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Samstag, 30. Mai 2020

MADRAS, KABALI, KAALA – Die Filme von Pa. Ranjith


Der tamilische Film KAALA über den Krieg zwischen Slumbewohnern und einem von der Staatsmacht unterstützten land- und machtgierigen Politiker war 2018 einer der besten Filme des weltweiten Kinojahres. Regisseur Pa. Ranjith ist innerhalb von sechs Jahren und mit seinen vier Filmen ATTIKATHI (2012), MADRAS (2014), KABALI (2016) und zuletzt eben KAALA (2018), zu einem der interessantesten Filmemacher Indiens geworden, der jetzt, folgerichtig möchte ich sagen, mit BIRSA MUNDA an seinem ersten Hindi-Film arbeitet, einem historischen Film über einen Stammes-Freiheitskämpfer vom Ende des 19. Jahrhunderts. Und auch wenn in Kritiken und Diskussionen oft die ungewöhnlich deutlichen politischen und sozialen Inhalte der Filme im Mittelpunkt stehen, ist es doch zunächst einmal die erzählerische und visuelle Sicherheit und Schönheit, die die Filme so bemerkenswert und wirkungsvoll machen. Denn Ranjith gehört zu den Mainstream-Regisseuren, die Stil haben. Viele Regisseure, nicht nur im indischen Populärkino, haben im Gegensatz dazu nur eine Menge Stilmittel, mit denen sie Effekte erzeugen.

Ranjith erzählt im Kern klassische, einfache Geschichten, die er mit seinen Themen füllt, und da ist er zunächst einmal ein politisch denkender Filmemacher, der die Dalit, die unteren Kasten, die Armen, die Arbeiter, das Proletariat in den Mittelpunkt stellt. Wenn er die Viertel der armen Leute, die Slums, filmt, betont er nie das Hässlich oder Heruntergekommene. Auf gewisse Weise macht er etwas, was der portugiesische Regisseur Pedro Costa in seinem an sich eigentlich so anderen Kino auch macht. Er filmt die Slums als etwas Heimisches, Normales, denn schließlich wohnen und leben da ganz normale Menschen, die dort ihren Alltag haben. Das ist das Gegenteil des sensationalistischen Miserabilismus von Danny Boyles SLUMDOG MILLIONÄR (2008), der den leicht angeekelten Mitleidsblick von oben reproduziert. Mit großer inszenatorischer Sicherheit, einem Sinn für Rhythmus und einem oft ruhigen, langsamen Tempo erzählt Ranjith seine Geschichten. Die Präzision des Visuellen steht in engem Zusammenhang mit der Präzision seiner Gedanken, denn er ist nicht nur Künstler, sondern auch ein theoretischer Mensch, der in Interviews locker über Bücher von Marx, Freud oder Mao plaudern kann. Nicht in der ideologischen Position, da ist er sehr deutlich, aber in der filmischen Form ist es ein dialektisches Kino, das Gegensätze harmonisch zusammenbringt: Nähe und Distanz, Identifikation und Überblick, Emotion und Verstehen. Es ist ein sowohl massentaugliches wie intelligentes, fast intellektuelles Kino, ohne jemals verkopft zu sein.

Nicht vergessen darf man, wie wirkungsvoll und ganz einfach schön die Musik in seinen Filmen ist, die sich vom sonst so oft rhythmischen Filmmusik-Pop abhebt. Und auch hier kann man eine gewisse Dialektik entdecken. Einerseits nutzt er gerne einen sehr melodischen, traditionellen, folkartigen, gefühlvollen Sound, gerade auch in den Liedern. Als Ranjith mit ATTIKATHI als Regisseur debütierte, begann auch die Filmkarriere des Musikers und Komponisten Santosh Naryanan, der für die Musik aller vier Filme verantwortlich ist. Auf der anderen Seite gibt es in MADRAS und KAALA junge Hip-Hop- und Street-Dance-Gruppen, die die Story wie ein griechischer Chor begleiten und deren Ausdrucksweise direkter und aggressiver ist.

MADRAS

Auf die romantische Komödie ATTAKATHI um einen jungen Mann, der heiraten will, folgte MADRAS, eine teilweise absurd grausame Geschichte um Politik und zwei verfeindete Gangs in einem armen Stadtviertel in Nord-Chennai. Ranjith liefert eine subtile Kritik vieler Strukturen und Prinzipien, zeigt machtgierige Politiker, die ihre Geldbeutel füllen und, was oft noch wichtiger ist, um jeden Preis ihr Ego aufplustern müssen. Im Zentrum von MADRAS steht eine große Häusermauer, ein Symbol für Macht. Auf ihr kann man seine eigene Größe und seinen Machtanspruch, in Form eines Porträts des Anführers oder eines großen Vorfahren, verewigen. Und man bekriegt sich für das Recht, die Mauer zu nutzen. Sie hat eine lange Geschichte und eine seltsam essentielle Bedeutung für alle. So füttert man die jungen Männer mit vermeintlich wichtigen Zielen. Ranjith inszeniert die Mauer wie ein riesiges Utensil aus einem Mystery-Film. Unheimliche Dinge geschehen in ihrer Nähe. Menschen sind ihretwegen und in ihrer Nähe gestorben. Sie scheint ein Eigenleben zu haben, das in einer großen Totalen aus der Vogelperspektive wie das Herz des Bösen mitten in dem Viertel zu schlagen scheint. Gleichzeitig ist MADRAS eine lebendige und herzliche Geschichte über eine Clique junger Männer, die sich auf dem Fußballplatz treffen, was im Laufe des Films für eine spannende Parallelmontage aus Sport und einer Prügelei Anlass gibt. Und besonders geht es um die Freundschaft zwischen zwei jungen Männern. Außerdem nimmt Ranjith den Faden seines Regiedebüts auf. Wie in ATTAKATHI will die Hauptfigur heiraten, hat auch eine potentielle Braut, glaubt aber, keine Chance zu haben, was eine authentische, süße, heitere Liebesgeschichte ohne romantische Klischees ergibt.

