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Donnerstag, 31. Dezember 2020

AK VS AK – Anil Kapoor gegen Anurag Kashyap

 

Nachdem Hindi-Superstar Anil Kapoor auf einem Laptop-Bildschirm sehen musste, wie seiner entführten Tochter Sonam Kapoor ein Finger abgeschnitten wurde, stürzt er sich auf den Entführer, den Hindi-Regisseur Anurag Kashyap, und sie prügeln sich heftig, wobei der Weihnachtsbaum und ein Teil der Zimmereinrichtung plattgemacht werden. Das hat natürlich eine Vorgeschichte. Alles fing damit an, dass Kashyap während einer hitzigen TV-Talkshow Kapoor ein Glas Wasser ins Gesicht kippte und dann ein Opfer der von Medien beherrschten Cancel Culture wurde. Niemand wollte mehr mit ihm arbeiten. Seine Karriere war vorbei. Der rettende Gedanke: Kapoors Tochter entführen und den Star zwingen, in einem Reality-Bollywood-Thriller mitzuwirken, in dem er seine Tochter finden und retten soll. Und natürlich ist das alles reine Fiktion und die Netflix-Produktion AK VS AK (2020) ist nicht einmal von Kashyap, denn Regie führte Vikramaditya Motwane, der mit Avinash Sampath das Drehbuch geschrieben hat.

So beginnt die Story zunächst wie eine Komödie im Stil der Sitcoms, in denen jemand eine fiktive, übersteigerte, leicht irre Version von sich selbst spielt, so wie in SEINFELD, PASTEWKA oder der dänischen Serie KLOVN. Dazu kommen noch viele berühmte Leute, aber nichts davon ist echt außer der Fassade. Es ist eine Mediensatire, eine Ironisierung, Selbstironisierung des Bildes, das die Öffentlichkeit hat und sich macht. Das zieht sich durch den ganzen Film, auch noch, wenn er wilder wird. Die beiden Protagonisten beschimpfen sich. Anurag ist nachtragend und immer noch böse, weil Anil ihm vor 17 Jahren eine Absage für einen Film gab. Anil Kapoor sei ein alter Mann und kein Hero-Material mehr. Aber da zumindest die Dialoge des Films übrigens doch von Kashyap selbst sind, lässt er keine Gelegenheit aus, sich selbst zu veralbern. Er ist der Regisseur, der nie einen Hit hatte, der auf den Salman-Khan-Erfolg DABANGG angesprochen wird, der aber doch von seinem Bruder ist. Der Spott über die gescheiterte Ehen. Die Unbekanntheit bei der Masse. Anurag? Anurag wer? Anurag Basu?

Als Anil Kapoor merkt, dass tatsächlich etwas nicht stimmt und Tochter Sonam wirklich verschwunden ist und Kashyap ihr Handy hat, macht er sich auf die Suche. Aber der Star in ihm behindert leider den suchenden Vater, den einfachen Menschen. Ständig muss er seine Nachforschungen unterbrechen, sich fotografieren lassen, einen Tanz aufführen. Da gibt es die wunderbare Szene, wo er verzweifelt in einem Polizeirevier seine Geschichte erzählt, woraufhin das ganze Büro klatscht angesichts der vermeintlich grandiosen Darstellerleistung. Anil Kapoor schauspielert dabei brillant, nicht zu schauspielern. Und die ganze Filmstarfamilie ist da, eine lange Nase den öden Nepotismus-Vorwürfen drehend. Alle: Sonam, Harsh und auch noch Bruder Boney, der so richtig schlechte Laune hat. Ehefrau Sunita wollte übrigens nicht einmal mit ihrer Stimme mitwirken. Sie war bei den Dreharbeiten in Kapoors Haus der einzige Mensch, vor dem man Angst hatte. Hinter jedem großen Mann steht eben eine Frau, die er fürchtet.

Jenseits der ironischen Reality-Action-Fassade ist AK VS AK ein Film über den Gegensatz zwischen Regisseur- und Starkino in Bollywood, das ja vor allem ein Starkino ist. Selbst die besten und berühmtesten Regisseure wie Bhansali oder Ratnam müssen achtgeben auf die richtige Besetzung. Und Kashyaps Erpressungs-Film in AK VS AK ist so auch ein bisschen die Rache am mächtigen Star. Jetzt endlich soll die Überlegenheit über den Star bewiesen werden. Wenn man ihn rausschickt auf die echte Straße ohne Stuntman und klimatisierten Wagen, dann zeigt sich seine Schwäche. Aber der Regisseur plant, und der Star lenkt. Denn plötzlich wird es unübersichtlich. Der Film entgleitet Kashyaph. Sicherheit und Kontrolle lösen sich in Luft auf. Das Drehbuch wurde ohne sein Wissen umgeschrieben. Er wird zerrieben zwischen ehrgeizigen, aufstrebenden, zu jedem Verrat bereiten Jungregisseuren und dem Starsystem. Und es gibt ihn auch hier, den großen, berühmten, überraschenden Story-Twist, der alles umdreht und die Uhren auf Null stellt. Dieser Twist entmachtet den Regisseur und macht den Star noch größer, als er eh schon ist. Das ist der der Sieg des Starkinos über das Regiekino. Der Regisseur mag sich noch so sehr als kinoverrückten Wahnsinnigen selbst für ein Genie halten, am Ende wartet aber doch nur die Klapsmühle und die Zwangsjacke auf ihn.

Stilistisch bedient Motwane sich bei Kashyaps gerne propagierter Methode der Guerilla-Filmerei mit Handkamera. Immer filmen, überall, notfalls versteckt auf der Straße. Oder, genauer gesagt: Es erweckt zumindest den Anschein. Es ist schwer auseinander zu halten, was geplant und was vielleicht tatsächlich improvisiert ist. Es geht in oft rasendem Tempo quer durch die Straßen und Gänge, U-Bahn, Bahnhof, Veranstaltungen, eine improvisierte Einlage, rechts steht Kashyap lächelnd und ist höchst angetan von dem Tanz, der gerade die Menge begeistert. Der grandiose und mutige Anil Kapoor hat sich auf einen gewagten Film eingelassen, aber mit zwei der besten Hindi-Filmemacher jeweils vor und hinter der Kamera konnte er das Risiko auf sich nehmen.

Mittwoch, 30. Dezember 2020

PAATAL LOK (Staffel 1) – Zwischen den drei Welten

Die Amazon-Hindi-Serie PAATAL LOK (2020) ist ein aus neun Folgen bestehender Polizeithriller. Verantwortlich für das Produkt sind vor allem ein Autor, zwei Regisseure und eine Produzentin. Führender kreativer Kopf, der „Creator“, ist Drehbuchautor Sudip Sharma, der zwei der besten Hindi-Filme der letzten Jahre geschrieben hat, zwei Filme von Abhishek Chaubey: UDTA PUNJAB (2016) und SONCHIRIYA (2019). Inszeniert wurde PAATAL LOK von zwei Regisseuren. Einmal Avinash Arun, hauptberuflich Cinematographer, der mit dem Regiedebüt KILLA (2014) einen sehr schönen Filme über und mit Kindern gedreht hat. Und dann Prosit Roy, der bei dem Horrorfilm PARI (2018) Regie geführt hat. Produzentin ist Hindi-Filmstar Anushka Sharma, bei der die Arbeit hinter der Kamera inzwischen weit mehr als nur ein zweites Standbein ist.

Im Mittelpunkt der Story stehen zwei Polizisten. Hauptfigur ist der ältere der beiden, Hathiram Chaudhary, gespielt von dem ausgezeichneten und authentischen Jaideep Ahlawat, der einem zwar schon in Nebenrollen durchaus aufgefallen ist, aber da doch im Schatten der Stars stand. Hathiram hat die Erfahrung, aber auch die ernüchternde und ermüdende Routine von 15 Dienstjahren hinter sich, wobei er unterwegs auf der Karriereleiter steckengeblieben und von untauglicheren, aber anpassungsfähigeren Beamten überholt worden ist. Er ist nicht so gut darin, in die Hintern von Vorgesetzten zu kriechen, aber mit den nötigen großen Ermittlungserfolgen hapert es auch. Er ist kurz vor dem Resignieren und macht seinem neuen jungen und unerfahrenen Partner, dem aber im Gegensatz zu ihm noch eine mögliche große Karriere bevorsteht, nicht viel Hoffnung. Mit dieser von Ishwak Singh verkörperten Figur des noch etwas naiven und zurückhaltenden Imran Ansari lernt der Zuschauer alles kennen. Hathiram und Imran sind ein Hindu-Moslem-Team, was auch thematisiert wird.

PAATAL LOK ist eine Serie über Klasse und Kaste, über getrennt voneinander existierende Welten in einer Gesellschaft, einem Staat. Eine kleine Eingangsrede Hathirams für den Neuling dient als Vorbereitung auf das, was diesen erwartet. Himmel, Erde, Hölle, das wird von Hathiram bezogen auf bestimmte Stadtteile Delhis und was sie für den Polizisten und seine Karriere bedeuten: Was in der Hölle, der Unterwelt, passiert, interessiert sowieso keinen. Und das, was im Himmel passiert, dringt sowieso niemals nach draußen oder es macht Ärger. Karriere macht man mit erfolgreichen Ermittlungen auf der Erde, der Zwischenwelt.

