im
Wagen ist es dunkel. Dann rappt er wütend bei einem Song mit. Auf
der Rückfahrt sitzt das Mädchen weinend hinten und er muss stumm
bleiben. In Gedanken schreibt er einen Text über die Gräben in der
Klassengesellschaft. Das geht direkt über in die Studioaufnahme des
Liedes und Bilder von dem dazugehörigen Musikvideo. Die Inszenierung
transportiert mit wenigen Einstellungen viele Bedeutungen und Gefühle
gleichzeitig. Das ist Filmregie, Mise-en-scène, die in Erinnerung
bleibt.