KABALI

Der vorwiegend in Malaysia spielende KABALI wurde Ranjiths erster Superstar-Film, mit dem er zeigte, dass er auch die Zutaten des Masala-Films mit seinen Action-Szenen und seinen überraschenden erzählerischen Wendungen, den berühmten „Twists“, beherrscht und gleichzeitig etwas Persönliches daraus machen konnte. Rajinikanth spielt Kabali, einen entlassenen Gangboss, der sich mit alten Gegnern herumschlagen muss. Vor allem will er den Mord an seiner Frau rächen. Es ist im Prinzip eine klassische Gangstergeschichte, wie man sie kennt. Da steht der altmodische Gangster, der einst durch seinen politischen Kampf in dieses Business hineingerutscht ist, gegen die modernen skrupellosen Kapitalismus-Gangster, die keine Ware und kein Verbrechen scheuen. Zwei konkrete Themen spielen eine zentrale Rolle. Das eine spricht die Gegenwart, die jungen Leute – nicht zuletzt die im Publikum – an. Der Gangster finanziert eine Schule für Tamilen. Es geht um Bildung, legale Jobs, weg von Gewalt und einer deprimierende Faszination mancher jungen Männer für Gangs und Waffen. Und es geht um die Vergangenheit, um ein Stück malaysische Tamilen-Geschichte. Die Karriere des Gangsters begann einst mit einem Lohnstreit: „Wir sind Angestellte, keine Sklaven.“

Wie in MADRAS nimmt das Emotionale, das Melodramatische großen Raum ein. Denn Kabali vermisst seine Frau. Die erste Hälfte enthält die fortdauernde Liebesgeschichte mit einer Toten und nimmt Anleihen beim geisterhaften Melodrama. Denn in Kabalis Kopf lebt die Gattin noch. Er sieht sie überall sitzen. Da gibt es am Anfang eine wunderschöne Sequenz, wie er in sein Haus kommt und die Vergangenheit noch lebendig ist, wie er überall die Frau sieht, mit ihm redend. Das wird dargestellt in einer einzigen langen, eleganten, flüssigen Bewegung. Die Schönheit und Eleganz dieser Bewegung spiegelt das Inneneben Kabalis wieder. Umso größer dann der Schock, als ihn die Wirklichkeit des leeren Esstisches, mit dem sich viel glückliche Vergangenheit verbindet, an seine reale Einsamkeit erinnert.

KAALA

KAALA ist erneut ein Film mit Rajinikanth, und Pa. Ranjith wird politisch noch deutlicher als sonst. Denn auch wenn es ein Superstar-Film mit spannend inszenierter Action und gewalttätigen Auseinandersetzungen ist, wird doch ebenso sehr die Gegenwart und Geschichte des Dharavi-Slums in Mumbai erzählt, des großen Kollektivs der Bewohner der unterschiedlichsten Kasten, Regionen und Religionen. KAALA beginnt gleich mit einer Massenszene als Demonstration gegen eine anstehende Räumung. Die genaue Beobachtung, der Blick von innen heraus macht die besondere Atmosphäre des Films aus. Eingeleitet wird der Film von einer theoretischen animierten Einleitung über den Zusammenhang von Land und Krieg. Denn das Besondere an Slums ist ja, dass sie mal irgendwann am Rande einer Stadt entstehen, die manchmal die Tendenz hat, sich auszudehnen und deren Grundstückspreise in der einstigen Peripherie in die Höhe schießen. Plötzlich liegen die Grundstücke der Armen in vom Kapital begehrten Gebieten.

Rajinikanth spielt Kaala, was Schwarz bedeutet, den inoffiziellen Bürgermeister, Führer des Slums. Seine Position stammt aus einer Zeit, als die einzige Waffe gegen Ungerechtigkeit das Rowdytum war. Aber inzwischen gibt es Dissens über solche Methoden, selbst in der eigenen Familie, denn einer seiner Söhne, mit dem passenden Namen Lenin, ist in einer Organisation für die Verbesserung des Slums tätig. KAALA lässt sich viel Zeit für die Familie, die Joint Family, deren Haus im Film als Zentrum der Macht des Slums erscheint. Es gibt liebevolle Streitigkeiten zwischen Kaala und seiner Ehefrau, was noch durch das Auftauchen einer NGO-Aktivistin und ehemaligen Verlobten Kaalas aus alten Zeiten mit etwas humorvoller Eifersucht und melancholischer Nostalgie gewürzt wird.