Erste große Szene des Films ist die Verhaftung von vier jungen Leuten aus einem Auto heraus auf einer Brücke. Die Anklage lautet auf Verschwörung zum Mord. Das Opfer soll ein links-liberaler Starjournalist sein, der gerade um seine Karriere kämpfen muss. Mit seinen Recherchen ist er ausgerechnet dem Besitzer des Senders, für den er arbeitet, auf die Füße getreten. Die beiden in diesem Fall zuständigen Polizisten Hathiram und Imran müssen jetzt Beweise heranschaffen und ermitteln erst einmal Namen und die Hintergrundgeschichte der vier Angeklagten. Und so beginnt der Film, zwischen den Welten hin- und herzuspringen. Vom abseitigen Dorf, in dem Kastenverbrechen geschehen, hin zum dekadenten Großstadthotel. Reichtum und Armut. Psychische Wohlstandsprobleme und Kampf ums Überleben. Von der Liebe zu Hunden zum brutalen Serienmörder. Visuell sorgt das für viel Abwechslung – vom sauberen, lichterfüllten Glanz hin zu dunklen Gassen, engen Treppen, schmutzigen Ecken. Es ist eine Ausdehnung in alle Richtungen. In Delhi vertikal von oben nach unten, in allen drei Welten. Dann eine horizontale Ausdehnung in die Provinz, aufs Land, wo die Kaste ein tödlich endendes Problem sein kann, wo legale und illegale Verbrechen Hand in Hand gehen. Da gibt es mehr oder weniger vertauschbare Gangster, Politiker, Geschäftsleute.

Auch wenn fast ein bisschen zu mustergültig indische Problembereiche durchexerziert und es zu jedem Gangster oder Verbrechen gefühlsmäßig eine soziologische oder psychologische Erklärung gibt, wie das heutzutage in Mode ist, entkommt der Film der Gefahr, ein Themenfilm zu sein. Denn PAATAL LOK hat, verstärkt noch in der zweiten Hälfte, eine mitunter fast schon irritierend lockere Struktur, sodass man nie das Gefühl des ideologischen Zeigens oder der politischen Belehrung hat. Alles wird ohne große Empörung, ohne künstliche Aufregung registriert. Trotz der Action-Szenen, trotz großer Nähe zu den Figuren behält die Serie einen ruhigen Rhythmus. Es gibt Abschweifungen, Rückblenden. Es geht darum, die drei Welten sichtbar, fühlbar zu machen.

Die Auflockerung der Erzählstruktur ab der fünften Folge hängt auch zusammen mit dem Bruch in der Geschichte. Die ersten vier Folgen sind noch ein relativ dichter, erzählerisch stringenter Thriller und plötzlich erfolgt die Suspendierung der Hauptfigur vom Dienst und dessen Erkenntnis, dass man einer Scheinspur gefolgt ist, der man brav folgen sollte. Aber Hathiram will es sich selbst beweisen und stolpert von nun an auf eigene Faust durch die drei Welten, um die Wahrheit herauszufinden, und stößt dabei auf das System, das hinter allem steht. Es mag die Trennung der Welten geben, aber im Endeffekt hängt doch alles zusammen und dahinter steht das System. Wie jemand sagt: das System funktioniert, ist immer da, und bloß die Menschen werden ausgetauscht.

Daher ist in PAATAL LOK der Weg, der Akt der Aufklärung wichtiger als die Auflösung. Es ist keine Rebellen-Serie von einem, der auszog, die Welt zu verändern. Denn das System ändert sich nicht. Man kann es eine Weile verlangsamen, Strukturen offenlegen, aber es bleibt unaufhörlich in Gang. Egal ob in Indien oder auch in den USA, wo man sich heutzutage bei der Wahlfälschung sogar ungestraft filmen lassen kann, ohne dass es die System-Medien auch nur im Geringsten interessiert. So schafft PAATAL LOK es, durchgehend politisch ambivalent zu bleiben, wodurch ein abstraktes und kein politisch korrektes Unwohlsein entsteht. Auf der einen Seite gibt es abscheuliche Verbrechen an Menschen niedriger Kasten, auf der anderen Seite spielen die Dalits gewalttätige Hilfsarmee für zweifelhafte Politiker, die sich für sie einsetzen, nur um bei Wahlen ihre Stimmen zu bekommen. Um sich dann nach persönlichen Kontakten mit heiligem Wasser zu waschen.

Der liberale Journalist wird, wie bei uns im Westen, ein Vertreter der gleichgeschalteten Fake-News-Medien, spielt aber weiter den Linken, ist aber bloß nur noch ein Teil des internationalen Reichensozialismus, wo alles nur dafür da ist, die Reichen reicher und die Mächtigen mächtiger zu machen. Folglich bleibt dem einzelnen Menschen nur das Individuelle, das Private, dem ab der fünften Folge viel mehr Raum gegeben wird. Und so besteht das Happy-End nicht darin, dass der Held irgendwelche Bürokraten-Hintermänner ausfindig gemacht hat, sondern dass er mit seiner so lange dysfunktionalen Familie, mit Frau und Sohn, gemeinsam auf der Kirmes ist und dass er in seiner Arbeit seine Würde und sein Selbstvertrauen wiedergewonnen hat.

Sonntag, 27. Dezember 2020

PAAVA KADHAIGAL – Die seelische Leere der Ehre

 

Auf Netflix erscheint PAAVA KADHAIGAL (2020) als kleine vierteilige tamilische Serie, jeder 35-minütige Abschnitt mit jeweils eigenem Vor- und Nachspann, aber eigentlich handelt es sich um einen Episodenfilm, in dem die Einzelteile lose thematisch verbunden sind. Der eher seltsame Titel PAAVA KADHAIGAL (2020), also „Sündhafte Geschichten“, könnte irgendwie übrig geblieben sein von dem ursprünglichen Plan, ein Remake des Hindi-Episodenfilms LUST STORIES (2018) zu machen. Und eigentlich hat man das Thema umgedreht. In einer Gesellschaft mit engmaschigen Kasten- und Moralregeln erscheint normal menschliches Verhalten schnell als sündhaft. Hier handelt es sich übrigens um die erste tamilische Eigenproduktion von Netflix, wo ja leider immer noch ein großes Übergewicht an Hindi-Filmen herrscht.

PAAVA KADHAIGAL enthält vier Geschichten mit sozial-politischer Thematik, und wenn man schon einen Katalog gesellschaftlicher Probleme abarbeiten will, dann tatsächlich am besten auf die episodische Art. Eins nach dem anderen in einer abgeschlossenen Geschichte. Es gibt ja bei uns heutzutage gerne die Tendenz, in Filmen und Serien die cool angesagten Sorgenthemen strichlistenartig abzuarbeiten, um im Sinne der staatspolitisch wertvollen Kultur der Problem- und Bevölkerungsdiversität möglichst alles in einem Werk unterzubringen, ganz ohne Rücksicht auf Dramaturgie und erzählerisches Gleichgewicht. Aber zurück nach Südindien.

Der gemeinsame Nenner der vier Filme auf PAAVA KADHAIGAL ist die sogenannte Ehre, die ja in dem Wort Ehrenmord auftaucht, das man ruhig benutzen sollte, wenn man denn diese Ehre als geistige Perversion definiert. Es geht vorwiegend um Eltern und um Kinder, deren reine Existenz plötzlich ein Stigma, einen Schandfleck im engmaschigen Netz der gesellschaftlichen Normen darstellt. Mord ist da eine ganz logische Lösung. Und so sehr in diese Verbrechen auch religiöse Vorschriften und Gesetze hineinspielen, vollzieht sich der Mechanismus auf einer rein gesellschaftlichen, materiellen Ebene. Aber es ist ein ambivalentes Thema, und da sollte jeder in sich selbst hineingucken, um die eigenen Dämonen zu sehen. Und auch die entsprechende Episode „Vaanmagal“ macht es sich nicht leicht. Denn wenn etwa ein Bruder den oder die Vergewaltiger seiner Schwester umbringt, nicken wir da nicht vielleicht zustimmend, spüren ein bisschen Befriedigung angesichts der vollbrachten Gerechtigkeit? Aber das ist doch auch ein Ehrenmord!

Ein verbreitetes Verhalten herauszuholen aus der Normalität, das macht PAAVA KADHAIGAL inhaltlich bedeutsam. Die Geschehnisse wirken in der verkürzten Form umso heftiger, da sie nicht durch endlose Erzählebenen überlagert werden, die die Laufzeit eines Spielfilms füllen sollen. Rein filmisch hat mich allerdings nur ein Beitrag wirklich beeindruckt. Vieles ist eben sehr vorhersehbar, da es möglichst grässlich und schwer erträglich sein soll.

Sehr vorhersehbar ist „Oor Iravu“ von Vetrimaaran, nur dass es ganz bewusst weit über die Schmerzgrenze hinaus geht. Ein Vater lockt die schwangere Tochter zurück ins Heimatdorf, um sie da zu vergiften. Das Gift wirkt anders als gedacht, und es gibt einen unendlich langen Todeskampf. Dabei ruht die Kamera die meiste Zeit auf dem Vater, gespielt von Prakash Raj, der eine beängstigende, seelenlose Präsenz entwickelt und neben den vielen ausgezeichneten Darstellern die bleibende Erinnerung des Gesamtfilms ist.

In „Thangam“ von Sudha Kongara, geht es um einen jungen homosexuellen Mann, der eine Frau sein will und Geld für eine Operation spart. Er opfert sich für seine Schwester und seinen Freund, die gemeinsam durchbrennen und in der Großstadt heiraten. Ein Jahr später erfahren sie, dass der Bruder und Schwager umgebracht wurde. Interessant an dem Film ist, trotz der vorhersehbaren Handlung, die Charakterisierung des jungen Mannes, der sich in seiner Angst und Verlorenheit ein prophylaktisch aggressives Verhalten angewöhnt hat. Er hat sich in seinen besten Freund verliebt, was kein Wunder ist, da dieser vermutlich der einzige Mensch ist, der jemals wirklich nett zu ihm gewesen ist. „Vaanmagal“ von Gautham Menon schildert das Dilemma einer glücklichen Familie angesichts des Problems, wie sie mit der Vergewaltigung der 12-jährigen Tochter durch Freunde des Bruders umgehen soll. Kein einfacher Weg wird aufgezeigt, es sei denn, man befreit sich von der Angst darüber, was die anderen sagen, man erkennt das Konzept der Ehre als Konzept der kollektiven Unterdrückung an.

„Love Panna Uttranum“ von Vignesh Shivan ist der Beste der vier Filme. Ein Politiker muss gegen seine Überzeugung handeln und lässt seine Tochter und deren Freund umbringen. Da reist die Zwillingsschwester aus der Großstadt an. Diese Episode meidet den reinen Sozialrealismus und legt angesichts eines bedrückenden Themas keine falsche, ehrfürchtige Pietät an den Tag. Sie führt nicht in die geistige Verzweiflungssackgasse. Durch kruden Humor und einen Sinn für das Absurde ist Shivan so dem Wahnsinn des Kastensystems besser auf der Spur als die, die einfach nur zeigen, was da ist. Der Politiker, der mit Kaste Wahlkampf macht, ist plötzlich im eigenen Haus wie ein Gefangener der in der Vergangenheit selbst herbeigerufenen Dämonen.

Samstag, 26. Dezember 2020

PAKT MIT DEM TEUFEL – CHANDRA BOSES KAMPF UM INDIENS UNABHÄNGIGKEIT

 

Tilman Remmes Dokumentarfilm PAKT MIT DEM TEUFEL – CHANDRA BOSES KAMPF UM INDIENS UNABHÄNGIGKEIT ist von 2008 und hat inzwischen schon so manche öffentlich-rechtliche TV-Ausstrahlung auf dem Buckel. Dass ich diesem informativen, knapp einstündigen Film dennoch jetzt einen Blogbeitrag widme, liegt einmal daran, dass er als thematischer Abschluss einfach passend ist, nachdem es in den letzten zehn Monaten in drei Blogbeiträgen hier um Filme ging, in denen der indische Politiker und Freiheitskämpfer Subhas Chandra Bose direkt oder indirekt im Zentrum steht. Filme, in denen es um die während des Zweiten Weltkrieges deutsch unterstützte Legion Freies Indien oder die japanisch geförderte Indian National Army geht. Zweitens habe ich jetzt erst entdeckt, dass die deutsche DVD von PAKT MIT DEM TEUFEL noch 100 spannende Minuten Zusatzmaterial in Form von äußerst interessanten Interviews enthält. Und zumindest zum jetzigen Zeitpunkt gibt es diese Doppel-DVD noch sehr preiswert online zu kaufen. Selbst wenn also jemand einfach nur mal neugierig reingucken will, da kann man so gar nichts falsch machen.

PAKT MIT DEM TEUFEL ist eine solide, faktenreiche und unideologische Zusammenfassung mit einer Unmenge an Archivbildern. Zwar geht es um die ganze Lebensgeschichte Boses, aber der Schwerpunkt liegt natürlich bei seinen Versuchen, von den Achsenmächten aus eine indische Armee aus Kriegsgefangenen zusammenzustellen, deren Einsatz auf indischem Boden die Initialzündung für einen landesweiten Aufstand gegen die britische Besatzung sein sollte. Erst mit Deutschland, wo der Britenfan Hitler sich nicht für den indischen Freiheitskampf interessierte, dann mit Japan. Dabei endet es nicht mit Boses Tod, oder besser gesagt dessen Verschwinden  im Jahr 1945, denn die britischen Hochverratsprozesse gegen drei "Freies Indien"-Offiziere riefen riesige indische Solidaritätsdemonstrationen hervor und machten den Briten ihre totale Wehrlosigkeit im Krisenfall deutlich.

Die Legion Freies Indien war eine seltsame ausländische Armee im deutschen Reich mit seinem absurden Rassenwahn, wo man zwar „Arier“ sagte, aber eigentlich „Germane nordischen Typs“ meinte, wo es aber dennoch Sympathien für südöstliches Denken und besonders Indien gab, darunter durch SS-Chef Himmler. Die Legion wurde nach der Abreise Boses aus Deutschland tatsächlich nicht wie andere ausländische Einheiten an der Ostfront verheizt. Das Versprechen Himmlers an Bose wurde also wirklich gehalten. Erst wurde die Legion in Holland eingesetzt, dann bei Bordeaux, wo es auch klimatisch für die vom Wetter angegriffenen Soldaten besser war.  Zu diesen politisch-historischen Zusammenhängen kommt der menschliche Blickwinkel durch die Einbeziehung Anita Pfaffs, der österreichischen Tochter Boses, die bei einem Besuch in Indien ist und wo der Zuschauer die große Verehrung für ihren Vater, die sich dann auch auf sie überträgt, betrachten kann.

Erstes Interview auf der Bonus-CD ist eines mit Surya Kumar Bose, einem Großneffen von Subhas Chandra Bose. Jener ergänzt den Lebenslauf des Großonkels durch eine ausführliche Darstellung von dessen Werdegang und den Konflikten innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung. Außerdem gibt es spannende persönliche Details zu Boses Ende, das vermutlich nicht durch einen Flugzeugabsturz hervorgerufen wurde. Der Neffe erzählt, wie Boses Begleiter hinterher seltsame Dinge erzählte, die nicht passen, so wie auch die angeblichen Fotos des Wracks ein US-amerikanisches Flugzeug statt eines japanischen darstellen und man auf einem Bild einen Tempel sehen kann, den es zum Zeitpunkt des angeblichen Absturzes gar nicht mehr gab. BETWEEN GANDHI AND HITLER – THE MYSTERIOUS DEATH OF AN INDIAN HERO ist übrigens der englische Titel der Doku, die sicher haupsächlich in Indien gesehen wird, und das zeigt, wo dort das Hauptinteresse liegt. Da muss man keine grundlegenden Infos über Bose mehr verbreiten. Die Diskussion über sein Verschwinden hält bis heute an.

Das zweite Interview wurde mit Dr. Rudolf Hartog geführt, der als Dolmetscher ja nah dran war an den indischen Soldaten. Er hat auch ein Buch geschrieben zu dem Thema. Er berichtet von seinem Weg von der Ostfront in die Legion. Und er gibt Einblicke in das innere Leben der Legion, vor allem das private. In der Doku gab es schon einen Ausschnitt, wo sich Menschen aus dem Ausbildungs-Ort Kirchenbrück positiv an die Inder und ihre Lieder erinnern können. Hartog berichtet zusätzlich von menschlichen Kontakten und Völkerfreundschafts-Kindern, während die reichsdeutschen Rassengesetze solche Verbindungen oder gar eine Hochzeit eigentlich grundsätzlich verbaten.

Das dritte Interview ist mit dem Offizier und Ausbilder Wilhelm Lutz, der über die militärische Organisation und ihre Einbettung in die deutsche Militärhierarchie berichtet. Wiederholt erwähnt er das warme Charisma, das Bose bei der Anwerbung der indischen Kriegsgefangenen entwickeln konnte, während er zu den deutschen Offizieren ein kühles und distanziertes Verhalten an den Tag legte. Sowohl Hartog als auch Lutz machen klar, dass die Legion keine Einheit der Waffen-SS, sondern eine der Wehrmacht war, und dass die Eingliederung in die SS erst gegen Kriegsende im Zuge einer allgemeinen, von Himmler bei Hitler durchgesetzten, Umorganisation stattgefunden hat. Aber sie wurde in dem End-Chaos nie völlig vollzogen und blieb sehr oberflächlich. Und bei der Gefangennahme konnte sie daher ohne Schwierigkeiten vertuscht werden.

Dienstag, 22. Dezember 2020

Anurag Basus LUDO – Das ganze Leben ist ein Spiel

Das Leben ist wie „Mensch ärgere dich nicht“, international auch als „Ludo“ bekannt. Das ist die Grundweisheit von Anurag Basus gleichnamiger Hindi-Gangster-Action-Komödie LUDO (2020), das hier sogar ein Spiel des Totengottes, in der Gestalt von Basu selbst, und seines Buchhalters ist, die dann durch das Chaos, das sich abgespielt hat, in ihrer ironischen Allwissenheit schreiten. Denn sie sind, wie die Kamera und mit ihr die Zuschauer, immer pünktlich am zentralen Ort des Geschehens. Natürlich ist das alles bloß ganz amüsanter Formalismus, der eigentlich nur helfen soll, die einzelnen Episoden in diesem Schachtelfilm zusammenzuhalten. Natürlich ist das Leben nicht wie Ludo, denn nach dem Herauswurf darf man ja mit einer Sechs wieder auf dasselbe Spielfeld zurück. Wiederauferstehung statt Wiedergeburt sozusagen. Also vielleicht ist das Leben ja eher wie „Schiffe versenken“, da geht man unter und das war's, aber das Spiel hat man ja mit dem Trash-Blockbuster BATTLESHIP (2012) vor ein paar Jahren schon verfilmt. Und übrigens, ich habe gerade einen Artikel gelesen, in dem es hieß, nicht nur das Leben, nein, das ganze Universum, sozusagen unsere universale Existenz, seien wie Schach. Genau genommen habe ich aber nur etwa die Hälfte gelesen. Dann hatte ich keine Lust mehr auf die ganze verwurstete Logik. LUDO allerdings habe ich ohne Pause, Toilettenpause nicht mitgerechnet, bis zum Ende geguckt, weil ja doch auch so einiges passiert und es über weite Strecken sehr unterhaltsam ist.

Nach der Eröffnung durch einen Mord finden sich nach und nach alle im Hauptquartier eines Gangsters ein. Und da kommen alle Figuren-Farben aufs Spielfeld in Form einer stilgerechten Eröffnung, denn dabei müssen sie über einen tiefen Wassergraben springen. Und dann findet erst mal durch eine Explosion ein Massenherauswerfen mit vielen Toten statt. Solch ein Massenschlachten gibt es noch einmal am Ende. Und man hat das Gefühl, dass Basu den Film vor allem für die ausgeklügelten Konstruktionen des Anfangs und des Endes gedreht hat. Leider wird es in der langen Mitte hin und wieder etwas gedehnt. Die vier Hauptspielfiguren, zu denen sich noch einige Partnerfiguren gesellen, sind: außer dem Gangster ein junger Mann auf der Suche nach einem die Frau kompromittierenden Sexvideo, ein Gangster mit Sehnsucht nach seiner kleinen Tochter, ein unglücklich verliebter Restaurantbesitzer.