Der Bösewicht des Films ist ein Marathi-Nationalist, der die Eingewanderten nicht mag und arme Eingewanderte schon gar nicht. Seine Kampagne läuft unter dem Motto des sauberen und reinen Mumbais, und passend dazu ist er immer in Weiß gekleidet. Nana Patekar spielt diesen Mann mit ruhiger Selbstsicherheit, lässt aber die abgründige Seite durchschimmern. Aber eigentlich ist er gar kein richtiger Mensch. Seine wahre Existenz führt dieser Politiker auf den riesigen Wahlplakaten, die wie Big Brother ganz Mumbai, auch die Slums, überwachen. Weiß und Schwarz, Ram und Raavan, Ranjith kehrt hier ganz materialistisch klassische religiös-mythische Werte um. Weiß steht hier nicht für besondere Reinheit, Weiß ist hier einfach die Farbe eines Polit-Verbrechers aus den oberen Kasten, eine Maske, mit der er seine Untaten verschleiert. Kaala, verglichen mit Raavan, hingegen ist der proletarische, unterkastige Befreier der Entrechteten und Mittellosen von Unterdrückung. Schritt für Schritt und mit viel Action, besonders einem düster verregneten Regenschirmkampf auf einer Hochstraße, eskaliert die Auseinandersetzung bis zum großen visuellen Höhepunkt eines brennenden Slums, in dem die Polizei gegen die Bewohner kämpft. Aber das wirkliche Finale ist, in einem siegreichen kollektiven Anfall von revolutionärer, rebellischer Lebens- und Widerstandslust, die Verwandlung von Schwarz in alle anderen Farben. Da muss sogar die Physik kapitulieren.

Dienstag, 26. Mai 2020

Mithun Chakraborty in DISCO DANCER – Indian Night Fever Guitar Phobia



B. Subhashs Hindi-Film DISCO DANCER (1982), mit Mithun Chakraborty in der Hauptrolle und mit der Musik von Bappi Lahiri, ist große, trashige, knallbunte, wahnsinnige Poesie. Ein Musik-Tanz-Film über einen armen Straßensänger, der reich und berühmt wird und sich für die von ihm und der Mutter während seiner Kindheit erlittenen Demütigungen rächt. Hier gibt es zu einem unnachahmlichen indischen Disco-Sound kühne Tanzschritte und Tanzbewegungen. Man wird geblendet von flirrenden Kostüme, die teilweise aussehen, als hätten sich Aerobic-Tänzer nach einer Neujahrsfeier die Dekoration aus goldenem, silbernem, buntem Silvesterflitter und Geschenkpapier umgehängt und angeklebt. Aber es gibt auch Kostüme mit tiefem Symbolismus, wenn zu dem Krishna-Lied "Krishna Dharti Pe Aaja" ganz in Schwarz gekleidete rabenartige Gestalten direkt über die Bühne zu fliegen scheinen und den schwarzweiß gekleideten Chakraborty bedrohlich umkreisen. Wie konnten indische Kritiker solch einen Film jemals zum schlechtesten Film der 80er wählen, wo doch Musik, Tanz, Kostüme, Dekor und Licht ein berauschendes ungläubiges Staunen hervorrufen, als hätte man psychedelische Visionen? Wozu braucht es ein Drehbuch oder die Beachtung dramaturgischer und ästhetischer bourgeoiser Normen, wenn man absolut dazu imstande ist, sich in seiner ureigenen Welt seine ganz eigenen Regeln zu basteln. Das ist bewundernswert und nachahmenswert. Das moderne Mittelklasse-Bollywood, das heutzutage wie der Rest der Welt mit geschmackvollen Scripts aus dem Drehbuchlabor arbeitet, könnte etwas mehr socher Kühnheit gebrauchen. Und wenn mich jetzt jemand fragen wollte, ob ich das alles ernst meine, dann gäbe ich als Antwort, dass ich es so ernst meine, wie der Regisseur den Film ernst gemeint hat.

Und man hatte ja nicht viel Geld. Das ist kein Film von einem großen Produktionshaus. Rein visuell hat das alles etwas von Do-it-yourself-Avantgarde, von Glamour-Punk. Da gibt es keine kontrollierte Lightshow. Es flimmert, glimmert, glitzert bunt, bunt, einfach bunt. Die Discokugeln drehen sich, das Licht spiegelt sich. Man hat aufgefahren, was möglich war. Mithun als Jimmy, als Disco-Elvis in einem weißen Anzug, schleudert der Kamera so oft das Becken entgegen, das das Objektiv errötet und vermutlich selbst für einige der visuellen Effekt verantwortlich ist. Und wie Jimmy die Menschen animieren kann! Beim Abschluss seines Durchbruchauftritts mit "Ae Oh Aa Zara Mudke" ist er in der Mitte eines kleinen Kreises aus Tänzern. Wie sie sich mit ihm auf dem Boden bewegen, auf den Popo klatschen und plötzlich an die Ohrläppchen fassen und in die Knie gehen, da wartet man einen klitzekleinen Moment atemlos darauf, dass alles jetzt in den leider etwas in Vergessenheit geratenen Ententanz überschwappt. Aber dann war es doch nur ein Zitat, ein intellektueller Verweis auf diesen Modetanz von 1981. Oder diese ganz und gar abstrakte Szene, in der Jimmy krankenhausreif geschlagen werden soll und eine Bande von Gangstern ihm nachts in der Einsamkeit auflauert. Da gehen sie um ihn rum und schnipsen mit den Fingern, ohne zu tanzen oder zu singen. Und Jimmy schnipst auch mit den Fingern. Alle schnipsen einfach, während die Auseinandersetzung ganz normal weiterläuft. Das fühlt man sich plötzlich in einer Bühnenversion der „West Side Story“, bearbeitet von Samuel Beckett. Oder Helge Schneider.