Das Beste am Film ist nicht die amüsant-theoretische Ludo-Prämisse, sondern sind die äußerst gut gelaunten Darsteller, denen das Ganze offensichtlich Spaß gemacht hat. Alle überragend ist Rajkummar Rao als tragikomisch verliebter Ex-Gangster im peinlichen Mithun-Chakraborty-Look, der der Liebe seines Lebens, die einen anderen geheiratet hat, einfach nichts abschlagen kann. Anstatt klugerweise das Weite zu suchen, wenn sie auch nur am Horizont auftaucht, erstarrt er, hängt an ihren Lippen und tut, worum immer sie ihn bittet. Und das ist nicht wenig. Dann ist da Pankaj Tripathi als unendlich schmieriger Gangster. Aditya Roy Kapoor als mittelloser Bauchredner, Synchronsprecher und Stimmenimitator. Oder Sanya Malhotra, die reich heiraten will, aber sich gerne wider besseres Wissen volllaufen lässt und dumme Sachen macht. Und während alle sich auf die eine oder andere Art austoben dürfen, hat Abhishek Bachchan die Rolle des Verlierers und Ausgestoßenen, der sowieso keine Chance hat. Mit überwiegend finsterem Gesichtsausdruck und demonstrativ vorgeschobener Unterlippe absolviert er seinen Part, um den herum die ewig lange Entführungsgeschichte aus Basus BARFI (2012) neu aufgekocht wird. Als wäre es da nicht schon ausreichend überstrapaziert worden. Da hätte man Bachchan etwas Originelleres gegönnt. Das ist definitiv der schwächste Teil des ganzen Erzählknäuels.

Mit diesem großen Ensemblefilm knüpft Basu von der Struktur her an seinen, neben GANGSTER-- A LOVE STORY (2006), schönsten Kinofilm LIVING IN A … METRO (2007) an, der auch verschiedene Schicksale miteinander verflochten hat. Sonst macht es sich Basu ja ganz gerne sehr leicht. Seine beiden wohl bekanntesten Filme sind reine, technisch einwandfreie Oberflächenwerke, stylisch, perfekt gemacht, aber bei genauerer Betrachtung ziemlich leer. Einmal KITES (2010) mit seiner Hochglanzfassade und Hrithik Roshans breitem Damenbezauberungs-Dauerlächeln, das die, auf die es nicht wirkt, durchaus nerven kann. Und dann die aufgesetzte Dauernaivität von BARFI mit seiner Penetranzpoesie. Auch in seiner TV-Arbeit springt Basu unbefangen von Anspruchsvollerem wie der TV-Serie STORIES BY RABINDRANATH TAGORE (2015) zu einer Rolle als Jurymitglied in „Super Dancer“. Bei LUDO, der sich irgendwo dazwischen bewegt, verflüchtigt sich jetzt in den besten Momenten erfreulicherweise alles in Action, Tempo, Chaos und Ironie.

Montag, 30. November 2020

Shyam Benegals NETAJI SUBHAS CHANDRA BOSE: THE FORGOTTEN HERO

NETAJI SUBHAS CHANDRA BOSE: THE FORGOTTEN HERO (2004) ist kein sehr persönlicher Film von Shyam Benegal. Es ist die solide Inszenierung eines fertigen Drehbuchs, das vor allem ein sehr weichgezeichnetes Porträt des indischen Freiheitskämpfers Subhas Chandra Bose enthält, der im Rahmen des dramaturgisch Möglichen sehr subtil von Sachin Khedekar verkörpert wird. Die Inszenierung konzentriert sich ganz auf die solide, funktionale Umsetzung der Story. Daher hat es wenig Sinn, hier von Stil oder Ästhetik zu schreiben. Struktur und Inhalt des Drehbuchs müssen vor allem auch wegen der sehr vereinfachten ideologischen Botschaft des Films im Vordergrund stehen Wobei aber der ausgezeichnete Soundtrack von A.R. Rahman zumindest kurz erwähnt werden sollte.

Der Film beginnt mit der politischen Trennung von Gandhi und Bose, dem Abschied von Bose von der Kongresspartei. Es folgen sein Gefängnisaufenthalt, sein Hungerstreik und der Hausarrest. Mit seiner Flucht 1940 aus dem eigenen Zuhause, unter den Augen der Polizei, folgt seine lange diplomatisch-militärische Odyssee über Afghanistan nach Berlin, nach Japan, nach Singapur, Burma, der japanisch-britischen Frontlinie vor Indien und seinem letzten Flug, nach dem er nie wieder gesehen wurde. Keiner weiß, ob er abgestürzt, abgeschossen oder später von den Sowjets ermordet wurde. Die offizielle Meldung war einfach Absturz. Dem Privaten, seiner engen, mindestens eheartigen Beziehung mit der Österreicherin Emilie Schenkl, mit der er die Tochter Anita hat, wird sehr viel Platz eingeräumt. Der Film zeigt ihn als idealistischen, mutigen, entschlossenen Mann, der alles der Befreiung Indiens unterordnet. Es soll der Eindruck vermittelt werden, dass er immer genau und sehr rational wusste, was er tat und Herr jeder Situation war. Vor allem will der Film zeigen, dass er totalitäre Mächte wie Deutschland, Italien, Japan und am Ende auch die UdSSR nur als Mittel zum Zweck benutzen wollte, dass er tief in seinem Herzen ein freiheitsliebender Mensch war.

Bei der inhaltlichen Kritik des Films muss man zwei Dinge unterscheiden. Einmal die rein persönliche Darstellung von Subhas Chandra Bose, seines Charakters, seiner Persönlichkeit, seiner politischen Ziele. Selbst ein Zuschauer, der nichts von Bose weiß, muss irgendwann der Verdacht kommen, dass hier etwas nicht stimmt, denn kein Mensch ist dermaßen perfekt. Wobei es schwer zu beurteilen ist, ob es sich um die typische idealistische Bollywood-Heroisierungsstrategie handelt, oder tatsächlich um ganz bewusste Geschichtsklitterung. Denn was der Film verschweigt, ist, dass Bose ein Militarist war, der schon in den 20ern in Operettenuniform auftrat, dass er eine Diktatur, eine Mischung aus „Nazismus und Kommunismus“ für Indien wollte, dass er ein Bewunderer Mussolinis war, dem er in Italien persönlich sein Buch „Indian Struggle“ (1935) über den indischen Freiheitskampf überreichte. Und er war beileibe nicht immer so sanft, wie es in dem Film erscheint. Er duldete keinen Widerspruch und ging als Oberbefehlshaber hart gegen Abweichler vor.

Das andere ist aber die Wirkung seines Handelns, seines Krieges gegen die Briten. Es ist eine Tatsache, dass sein Redetalent, sein Idealismus und Patriotismus es schafften, eine Armee aus allen Kasten, Religionen und beiden Geschlechtern zusammenzustellen, die zwar in der Zahl verhältnismäßig klein war, aber durch überragenden Mut die Massen in Indien anstacheln sollte, es ihr gleich zu tun. Vor allem wollte man die vielen indischen Soldaten im Dienste der Krone ansprechen. Und da kann es tatsächlich kaum einen Zweifel geben, dass die Tatsache, dass er den Briten vorführte, dass die Loyalität zum britischen Imperium umgedreht werden kann, die Kolonisatoren verunsicherte. Und daher sollte bei der quasireligiösen Verehrung von Gandhis gewaltlosem Widerstand nicht vergessen werden, dass eine schlagkräftige Geisterarmee in seinem Rücken stand, die die Briten drohend anstarrte.

Ein echter Bose-Film dürfte also nicht dem heilig sprechenden Porträt nach dem Muster von Attenboroughs GANDHI (1982) folgen, sondern müsste aus Boses persönlicher und politischer Ambivalenz seine Spannung ziehen. Dass Bose diese totalitären Charakterzüge hatte, aber gerade damit, und gerade auch durch sein Scheitern, für die Unabhängigkeit erfolgreich war. Doch solch ein Versuch ist nicht einmal im Ansatz vorhanden. Das Problem des Films liegt allerdings überhaupt nicht, wie manche Kritiker bei der Premiere andeuteten, in den geringen finanziellen Mitteln. Massenszenen und riesige Schlachten sind nicht automatisch ein Qualitätssiegel. Und wenn man dann doch mit teilweise sogar bewegtem Interesse den immerhin 3 1/2 Stunden des Films folgt, dann liegt dies gerade an dessen großer Intimität.

Übrigens habe ich meine Zweifel, ob solch ein erwähnter idealer Bose-Film in Indien überhaupt möglich wäre, ohne dass es zu heftigen Protesten käme. Den beleidigten Bose-Parteigängern in Bengalen war ja schon die Darstellung von Boses inoffizieller Ehe mit Frau Schenkl zu viel. Die Premiere in Kalkutta musste vorsichtshalber abgesagt werden.

Sonntag, 29. November 2020

Shyam Benegals TRIKAL (PAST, PRESENT, FUTURE) – Das portugiesische Goa

 

Shyam Benegal hat 1985 mit TRIKAL (PAST, PRESENT, FUTURE) einen, angesichts seines bis dahin durchgängig sehr realistischen Werkes, ungewöhnlichen Film gedreht. Ein Film ohne lineare Haupthandlung, dafür mit vielen kleinen Handlungen und Szenen innerhalb einer portugiesischen Familie in derem großen Anwesen und dem anliegenden Garten in Goa. Durchzogen von einer traumhaften Atmosphäre, magisch unterstützt durch Geisterbeschwörungen, die aber nicht den gerufenen Geist erscheinen lassen, sondern die düstere Seite der Vergangenheit, die man am liebsten vergessen möchte.