Die Musik hat diesen perfekten Fußwipp-Sound, der einen selbst zu Hause im Stuhl nicht still sitzen lässt. Ein Sound und eine Musik, die nie vorhersehbar werden. Komponist Bappi Lahiri wurde verdientermaßen mit diesem und einigen anderen Filmen zum Disco-König, was er auch in seinem glitzernden Äußeren zum Ausdruck bringt. Er erfand eigenes und bediente sich bei anderen, wo er nur konnte, ob bewusst oder unbewusst, das wusste er sicher selbst nicht mehr hinterher. Auf jeden Fall verlieh er dieser westlichen Tanzmusik einen unverkennbar indischen Sound. Die Mischung macht es, deren Rhythmus, Energie und Instrumentierung den Irrsinn des Films adäquat potenzieren. Aber nicht nur die Playback-Songs. Wenn etwa bei einer Veranstaltung Autos vorfahren und „You're The One That I Want“ aus GREASE (1978) ertönt, und zwar in einer flotten instrumentalen Orgelversion, als wäre man in einem unterirdischen Eishockeystadion, dann hat das eine traumhaft surreale Wirkung. Oder das nicht enden wollende Finale mit drei Liedern, wo der an einer gefährlichen Gitarrenphobie leidende Jimmy durch einen Feind von einer Gitarre bedroht wird und psychisch völlig verstört nicht auftreten kann, wo seine Freundin ihn durch „Jimmy Jimmy Aaja“ animiert, wo Gaststar Rajesh Khanna nach Jimmys "Yaad Aa Raha Hai" den Opfertod sterben darf. Nicht zu vergessen vorher der internationale Disco-Wettbewerb mit afrikanischen und französischen Wettbewerbsteilnehmern, die ganz landestypische Verrenkungen aus der heimischen Psychiatrie vorführen. DISCO DANCER mit seinem unsterblichen Titelsong "I Am A Disco Dancer" ist ganz einfach der wahre und einzige echte Film über Disco, ein Werk, das dem Phänomen geistig wirklich gerecht wird.

Niemand, nicht einmal die Macher haben geahnt, dass sie mit DISCO DANCER (1982) das große ikonische Werk des Hindi-Films der 80er schaffen würden, über dessen Wert die Meinungen auseinander gehen. Für die Verächter steht er symbolisch für ein Jahrzehnt, dass nach allgemeiner Meinung sowieso als ein qualitativer Tiefpunkt in der Hindi-Filmgeschichte gilt. In einem netten kleinen Buch über DISCO DANCER von Anuvab Pal, erschienen 2011 bei Harper Collins, gibt es am Schluss einige aussagekräftige Zitate, die die gegensätzlichen Lager am besten widerspiegeln. Ein Geschäftsmann aus Singapur sagt beispielsweise: „Das ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe. Und ich war im Holocaust-Museum.“ Auf der anderen Seite stehen die unzähligen Fans eines weltweit immens erfolgreichen Films. Ein Comic-Zeichner aus London sagt: „Das großartigste Tanzen, was ich je gesehen habe. Das Großartigste, was ich je gesehen habe. Und ich reise viel.“ DISCO DANCER repräsentierte für eine ganze Generation im Ausland, besonders in Asien und der UdSSR, das Hindi-Kino, das heraufziehende Bollywood. In der UdSSR hatte man ja nach Stalins Tod internationale Unterhaltungsware ins Land gelassen. Der erste große, beliebte indische Star wurde Raj Kapoor. Und dann kam DISCO DANCER mit Mithun Chakraborty. Der Film war irgendwie in ein Moskauer Filmfestival gerutscht und in dessen Verlauf so beliebt und erfolgreich beim Publikum, dass er am Ende in einem 10.000-Plätze-Kino gezeigt wurde. Der Rest ist Geschichte. Die Geschichte eines Films, den man lieben muss. Oder zumindest bewundern!  Und sei es auch nur wegen des großen Verdienstes, die Symptome der gefährlichen Musikerkrankheit Gitarrenphobie so präzise dargestellt zu haben.

Samstag, 23. Mai 2020

Anubhav Sinhas THAPPAD – Plötzlich fremd


Anubhav Sinhas THAPPAD (2020, dt.: Der Schlag) ist ein Film über die Ehe, die indische Ehe vorwiegend, aber mit vielen allgemeingültigen Aspekten. Zunächst werden mehrere Ehepaare und Beziehungen gezeigt. Im Mittelpunkt steht dabei die nicht mehr ganz junge Ehe von Amrita und Vikram. Die an Diabetes erkrankte Schwiegermutter ist mit im Haus. Und Vikram ist im Beruf endlich auf dem Weg nach ganz oben, die beiden sind sogar fast auf dem Weg nach London. Schafft man das, dann hat man es geschafft. Nur New York gilt als noch besser. Sie hat sich ganz in den Dienst seiner Karriere gestellt, was er für selbstverständlich nimmt. Aber sie selbst auch, denn sie betrachtet ihre Hausfrauenrolle als ihre eigene Entscheidung. Brav weckt sie ihn, bringt ihm Morgenkaffee ans Bett, trägt ihm seine Sachen bis ans Auto – Tasche, Essen, Portemonnaie. Es gehört zum Ritual. Die große Stärke des Films, der einen ruhigen Rhythmus hat, ist die stille, unrhetorische Beobachtung, die vieles freilegt, ohne es überdeutlich auszusprechen.

Auf einer Party, bei einer wütenden Auseinandersetzung zwischen Vikram und einem seiner Vorgesetzten, versucht Amrita dazwischenzugehen und bekommt eine Ohrfeige vom rasenden Gatten. Und alle in Amritas Umgebung meinen, sie solle die Sache nicht so hoch hängen. Dass diese Reaktion keine bösartige Fiktion von Anubhav Sinhas Seite ist, zeigt eine erhellende Äußerung von Ahmed Khan, dem Regisseur des Films von BAAGHI 3, der eine Woche nach THAPPAD im März 2020 Kinopremiere hatte. Khan hatte in einem Anflug von Futterneid über das vermeintlich öde Thema des Films gemault, dass die Frau einfach zurückhauen solle und dann sei es gut. Aber abgesehen davon, dass das die Institutionalisierung von gegenseitiger Gewalt in der Ehe ist, ist der Schlag an sich gar nicht das, worauf sich THAPPAD konzentriert. Entscheidend ist das, was die Ohrfeige auslöst, denn die Ehefrau schaut plötzlich mit sie selbst erschreckender Klarheit auf ihre Situation und sieht auch ihre eigenen falschen Entscheidungen, die dieses schiefe Machtverhältnis, und um nichts anderes geht es hier, in ihrer Ehe herbeigeführt hat.

Und direkt nach der Ohrfeige wird der Film ganz still, denn Amrita ist geistig woanders, steht zunächst unter Schock, spürt die totale Einsamkeit, denn niemand ist auf ihrer Seite. Sie beginnt, auf Vikram wie auf einen Fremden zu schauen, vor allem, wenn er wieder einmal nur von sich redet. Er kreist ständig um sich selbst, etwa um seine festen Lebensziele, aber sie kreist nicht mehr mit und entfernt sich immer mehr von ihm. Und er selbst hat sie aus seiner Umlaufbahn herauskatapultiert. Er wird ihr fremd, die Liebe verschwindet. Und diese Entwicklung führt zu einigen der stärksten Momente des Films. Überhaupt ist der Film am besten, wenn er still und ohne viele Worte das Innenleben der Figuren fühlbar, verstehbar macht. Und da ist die Zusammenarbeit von Hauptdarstellerin Taapsee Pannu und Regisseur Sinha ganz wunderbar. Ihre Verstörung wird für den Zuschauer deutlich sichtbar gemacht. So seltsam ironisch es ist, aber der Schlag hat sie aus einem unnatürlichen Verhalten der Selbstentmündigung und Selbstauslöschung befreit. Die Frage, ob sie ihm verzeihen kann oder nicht, wird dadurch völlig bedeutungslos.

Solch eine Art von Film war angesichts der PR-Kampagne nicht zu erwarten. Werbung kann ja auch das Gegenteil bewirken. Die für THAPPAD (2020) ließ Schlimmes vermuten. Die Kerninfo wurde etwa so geliefert: „Eine Ehefrau bekommt auf einer Party von ihrem Mann eine Ohrfeige und will sich danach scheiden lassen.“ Und dann eine rhetorische Frage nach dem Muster „Ist das Grund genug?“. Das Ganze hörte sich also zunächst mal nicht nach einem Film, sondern nach einer ermüdenden, gesellschaftlich progressiven, sozial wertvollen Diskussionsveranstaltung voller gestellter und gestelzter Leinwandrhetorik an. Botschaftskino eben. Und natürlich gibt es diese rhetorischen Teile, aber sie beherrschen nicht den Film. Zielpublikum ist insbesondere die selbstsichere Mittel- und Oberschicht. Etwas unbeabsichtigt, hoffe ich zumindest, erweckt der Film gleichzeitig den Eindruck, dass in den unteren Schichten sowieso alle Frauen geschlagen werden. Und Sinha hat in den Diskussionen genug subversive Inhalte untergebracht. Einmal fällt der Satz, dass, wenn eine einzige Ohrfeige schon zur Scheidung führe, müsste mehr als die Hälfte aller indischen Ehefrauen gehen. Da wird sogar eine Art Statistik geliefert.