Die Familie ist ein Symbol für die Veränderungen im Jahre 1961, als die indische Armee durch einen Einmarsch dem portugiesischen Kolonialismus ein Ende machte. Diese portugiesisch geprägte Welt sieht man im Film sonst nie von innen heraus. Die aktuellen politischen Ereignisse stehen aber nicht ständig im Mittelpunkt, sondern sind zwischendurch Teil der Gespräche, der Diskussionen. Das Vergangene taucht aber sehr konkret auf in den zwei Geistererscheinungen von ermordeten Freiheitskämpfern und kurzen Montagesequenzen hinein in die grausame inquisitorisch-katholische Epoche.

Die ganze Struktur des Films ist von der Erinnerung, der Anwesenheit des Alten im Neuen geprägt. Gleich der Vorspann bringt Gegenwart und Vergangenheit in einer Sequenz zusammen. Das erste Bild ist das eines indischen Landarbeiters, der einen Sarg quer durch ein grünes Getreidefeld trägt. In einer Parallelmontage sieht man Bilder des modernen Goas und einen Mann namens Francis, eine kleine Rolle für Naseeruddin Shah, der nach 24 Jahren seinem Herkunftsort in Goa, den er noch kurz vor Ende der portugiesischen Herrschaft in Richtung Bombay verlassen hat, einen Besuch abstattet. Er kommt zu einem verlassenen, nur von einem alten grauen Wärter bewohnten Anwesen. Der Inder mit dem Sarg tritt ins Bild, bleibt aber draußen unbeweglich vor der offenen Haustür stehen. Erst später begreift man, dass er zu der nun folgenden Rückblende gehört, die die Beerdigung des Familienoberhauptes im Jahre 1961 zeigt.

Jetzt ist die Familie ohne Führung. Und begüterte Großfamilien, wie man von den Buddenbrooks oder auch den Corleones weiß, sind am schönsten und ergreifendsten in ihrem Ende und Verfall. Diese filmische Konstruktion um ein altes, leerstehendes Haus und der anschließenden Rückblende mit dem Untergang einer Familie erinnert ein bisschen an die Struktur der letzten großen Produktion SAHIB BIBI AUR GHULAM (1962) von Benegals Cousin Guru Dutt.

Im Mittelpunkt stehen drei Frauen. Zum einen die ältere Dona Maria, deren Mann gerade gestorben ist und die seinen Tod nicht akzeptieren will. Sie lebt ganz in ihren Erinnerungen. Dann Dona Marias junge, sehr stille persönliche Hausangestellte Milagrenia, die als ihr Medium bei spiritistischen Sitzungen fungiert. Schließlich die Enkelin Ana, die einen jungen Mann aus einer guten, extra aus Portugal angereisten Familie heiraten soll, sich aber für einen flüchtigen Revolutionär entscheidet. Francis hingegen hat nur eine kleinere Rolle als glückloser Verehrer von Ana und ist derjenige, der die Hausangestellte schwängert und daraufhin von seinem Onkel schnell nach Bombay geschickt wird. Nach oben hin, Ana, hätte er gerne geheiratet, aber doch nicht nach unten, eine Hausangestellte.

Die Figurenzeichnung ist nicht ohne Ironie. Da ist Anas konservativer Vater, dem bei Gemütsbewegungen immer die obere Zahnreihe herausfällt, so wie bei der Beerdigung des Schwiegervaters oder beim Schimpfen mit seiner Tochter. Oder die nicht enden wollende Hysterie der Tochter Dona Marias angesichts der Ungerührtheit der Mutter, die den Tod ihres Mannes nicht wahrhaben will und die Beerdigung für  unecht hält.

TRIKAL ist visuell sehr schön und mit seinem warm-goldenen Licht in Innenräumen mit Kerzen- und Petroleumlicht wirkt es nicht wie 1961. Hier hat sich wirklich etwas absolut Überlebtes erhalten. Voller Schönheit und Eleganz, aber anachronistisch. Dies sowie der Garten im blauen Mondlicht, Lichtsäulen, die durch die Bäume fallen, legen die ästhetische Grundlage für die Magie der Geisterszenen. Dazu kommt die sehr flüssige Erzählweise, der ständige Übergang zwischen den Handlungssträngen. Das alles könnten Figuren aus einem südamerikanischen Roman des „magischen Realismus““ sein. Im Hintergrund erklingt fast ohne Pause eine sehr sentimentale Musik wie aus einer Seifenoper. Benegal verzichtet auf hässliche Verfallsästhetik. Es ist eher die morbide Schönheit des Zuendegehens, die aber nicht überstrapaziert wird. Die Musik- und Tanzszenen bei einer Verlobungsfeier sind ausgesprochen schön und heiter.

Am Ende geht es zurück in die Gegenwart, und auf Francis wartet eine Rückfahrt voll Wehmut, Bedauern und Schuld. Sein Interesse für seinen unehelichen Sohn, den er vermutlich nie gesehen hat, kommt zu spät. Es ist niemand mehr da. Aber er hat erfahren, dass Ana und ihr Mann das Haus gekauft haben, um aus Portugal zurückzukommen. Hier konkretisiert sich die Verbindung aller drei Zeitebenen des Filmtitels.

Donnerstag, 26. November 2020

Hansal Mehtas CHHALAANG – Es lebe der Sport

Hansal Mehta hat mit CHHALAANG (2020) mal zur Abwechslung einen „family entertainer“ gedreht und das Einzige, was diese nett-harmlose, hübsch-belanglose Komödie mit seinen letzten politischen Filmen gemeinsam hat, ist Hauptdarsteller Rajkummar Rao. Der Film gehört mal wieder ganz ihm. Gut, seine Partnerin Nushrat Bharucha ist hübscher, darf aber leider über die Funktion als begehrtes Liebessstreitobjekt und moralische Stichwortgeberin nicht hinauskommen. Diese romantische Sportkomödie ohne große Überraschungen ist durchweg solide inszeniert von Mehta. Mehr konnte er bei dem simpel gestrickten Drehbuch aber auch nicht machen. Sein wirklich wichtiges neues Werk, die Web-Serie SCAM 1992: THE HARSHAD MEHTA STORY (2020), bekommt man hierzulande leider nicht zu sehen.

Die Story von CHHALAANG ist ziemlich einfach und im Ganzen ziemlich konstruiert und so überraschend wie ein Teller familienfreundliche Haferflocken. Es beginnt mit dem faulen Leben des Kleinstadtsportlehrers Montu, wohlgemerkt eines unausgebildeten Sportlehrers, der an der Schule, auf die er selbst gegangen ist, hängen geblieben ist. In der Freizeit spielt er den Hindu-Rowdy und terrorisiert harmlos herumsitzende Liebespaare im Park, darunter auch ein älteres Ehepaar. Wobei man sich diese Energie bei dem Kerl gar nicht vorstellen kann, aber das Drehbuch will es so, denn durch diesen Trick kann es von Anfang an Reibereien mit der hübschen neuen Informatiklehrerin geben, die zufällig die Tochter des terrorisierten Ehepaares ist. Im dritten Teil wird ein echter Sportlehrer eingestellt, für den Montu Assistent spielen soll, wofür sein Ego aber keinen Raum lässt, jedenfalls fürs Erste. Der Film kreist um die immer größere Rolle und Bedeutung des Sportes in Indien auch außerhalb des Nationalsports Kricket, wofür die vielen Sportfilme in den letzten Jahren schon ein guter Indikator waren.

Schließlich gibt es einen großen Wettbewerb von zwei Teams, jeweils trainiert von den Sportlehrerrivalen. Montu trainiert die Loser und die Mädchen, die bei der Zusammenstellung des vermeintlichen Gewinnerteams gar nicht erst in Betracht gezogen wurden. Am Ende hat man dann das Gefühl, dass man bei den moralischen Lehreinheiten, die die Hauptfigur durchmacht, leicht hätte den Anschluss verlieren können, weil es so viele waren. Denn besonders die zweite Hälfte des Films ist voller moralischer Feinheiten zum Einpacken und Mitnehmen, also wenn man im Kino sitzen würde, aber so online kann man sie sich natürlich sofort zu Hause ins Regal stellen. Man soll den Sport ernst nehmen. Man soll nicht so faul sein. Man soll kein Arschloch sein. Und vor allem soll man nicht sofort aufgeben, wenn es Widerstände gibt. Aber eigentlich denke ich hinterher nur an eine Szene, genauer gesagt meine Lieblingsszene: Basketball-Dribbel-Training auf einem Feld voll sorgfältig angeordneter Kuhscheiße. So eine Übung hätte ich gerne in meinen nostalgischen Schul- und Sporterinnerungen.

Dienstag, 24. November 2020

HALAL LOVE STORY – Film ist für alle da

In Indien sind Kino und Religion nicht zu trennen. Das Kino ist eine Art Nebenreligion, oder, besser gesagt, Zusatzreligion, vereinbar mit jedem Glauben. Nur eben nicht immer in der Praxis. Da laufen spärlich bekleidete, nicht verheiratete Pärchen um Bäume herum oder machen Schlimmeres vor der Kamera. Das muss doch auch anders gehen, denken sich in der Amazon-Prime-Produktion HALAL LOVE STORY (2020) von Regisseur Zakariya einige kulturell und politisch engagierte Mitglieder einer ländlichen, islamisch konservativen Gemeinschaft im südlichen Bundesstaat Kerala, die auch am Filmleben teilhaben möchten, ohne sich an die normale Industrie anpassen zu müssen. Also beschließen sie, ein eigenes Werk als einstündigen TV-Film zu produzieren, der auf einem entsprechenden Sender gezeigt werden kann.

In der Praxis stößt so ein halal Film natürlich auf Schwierigkeiten. Das Projekt muss erst einmal durch die entscheidenden Verwaltungsgremien. Und dann die schwierige Pre-production. Das fängt schon bei der komplizierten Besetzung der beiden Hauptrollen eines Ehepaares mit einem obligatorischen echten Ehepaar an. Die Geschichte von HALAL LOVE STORY (2020) spielt zur Zeit des Irakkrieges und in der islamischen Gemeinschaft gehört Anti-US-Propaganda momentan ganz besonders zur Folklore. Da muss mal eben eine George-Bush-jr.-Puppe verbrannt oder Coca-Cola boykottiert werden. Das ist da ganz normal. Wobei man sich schon fragt, für wen sie das eigentlich machen, wo es doch von außerhalb keiner mitkriegt.