Die Rhetorik entwickelt sich durch die vielen anderen Figuren des Films, hauptsächlich Familienangehörige, also Eltern, Schwiegereltern. Sie reden untereinander oder mit den beiden Betroffenen. Die Argumente an sich sind vorhersehbar, aber interessant ist es, wer sie wie vorbringt. Selbst die aktive, aber auch desillusionierte Frauenrechtsanwältin rät Amrita, es gut sein zu lassen. Die Eltern sowieso. Aber es ist nicht nur Angst um die Fassade, der Wunsch nach Aufrechterhaltung einer gewohnten Ordnung. Es gibt einen besonderen Grund, warum fast alle ihr aktiv einreden wollen, eine Ehe fortzusetzen, die sie mit der ganzen Faser ihres Wesens nicht mehr fortführen will. Es ist die Angst vor Ansteckung. Ihr Verhalten hat eine Verstörung ausgelöst. Bei den Frauen kommen Zweifel am eigenen Lebensentwurf auf. Die Männer sehen ihre Position gefährdet. Und das merkt man den Figuren an. Der Film nimmt sich die Zeit dafür. Die Kritik am Tempo von THAPPAD ist daher eine idiotische Kritik am Wesen der besten Teile des Films. Denn dann bekommt er mitunter eine uneindeutige, fast unheimliche Atmosphäre, erzeugt durch das unangenehme Gefühl der Figuren, aus dem Alltag, und nicht zuletzt seinen vielen Illusionen, herausgeschoben worden zu sein, einen Riss in der Fassade zu sehen, der sich nicht schließen lassen will und auf den man aber unablässig und wie hypnotisiert starrt.

Gegen Ende mündet alles in eine juristische Auseinandersetzung, bei der noch ein bisschen spannendes Empörungspotential aktiviert wird, aber wo an sich dem Ganzen nicht viel hinzufügt wird. Amrita hat noch ein paar Monologe, wo die Figur ihr Denken zusammenfasst. Und am Schluss sind alle etwas klüger geworden. Das bedeutet aber auch, dass es sogar noch eine zweite Scheidung gibt. Ein indischer populärer Film, der so sehr die Ehescheidung fast propagiert, braucht als Ausgleich wohl auch ein kleines bisschen positiven Bollywood-Zuckerguss. Deshalb dürfen die unheilbaren Optimisten unter den Zuschauern dem frisch geschiedenen Paar noch eine zweite Chance wünschen. Denn Vikram will jetzt jemand werden, der Amritas würdig ist. Was auch immer diese Worthülse enthält. Wenn denn überhaupt was drin ist.

Donnerstag, 21. Mai 2020

Abhishek Chaubeys SONCHIRIYA – Dharma des Rebellen


Das erste Bild von Abhishek Chaubeys SONCHIRIYA (2019) stellt den Film gleich unter das Zeichen des Todes. Unbeweglich bleibt die Nahaufnahme eines blutigen verwesenden Reptilienkopfes, der so groß zu sehen ist, dass man sich als Zuschauer erst einmal orientieren muss. Der offene Kadaver wird umschwirrt von unzähligen hungrigen Fliegen. Dann sieht man eine Gruppe von Männern in staubigen Uniformen durch die schluchtenreiche Einöde marschieren und beim Anblick der toten Schlange, die quer über dem Weg liegt, wie angewurzelt stehenbleiben. Das betrachten sie geschlossen als schlechtes Omen, als Beleg dafür, dass sie verflucht sind, und daher wollen sie einen Umweg gehen. Doch um einen Fluch herum gibt es keinen Umweg, meint der Anführer als Einziger fatalistisch, murmelt ein Gebet und zieht die kleine Kompanie aus Banditen geradeaus weiter hinter sich her.

Als sie Rast machen, konkretisiert der Fluch sich für zwei Banditen durch die furchteinflößende Erscheinung eines kleinen, vorwurfsvoll guckenden Mädchens. Betroffen sind der Anführer, gespielt von Manoj Bajpayee und ein jüngerer Bandit, der sich illusionslos am liebsten dem Staat ergeben möchte, dargestellt von Sushant Singh Rajput. Dieser Fluch ist also nicht einfach allgemein metaphysisch zu verstehen, weil man den Weg des Banditentums geht, sondern ist ganz und gar konkret. Die Männer haben irgendeine böse Untat auf dem Gewissen,für die sie sich bis ins Mark verantwortlich und schuldig fühlen. Und auch wenn der Film im Grunde eine einzige actionreiche Jagd und Flucht mit vielen kleinen Einzelepisoden ist, geht es in Wirklichkeit um Schuld und Verlorenheit, um die Suche nach Erlösung und Vergebung, und schließlich um den Opfertod. Es wird eingetaucht in die Abgründe der Seele und der sozialen Umstände. Was also auch immer im Verlaufe der Handlung von SONCHIRIYA passiert – und es passiert viel in diesem äußerst spannenden Actionfilm – stehen gleichzeitig abstrakte Themen im Mittelpunkt. Und das macht den Film auf gleichzeitig zwei Ebenen so aufregend, abwechslungsreich, intensiv. Konkrete, oft gewalttätige Handlung und abstrakte Ideen sind untrennbar verbunden, ineinander verschlungen, das eine bedingt das andere, bringt es hervor, erklärt es.

Es ist auch ein Film über männliche Todessehnsucht. Hier lebt man nach dem Gesetz der Berge. Das Chambal Valley bestimmt visuell den Film. Die bergige Gegend aus Sand am Oberlauf des Chambal in Madhya Pradesh erscheint als der perfekte Ort für diese tödlichen und teilweise selbstmörderischen Kämpfe, aus denen es keinen Ausweg gibt. Gekennzeichnet durch raue Hügelformationen und steile Schluchten ist es, als spiegele sich hier das Innenleben der Figuren wieder. Alles brennt unter der Sonne in einem nur leicht variierenden gelb-braunen Farbton, auch die Uniform der Rebellen. Und so einförmig ist auch das Denken der meisten Männer.

Wir erfahren nie, warum Einzelne in den Bergen sind oder wofür sie wirklich kämpfen. Für ihre Thakur-Kaste sagen sie, ohne dass man wirklich sieht, was da genau gemeint ist. Ob es die ungerechte Welt an sich ist oder eine konkret erlittene Ungerechtigkeit, die Ursachen erzählen indische Banditenfilme normalerweise immer mit, sei es Nitin Boses GANGA JUMNA (1961) mit Dilip Kumar, sei es BANDIT QUEEN (1994) von Shekhar Kapur. Jedenfalls kann man hier nicht sehen, dass das Ganze irgendeinen Zweck hat, außer das eigene Überleben in den Bergen zu sichern. Es erscheint sogar als Selbstzweck, der nach und nach die Seele und den Verstand aushöhlt. Aber das Warum hat sowieso kaum noch Bedeutung, das haben sie längst vergessen, denn vor allem denken sie an den Dharma des Rebellen, seinen pflichtgemäßen Weg. Und dazu gehört der Tod. Leben und Sterben in den Schluchten, das ist das Ziel, das sichere Ende ist eingeplant. Und dennoch versuchen sie noch, solange wie möglich zu überleben, den Kampf gegen die Regierungsmacht zu überstehen. Eine Möglichkeit zur Erlösung bietet die Rettung einer Frau vor ihrer Familie und eines 12-jährigen Dalit-Mädchens, das unbedingt ins Krankenhaus muss. Aber dafür müssen sie ihre Begriffe aufweichen, die von Kaste, Geschlecht, Tradition. Und das fällt den meisten erst einmal schwer.

Und die Staatsmacht erscheint sogar weitaus rücksichtsloser als die Outlaws. Aber es ist auch an sich eine Zeit der Gewalt. Es ist 1975, und gerade wird von Indira Gandhi der Ausnahmezustand ausgerufen, wie man im Radio hört. Die erste lange Actionszene des Films zeigt die Brutalität, mit der hier zu Werke gegangen wird. Bei einem Überfall auf eine Hochzeitsgesellschaft liegen die Polizisten im Hinterhalt. Und es sind die Polizisten, denen die vielen Unbeteiligten egal sind und die in diese hineinschießen. Chaubey hat sehr klar eine wilde Actionszene inszeniert, die sich nie im Getöse der Waffen verliert. Selbst Totalen aus der senkrechten Vogelperspektive sind nicht der übliche Selbstzweck, sondern machen praktischen Sinn, denn sie geben einen Überblick über die labyrinthartige Verschachtelung der Gassen und Hinterhöfe, in denen die Gegner aufeinander lauern. Chaubey fühlt sich in den kleinen Straßenschluchten der Stadt ebenso wohl wie in den großen, weiten der Landschaft.

SONCHIRIYA zeichnet im Ganzen das aus, was schon Chaubeys Drogenfilm UDTA PUNJAB (2016) so großartig machte, der ja ebenfalls die Schilderung einer permanenten Grenzsituation, eines im Grunde wahnsinnigen Ausnahmezustandes war. Chaubeys erste beiden Filme ISHQIYA (2010) und DEDH ISHQIYA (2014) badeten noch ein bisschen in gewollter Skurrilität, Satire und düsteren Augenblicken, was sie trotz aller Qualitäten manchmal etwas unangenehm künstlich machte. In SONCHIRIYA bleibt Chaubey auf Augenhöhe mit den Personen, erhebt sich nur so weit über sie, um sie in Szene zu setzen. Aber er nimmt jeden ernst. Die Menschen, die Handlung können in den Irrsinn abdriften, aus dem Gleichgewicht kommen, aber nicht der Film. Chaubey filmt den Wahnsinn eben nicht als Wahnsinn, sondern als normalen Zustand, wenn etwa ein Junge die Mutter töten will, weil sie den brutalen vergewaltigenden Schwiegervater, also seinen Großvater, völlig zu Recht getötet hat. Das ist dann entsetzlich, und es ist keine Frage, auf welcher Seite der Regisseur steht, aber Chaubey liefert trotz allem das Verstehen und die Analyse immer gleich mit. Solche Pläne und Handlungen fallen immer auch auf die Gesellschaft, die sie hervorgebracht hat, zurück, von der kleinsten Einheit Familie bis zur großen des Staates.