Alles wird natürlich durch einen sehr netten Weichzeichner gezeigt. Einerseits will man keine religiösen Gefühle verletzen, diese auch nicht lächerlich machen, andererseits will man auch keinen Extremismus verharmlosen. Aber es ist ein netter Film, der wirklich keinem weh tut. Dieser Malayalam-Film ist äußerst charmant, sympathisch und emotional authentisch. Das ist eben das Geheimnis der Filmproduktion aus Kerala. Da sind die vielen liebevoll charakterisierten Nebenfiguren. Da ist die genaue Beobachtung der kleinen, alltäglichen Dinge. Diese unaufdringlich gefilmten Details geben dem Film Substanz und Wärme. Aber klar, die meisten Kinokulturen, besonders die deutsche, würden aus so einem Stoff einen fürchterlichen holzschnittartig politisch korrekten Film machen, der nicht einen Moment lang echt klingen würde.

Aber der Film bleibt auch bei dem religiösen Thema nicht stehen, obwohl es natürlich immer wieder anklingt und in der großen Schlussszene noch einmal ganz und gar bestimmend wird. Über weite Strecken ist HALAL LOVE STORY einfach die Darstellung der schwierigen Dreharbeiten eines Films mit Amateurdarstellern in einer ländlichen Gegend. Daher bezieht der Film viel seines Humors. Ein Toningenieur erweist sich schnell als autoritärste Person im Film. Sein „Ruhe“ bringt sogar den Regisseur zum Schweigen, bis es zu Beschwerden der Anwohner kommt, die bald das Gefühl haben, sich nicht mehr rühren und kaum atmen zu dürfen.

Und es ist ein Film über die Liebe zum Film, für den einfach arbeitende Menschen schon einmal eine Woche lang ihr Geschäft schließen. Aber nicht immer wird diese Liebe erwidert, denn manchmal fehlt das Talent. Dazu kommen die parallelen Eheprobleme einerseits des Regisseurs und andererseits des Hauptdarsteller-Ehepaares. Denn die Dreharbeiten lösen bei diesem indirekt eine Krise aus, die sich wiederum ungünstig auf die Dreharbeiten auswirkt. Aber natürlich endet alles in der großen Harmonie. Und damit ist vermutlich nicht zu viel verraten.

DER SCHWARZE BRUNNEN – Mörderische Mädchengeister

 

DER SCHWARZE BRUNNEN / KAALI KHUHI  (2020) von Terrie Samundra ist ein dörflicher, surrealer Geisterfilm um das Thema weiblicher Kindsmord, das sich aus den verschiedensten Gründen durch die indische Geschichte zieht und nicht nur bei armen Leuten vorkam oder vorkommt, die kaum genug für sich selbst haben oder niemals eine Mitgift werden bezahlen können. Der Film bleibt aber sehr allgemein und abstrakt, was das Thema angeht. Das, was im Film geschieht, ist eher ein Symbol für das gesamte Thema, ohne sich in konkrete Motive oder Zusammenhänge zu stürzen. Nach einem alten Ritual gehen greise Frauen zu einem Brunnen am Rand der Felder und werfen das jeweilige weibliche Neugeborene hinein. Diese oft wiederholte Tat ist die vielfache Sünde der Vergangenheit, die geheilt werden muss, damit ein über dem Dorf liegender Fluch aufhört, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. So gesehen geht es hier nicht anders zu als in unzähligen anderen gruseligen Filmen.

Der Film ist visuell sehr schön, vor allem in seinen Nachtbildern, dem Nebel, der über den dicht bewachsenen Feldern hängt, den engen, dunklen Gassen im labyrinthischen Dorf. Es beginnt mit einem Prolog, in dem ein ein kleines Mädchen die Gegend unsicher macht. Ein Mann wird in einen unbenutzten Brunnen gezogen. Eine alte Frau bricht vor Schreck zusammen angesichts des kleinen Mädchens mit einer Kette. Der Sohn, mit Frau und Tochter, kommt sofort angereist und sie werden in die seltsamen Geschehnisse des verfluchten Dorfes hineingezogen. Die 10-jährige Tochter ist die Hauptfigur des Films und der Schlüssel zur Auflösung des Geschehens. Die Nachbarin, die über alles Bescheid weiß, wird von Shabana Azmi in ihrer ersten Gruselfilmrolle gespielt.

DER SCHWARZE BRUNNEN ist eine Anhäufung von Unerklärlichem. Da sind Erwachsene, die irre Sachen machen und mächtig Angst vor kleinen Mädchen haben. In den besten Augenblicken steigert sich dies zu echtem Irrsinn und surrealen Bildern wie dem Blut in der Milch beim Melken, dem irren Kind, das sich den Kopf auf dem Steinfußboden blutig haut und einem anderen Kind Fleisch aus dem Arm beißt. Trotz allem verlässt der Film aber nie die Pfade einer gewissen Gepflegtheit. Man will es offensichtlich nicht übertreiben. Der Irrsinn wird am Ende folglich abgebrochen, anstatt ihn völlig ausbrechen zu lassen. Und der Schluss ist, angesichts der Thematik, höchst unbefriedigend, könnte aus jedem anderen Horrorfilm mit einem Kind als Hauptfigur stammen.

Mal allgemein gesagt: Irgendwie stottert es bei den indischen Netflix-Eigenproduktionen in der Sparte abseitige Indie-Genrefilme. Und irgendwie kann man ein Muster erkennen. BULBBUL kommt erst in der zweiten Hälfte in Fahrt. CARGO ist so dermaßen getragen langweilig, dass ich ihn bis heute nicht zu Ende geguckt habe. Und jetzt also DER SCHWARZE BRUNNEN, der zwar die erwähnten visuell-atmosphärischen Qualitäten hat, aber auch mit angezogener Handbremse fährt. Was alle drei Filme gemeinsam haben, ist, dass sie wirken, als wären sie vor allem aus auf einen bürgerlichen Kulturpreis. Terrie Samundra sagt selbst, dass ihr Film normalerweise auf Festivals gezeigt würde. Das ist korrekt, aber ändert nichts daran, dass diese Filme alle drei ziemlich verliebt sind in ihren eigenen Look, ihre Atmosphäre, ihre Bedeutung. Dass es auf sich selbst fixierte Filme sind, die träge in einem geschlossenen Universum existieren und die man mit Anerkennung für technische und visuelle Fähigkeiten, mit einem kleinen Appläuschen für soziales Bewusstsein, aber im Endeffekt doch mit ziemlicher Gleichgültigkeit betrachtet und sich mit Sicherheit kein zweites Mal ansieht.

Samstag, 31. Oktober 2020

Hansal Mehtas OMERTÀ – Der Sadismus des Terroristen

Hansal Mehtas OMERTÀ (2017) ist eine Art Gegenstück zu seinem vier Jahre vorher entstandenen SHAHID (2013). Beide Filme beruhen auf Tatsachen, sind frei biografisch, und in beiden Filmen spielt Rajkummar Rao die zentrale Hauptrolle. Ging es aber in SHAHID um unschuldig des Terrorismus Angeklagte, die trotz fehlender Beweise oft jahrelang im Gefängnis sitzen, befasst sich OMERTÀ mit der echten Ware. Im Mittelpunkt steht der Aufstieg einer zentralen Figur des internationalen Terrors, des Briten Omar Saeed Sheikh, eines Gewaltverbrechers voller Fanatismus und Sadismus. Mehta liefert hier, wie in SHAHID, eine dramaturgisch verdichtete Interpretation der Ereignisse, die sich nicht zurückhält in ihrer ungeschminkten Porträtierung. Und es geht um mehr. In den immerhin nur 100 Minuten langen Film werden mehrere Dinge gleichzeitig erzählt, die sich überschneiden, ergänzen, ineinander übergehen. Und so ist OMERTÀ ein sehr reicher, dicht inszenierter, sowohl spannender als auch aufschlussreicher Film, der sich nicht mit der Außenperspektive einer rein biografischen Erzählung zufrieden gibt.

Zunächst einmal geht es um die Radikalisierung eines jungen Briten, der sich auf fast schon masochistische Art und Weise mit Schreckensbildern von serbischen Massakern an Bosniern aus dem Jugoslawienkrieg selbst radikalisiert. Nachgeholfen wird vom Imam in der heimischen Moschee, was daran erinnert, dass man immer wachsam sein muss. Und so beginnt die Terrorkarriere, von der Ausbildung hin zur Praxis. Bemerkenswert ist das gute Funktionieren des internationalen Netzwerks des Terrors.

Aber OMERTÀ ist auch eine Erfolgsgeschichte, eine echte „success story“. Man sieht Omar in seiner ersten großen Aktion, der Entführung von Amerikanern in Neu-Delhi, in dessen reges Straßenleben er sich chamäleongleich einfügt. Mit kaltblütigem Charme macht er sich Freunde bei dummen, vertrauens- und bierseligen Westlern, die auf ein bisschen Nettigkeit hereinfallen. Es folgt seine Verhaftung und die Freipressung aus dem Gefängnis nach einer Flugzeugentführung. Dann ist Omar beteiligt an der Entführung des Journalisten Daniel Pearl, den er eigenhändig köpft. Vollendet ist der Aufstieg in Pakistan. Eine zünftige Heirat folgt. Und plötzlich ist er bürgerlich arriviert, da, wo er hergekommen ist. Das ist es, was er wollte. An die Spitze des Terrors. Fast noch mehr als islamischer Terrorist, ist er ein bourgeoiser Karrierist.

OMERTA ist eben auch das subtile Porträt eines Machtgierigen, eines Gestörten, eines Sadisten. Da gibt es zwei sehr aufschlussreiche Szenen. Einmal das Verprügeln eines Terroristen-Kollegen, der sich über den verwöhnten britischen Mittelklasse-Bubi lustig macht. Um Omars Lippen spielt hinterher ein befriedigtes, zufriedenes Lächeln. Und dann die Ermordung und das Köpfen von Daniel Pearl in reiner Ekstase, das wieder dieses glückliche, direkt erotisch aufgeladene sadistische Lächeln erzeugt. Mehta erfasst das Wesen des Terroristen und seiner zwangsläufigen Entmenschlichung und inneren Leere. Es gibt auch Archivaufnahmen des echten Omar Sheikh. Rajkummar Rao hat es gut studiert, dieses perverse, gottverlassene Lächeln. Rao erfasst Omar überhaupt ausgezeichnet in seiner Doppelgesichtigkeit, dem scheinbaren Charme und der totalen inneren Kälte, die dieser sich bewusst erarbeitet hat.

OMERTÀ ist nebenbei auch das Porträt eines Staates, dem man besser nicht über den Weg traut. Pakistans Geheimdienst ISI ist in OMERTÀ an allem beteiligt, was in der Region passiert. Sie können Omar als gebildeten Briten gut gebrauchen, auch als Symbolfigur. 2020 wurde übrigens die Verurteilung wegen Mordes gegen Omar Sheikh und seine Gehilfen durch den pakistanischen Supreme Court wieder rückgängig gemacht. Die Berufung läuft aber noch.

Freitag, 30. Oktober 2020

PUTHAM PUDHU KAALAI – Echte Lockdown-Wunder

 

Ein Episoden-Film zum Thema Corona-Lockdown, da kann spontan erst mal so manche Befürchtung aufkommen. Aber der schöne Film PUTHAM PUDHU KAALAI, ein tamilischer Amazon-Prime-Originalfilm, vermeidet konsequent und erfolgreich jede politische, soziale, ökonomische und medizinische Diskussion zu dem Thema. Er zeigt auch keine Menschen in Angst und Furcht und Panik vor einem Killervirus. Er zeigt den Lockdown eher als eine Art von der Regierung verordnete Naturkatastrophe, der man sich gezwungenermaßen und ohne Widerstand beugt, über deren Sinn oder Unsinn aber gar nicht diskutiert wird. Wie angenehm anzugucken, wo im echten Leben doch nur die totale Zurückgezogenheit die einzige sichere Gewähr dafür ist, nicht ständig über Corona reden oder etwas darüber hören zu müssen.

Nun ist es ja an sich immer ein bisschen schwer, Episodenfilme zu mögen, selbst wenn die besten Regisseure beteiligt sind. Das übergreifende Thema kann sehr allgemein, sehr abstrakt sein wie etwa eine bestimmte Stadt oder ein Gefühl. Die einzelnen Kurzfilme sind folglich oft in ihrem Stil, ihrer Haltung, auch ihrer Qualität so unterschiedlich, dass es sich schnell mühselig anfühlen kann, sich ständig auf Neues einzulassen. Doch dieser tamilische Film ist ganz anders, weil der Ort der Handlung und die Stimmung jeweils sehr ähnlich sind, so dass es keine extremen Brüche zwischen den Teilen gibt. Da ist also ein echter Zusammenhang. Man wird nicht aus dem Konzept, aus den Emotionen heraus transportiert.

In vier der fünf Filme – der fünfte fällt amüsant-angenehm aus dem Rahmen – geht es um eine Wiederannäherung von Menschen, die sich im Trubel des Alltags fremd geworden sind oder aus den Augen verloren haben. Der Lockdown schleudert sie aus dem Trott, setzt das Leben auf Pause, der Zwang der Lage kann zu einer neuen Perspektive führen. Es gibt ein begrenztes Personal, zwei bis fünf Hauptfiguren, viel Dialog. Die Geschichten spielen in einem Haus, gehobene Mittelklasse mit genug Raum. Lockdown in einer kleinen Wohnung in einem Chawl oder in einem Slum sieht natürlich anders und beengter aus. Die Örtlichkeiten in PUTHAM PUDHU KAALAI sind ganz einfach die Voraussetzung für das Versöhnliche, realistisch Wunderbare, das den Kern der Storys ausmacht.

Und so setzt der Film gegen das ganze vielleicht von der Krankheit, vielleicht aber auch bloß von ihren Verwaltern angerichtete Elend einen schönen Kontrapunkt, den man einfach mögen muss. Man könnte aus diesen Stoffen überlang gedehnte Feelgood-Filme machen. Aber als höchstens 30-minütige, präzise erzählte Kurzfilme funktioniert das alles ausgezeichnet. Und es ist, ebenfalls ganz im Gegensatz zu anderen Episodenfilmen, praktisch unmöglich, einen Lieblingsbeitrag auszuwählen. Denn irgendwie gehören sie alle zusammen. Das alles ist einfach schön. Es ist heiter, rührend, bezaubernd und gleichzeitig sehr natürlich und ungekünstelt.

Es beginnt mit „Ilamai Idho Idho“ von Sudha Kongara, ein verspielter Film über die Liebe an sich. Die Hauptfiguren sind zwei Verwitwete, aber Liebe macht bekanntlich in jedem Alter jung, also sehen wir auch einen Teil des Films einfach junge Menschen, eben so, wie die beiden sich fühlen. Gibt es Probleme, dringt die Wirklichkeit hinein, und sie sind wieder ihr biologisches Selbst, ein älterer Mann und eine ältere Frau. In Gautham Vasudev Menons „Avarum Naanum – Avalum Naanum“ kommen sich Großvater und Enkelin generationsübergreifend näher. Sie begreift langsam den wahren Grund für die Entfremdung zwischen Mutter und Großvater. Am Ende gibt es eine musikalische Versöhnung. „Coffee, Anyone?“ ist von Suhasini Maniratnam, der Ehefrau von Mani Ratnam, der mitgeschrieben hat. Aus dessen Sicht ist es eine Fortsetzung des Themas seines großartigen Films über Jugend und Altwerden O KADHAL KANMANI (2015). Ein alter Mann holt, gegen den Widerstand seiner Töchter, seine im Koma liegende Ehefrau zu sich nach Hause. Er will sie nicht mehr leiden sehen. Ganz automatisch weint man sich bei der scheinbar Bewusstlosen aus. Und auch hier geschieht ein Wunder. Hierin ein Plädoyer gegen seelenlose moderne Lebenerhaltungsmedizin zu sehen, wäre übertrieben, aber es ist zumindest eins gegen den blinden Glauben daran.

In den letzten beiden Filmen spielt Kokain eine kleine Nebenrolle. In „Reunion“ von Rajiv Menon sehen sich alte Schulfreunde wieder, ein mit der Mutter lebender junger Arzt und eine Barsängerin, die dort mitten im Lockdown zufällig gestrandet ist. Problematisch wird es, als ihr der Drogenvorrat ausgeht. Diese Episode ist zurückhaltend, lässt am Ende aber die Chance auf ein Wunder. Vorausgesetzt die Protagonisten greifen zu. Als hätte Gottes Hand zusammengeführt, was zusammengehört. Nur die letzte Episode „Miracle“ von Karthik Subbaraj ist ganz anderes mit seiner exzentrischen Gangsterthematik, bildet aber einen schönen Schlussgag. Zwei kleine Ganoven sind auf Beutejagd gegen den drohenden Hunger. Und wie die dänische Olsenbande entgeht ihnen der große Coup. Aber am Ende gibt es einen überglücklichen Filmregisseur, praktisch wiederauferstanden von den Toten. Noch ein echtes Wunder.

Dienstag, 27. Oktober 2020

J.P. Duttas PALTAN – Grenzkampf im Niemandsland

Im Mai und Juni 2020 kam es zu, im wörtlichsten Sinne, handgreiflichen Grenzstreitigkeiten zwischen China und Indien in Ladakh in Kaschmir und weiter südlich in Sikkim. Die Auseinandersetzungen in Ladakh führten zu schweren Verletzungen bei indischen Soldaten, ohne dass ein Schuss abgefeuert wurde. 20 von ihnen starben schließlich. Vermutlich wurde mit Steinen geworfen und geprügelt bis zum Totschlag. Die chinesische Seite gab keine Zahlen über Verletzte und Tote an die Öffentlichkeit. Wenn sich also in J.P. Duttas Hindi-Film PALTAN (2018) chinesische und indische Soldaten über eine primitive Grenzmarkierung hinweg prügeln und mit vom Boden aufgesammelten dicken Steinbrocken bewerfen, dann ist das nicht einfach bloß eine historische Szene von 1967, sondern es hat aktuelle, ganz allgemeine Bedeutung, auch wenn der Film zwei Jahre vorher entstanden ist. An der Grenze brodelt es ständig.

PALTAN ist an sich ein Kommentar zum Verhältnis der beiden Länder. Regisseur Dutta sagte: „PALTAN enthält alles, was ich über die indisch-chinesischen Beziehungen sagen wollte.“ Bei diesen Grenzstreitigkeiten geht es im Kern darum, dass China die alten Kolonialgrenzen nicht anerkennen will. Und heutzutage geht es auch um die expansive Strategie Chinas, die nicht nur in Indien als „Schuldenfallenpolitik“ kritisiert wird, und womit China sich überall einkauft, wo es geht und Länder von sich abhängig macht. Wie übrigens auch in Griechenland oder Bulgarien. Es gibt Grund genug, sich ein Beispiel an Indien zu nehmen und gegenüber Chinas „Belt and Road Initiative“ großes Misstrauen zu haben.