Mittwoch, 13. Mai 2020

URI – THE SURGICAL STRIKE – Das neue Indien


URI – THE SURGICAL STRIKE (2019), international auch einfach LETHAL STRIKE betitelt, endet, wie er beginnt, mit dem erfolgreichen Einsatz von Spezialeinheiten der indischen Armee gegen Terroristen, von denen keiner übrigbleibt. Dennoch handelt es sich hier um alles andere als einen reinen Kriegs-Action-Film. URI ist ein Armeefilm, ein Soldatenfilm, ein Familienfilm. Andererseits ein auf Tatsachen beruhender Politfilm über einen vermeintlichen Politikwechsel, den der Film mit der Bezeichnung „Das neue Indien“ feiert.

Der erste Teil des Film zeigt zunächst den bewaffneten Hinterhalt von östlichen Separatisten am 4. Juni 2015 gegen einen Militärkonvoi, bei dem 18 indische Soldaten starben. Es kam einige Tage später zu einer Vergeltungsaktion an der Grenze Indien-Myanmar, wobei die Diskussion über einen Grenzübertritt hinein in das Gebiet Myanmars im Film keine Rolle spielt, obwohl es Streitigkeiten zwischen den beiden Regierungen gab und die Terroristen auch noch Propaganda verbreiteten, es habe überhaupt keine Tote gegeben. Im Film geht aber alles erfolgreich und mit absoluter Perfektion vonstatten. Und das ist nicht zuletzt dem diensthabenden Offizier dieser Aktion zu verdanken, der von Vicky Kaushal verkörperten Identifikationsfigur. Der will anschließend den Dienst quittieren, um noch so lange bei der an Alzheimer erkrankten Mutter zu sein, wie sie ihn erkennt. Ein Modi-Doppelgänger ermahnt ihn, dass Mutter Indien noch wichtiger ist, dass er bei der Armee bleiben soll und daher erst einmal einen Ziviljob in Familienähe bekomme.

Und jetzt erst beginnt der zweite und wichtigste Teil des Films: Am 18.9.2016 üben vier schwer bewaffnete Terroristen einen Angriff auf ein Armeecamp in der Nähe von Uri, in Jammu und Kaschmir, aus und töten 17 Armeeangehörige. Und erst nachdem der Film dieses Geschehen rekonstruiert hat, erscheint der Titel URI und gibt es einen Vorspann. Nach 45 Minuten. Ein eher seltener Kunstgriff. Die eigentliche Geschichte erzählt detailliert von der Vorbereitung und Durchführung der Einsätze gegen verschiedene Terrorzentren auf pakistanischem Boden. In der Fiktion wird alles aufgrund von Recherche rekonstruiert und vor allem mit filmdichterischer Freiheit so konstruiert, dass alle Einwände gegen die offizielle indische Darstellung unbegründet scheinen und somit hinfällig werden können. Eine fürs Radar unsichtbare Drohne, die fliegt wie ein Vogel, wird da erfunden, um das ungewöhnlich tiefe Eindringen in pakistanisches Gebiet zu erklären. Gebaut wird sie von einem Praktikanten, völlig neben der offiziellen Forschung. Für alles gibt es eine Erklärung. Das, worüber es für Außenstehende keine eindeutige Faktenlage geben kann, wird in URI zu einem makellosen Angriff mit unzähligen Toten bei den Terroristen und mit keinem einzigen Toten bei den indischen Spezialeinheiten.

Und genau das scheint mir der Hauptgrund dafür zu sein, dass Aditya Dhars Regiedebüt einer der erfolgreichsten indischen Filme des letzten Jahres war. Dass es ein patriotischer Soldatenfilm ist, ein spannend inszenierter Politthriller hat vermutlich nicht so sehr den Ausschlag gegeben wie diese konstruierte Perfektion. Nicht mal, dass er technisch einwandfrei und vor allem am Ende sehr intensiv inszeniert ist, scheint als Erklärung ausreichend. URI verwandelt die Unsicherheit des Krieges und der Diplomatie in Wahrheit und Perfektion. Ein Film, mit dem man sich sicherer fühlt. URI erzählt also nicht nur von Politik, er ist selbst aktiv Politik gestaltend, denn es ist unausweichlich, dass diese fiktiven Bilder sich als tatsächliche Darstellung des Geschehens in den Köpfen einnisten. Dazu kommt die Beschwörung eines „Neuen Indiens“, das jetzt zu Außenaggression fähig ist und auf die mörderischen Nadelstiche aus einem dysfunktionalen Pakistan und seiner Marionettenterroristen adäquat reagieren wird. Das zumindest ist die Botschaft des Films.

Irgendwie passt dies alles ja auch zur Ironie der Entstehungsgeschichte des Films. Regisseur Aditya Dhar hatte eigentlich an einem Film mit dem in Bollywood erfolgreichen Pakistan-Star Fawad Khan gearbeitet, als die Uri-Terroranschläge zu einem Arbeitsverbot pakistanischer Künstler führten. Und durch Dhars immer intensivere Beschäftigung mit diesen Anschlägen und danach den Armeeeinsätzen gegen die Terroristen wurde dann eben ein ganzer Film, der somit wie die präzise Vergeltung für die Ermordung eines anderen Films wirkt.