CIA-Karte: Shows southern part of China and northern part of India. Border disputes marked. (Wikimedia Commons)
 
Nach der Unabhängigkeit waren die Beziehungen beider Länder eigentlich positiv. Die Verschlechterung setzte mit dem indischen Asyl für den Dalai Lama im Jahre 1959 und der Veränderung im chinesisch-sowjetischen Verhältnis ein. Der erste Krieg zwischen China und Indien begann dann 1962 mit einem für Indien überraschenden und massiven Überfall, der viele indische Soldaten das Leben kostete. Ein hinterhältiger Überfall, aber die Inder waren auch in gutgläubiger Weise nicht vorbereitet. Die naive Politik des Vertrauens auf den Friedenswillen des Nachbarn, mit dem man brüderlich in Frieden leben wollte, war also vorbei. Chetan Anand machte aus diesem Trauma mit HAQEEQAT (1964) einen seiner besten Filme. 1967 schien sich Ähnliches in Sikkim zu wiederholen. In Nathu La kam es im September zu mehrtägigen kriegerischen Handlungen. Aber diesmal waren die Inder strategisch und moralisch besser vorbereitet und entschieden die Kämpfe für sich. PALTAN ist eine Interpretation dieser Ereignisse aus indischer Sicht. Geschildert wird der Krieg von 1967 ganz bewusst auch als Vergeltung für die Hinterhältigkeit von 1962. Man kann es also durchaus patriotische Propaganda nennen. Das fängt schon bei den Gesichtern an. Die chinesischen Soldaten sind ständig wütend und aggressiv, hassverzerrt. Die indischen Soldaten gucken wie normale Menschen.

Auch wenn man die vielen negativen Kritiken nicht teilt, muss man zugestehen, dass PALTAN zwischendurch tatsächlich ein zwiespältiges Erlebnis ist. So sind beispielsweise die Rückblenden der einzelnen Soldaten auf das Leben zu Hause eine erhebliche Schwachstelle und wirken eher wie lebendige Postkarten, die einen nicht wirklich berühren. Wenn man die Soldaten auf ein zerknittertes schwarzweißes Foto von Frau, Kindern, Familie gucken sieht, ist das weitaus bewegender. Auch das Zusammenleben der Soldaten wirkt manchmal etwas hölzern, aber im Endeffekt überwiegen doch die positiven Elemente.

PALTAN beginnt gleich beeindruckend mit zwei ausgezeichneten Szenen, die das Jahr 1962 prologartig zusammenfassen. Es beginnt mit einem blutigen Massaker der chinesischen Kommunisten an indischen Soldaten. Als Nächstes sieht man einen Briefträger, der sich mit dem Fahrrad durch die Straße eines Dorfes bewegt und bei einer Familie nach der anderen ein Telegramm abliefert, worauf dann hinter den hohen Mauern das große Klagen beginnt, ohne dass man irgendetwas sieht. Es wäre besser gewesen, diesen elliptischen, zurückhaltenden Stil auch weiter beizubehalten, dann wären da beispielsweise nicht die erwähnten Postkartenszenen, die natürlich auch einen Gegensatz bilden sollen zu der öden, kargen Berglandschaft, wo es nichts als Sand und Steine gibt. Das Beste aber an PALTAN ist, wie detailliert die Entwicklung dieses Grenzkonflikts gezeigt wird, aber vielleicht muss man sich für die Feinheiten internationaler Politik und des Militärs interessieren, um das alles mächtig spannend und interessant zu finden. Aber es ist Dutta anzurechnen, dass er diese kleinen Einzelheiten, die langsame Eskalation, nicht vereinfacht.

Indien-China, das ist für J.P. Dutta vor allem eine Auseinandersetzung zweier Mentalitäten. Auf der einen Seite steht eine maoistische Politik der Provokation und Hinterhältigkeit, der die Inder mit ihrem direkteren Denken und Zugang zunächst nichts entgegenzusetzen haben. Dann kommt ein neuer befehlshabender Offizier, gespielt von Arjun Rampal, der in England war und vom britischen Militär Taktik gelernt hat. Und er hat die Unterstützung des zuständigen Generals. Die Strategie lautet von nun an, schlauer zu werden, auch so unverschämt zu sein wie der Gegner. Die maoistische Terrortaktik geht von der ständigen Verstörung des Gegners aus, also muss man die Chinesen selbst aus der Fassung bringen. Das zerstört ihre Sicherheit, die oft nur eine künstliche Maske ist. Wenn die Chinesen in einem Scheinangriff auf die Grenze zustürmen, wo sie dann stehenbleiben, dann macht man eben auch mal dasselbe. Die Chinesen errichten einen Bunker, heben einen Schützengraben auf indischem Gebiet aus? Dann muss eben ein Zaun errichtet werden. Und so werden all die kleinen Eskalations-Schritte bis zur unvermeidlichen Auseinandersetzung gezeigt. Der Film endet dann, wie er angefangen hat, mit einer dramaturgisch verdichteten Schlacht mit vielen Toten. Im Ganzen also für etwa 150 Minuten gar nicht so viel Action. Aber genau da liegt ja, trotz der Schwächen, die Stärke des Films.


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Samstag, 24. Oktober 2020

Nawazuddin Siddiqui in RAAT AKELI HAI – Es ist eine grausame Welt

 

Honey Trehans RAAT AKELI HAI (2020), nach einem Drehbuch von Smita Singh, beginnt, wie zur Illustration des Filmtitels "Die Nacht ist einsam", sehr düster, sehr brutal und sehr rätselhaft mit einem ganz offensichtlich gut geplanten Doppelmord in dunkler Nacht auf einsamer Landstraße irgendwo im Niemandsland Nordindiens, im Bundesstaat Uttar Pradesh. So wie der polizeiliche Ermittler dieses Hindi-Films sich später den Weg durch das Gestrüpp aus Fährten, Vermutungen und Indizien erkämpfen muss, durchschneiden in einer eröffnenden weiten Totalen die Scheinwerfer eines kleinen Autos das dichte Dunkel der Nacht. 

Nur dass die Aufdeckung der Wahrheit hier noch gestoppt werden kann, zumindest für die nächsten fünf Jahre. Denn nach einem provozierten Autounfall werden zwei Kehle aufgeschlitzt und die Leichen vor dem Verscharren mit Säure unkenntlich gemacht. Dieser grausame Prolog legt die atmosphärische Grundlage des Films und liefert zusätzlich einen gewissen Wissensvorsprung für den Zuschauer, der in der zweiten Hälfte des Films wichtig wird. Dadurch verliert man sich nicht zu sehr in dem großen Rätsel und kann die Geschichte auch unter anderen Blickwinkeln betrachten.

Es gibt in RAAT AKELI HAI eine Reihe solcher düsterer Thriller-Elemente, also das, was man alles heutzutage in einer fürchterlich unklaren Begriffsexpansion „Noir“ nennt. Wie beispielsweise bei „Nordic Noir“. Aber trotz dieser „Noir“-Elemente geht es nach dem Vergangenheits-Prolog erst einmal in eine ganz andere Richtung. Der Zuschauer befindet sich plötzlich mitten in einem klassischen Whodunit, in einer Geschichte mit der einfachen Frage: Wer ist der Mörder?

Ein Polizist wird an einen Tatort in einem großen palastartigen Haus gerufen. Die Dekorationen einer Hochzeitsfeier werden gerade abgebaut. Auf seinem Bett liegt tot und mit eingeschlagenem Gesicht das Familienoberhaupt, das soeben seine viel jüngere jahrelange Geliebte geheiratet hat, da er in die Politik wollte. Die ist jetzt die vielgehasste Erbin. Jeder aus der großen Familie ist verdächtig. Nach und nach tauchen Motive und Beziehungen der Personen untereinander auf. Das alles könnte im Kern ein Krimi von Agatha Christie sein. Der sture ermittelnde Polizist, der unbedingt die Wahrheit finden will und sich von nichts davon abhalten lässt, hat etwas von einem Byomkesh Bakshi in Uniform, um lieber ein Beispiel aus der indischen Tradition zu wählen.

RAAT AKELI HAI bedient sich auch bei klassischen Verschwörungs-Standards. Polizeichef, Politiker, in so einem Film müssen die einfach irgendwie mit in das Böse verwickelt sein. Und die Atmosphäre des großen Palastes, die Untaten eines bösen, autoritären Familienoberhauptes an wehrlosen Frauen, zusätzlich ein geheimnisvolles Landhaus, all das erinnert dann auch wieder an die Zutaten des klassischen indischen Mystery-Films, in dem die unnatürlich Verstorbenen ständig präsent sind. So zieht die fließend und zurückhaltend erzählte Geschichte langsam immer größere Kreise wie eine sich ausdehnende kleine Welle in einem Teich.

RAAT AKELI HAI ist bemerkenswert wegen seiner ganz natürlich wirkenden Stil- und Erzählsicherheit. Die rauen Actionszenen werden ohne künstliche Effekte eingebunden, wobei der Film allerdings trotz der Eingangssequenz wenig explizite Gewalt enthält und es eher die allgemeine Atmosphäre der Gewalt und der Unterdrückung ist, um die es hier geht. Es gibt keine Anpassung an die vielen kleinen Bildschirme, auf denen ein Netflix-Film geguckt wird. RAAT AKELI HAI ist eigentlich ein echter Kinofilm, den man gerne auf der großen Leinwand entdeckt hätte. Das Gesamtergebnis ist bemerkenswert für einen Debütregisseur, der allerdings seit fünfzehn Jahren als Casting Director arbeitet, darunter bei einer ganzen Reihe von brillanten Filmen, und der auch schon Second-Unit-Regiearbeiten für Vishal Bhardwaj oder Abhishek Caubey erledigt hat. Und bekanntlich ist Casting ja die halbe Miete. Honey Trehan hatte da besonders bei den beiden Hauptrollen einen untrüglichen Riecher und wählte Nawazuddin Siddiqui als moralischen Ermittler und Radhika Apte als zunächst abweisende, aber innerlich sehr emotionale und traurig resignierte Geliebte.

Eine leicht komödiantische Entspannung bieten die Auseinandersetzungen zwischen Ermittler und seiner Mutter, die ihn endlich verheiraten will, auch wenn er aus dem heiratsfähigen Alter schon heraus ist, wie sie sagt. Sie läuft mit seinem Foto herum, zeigt es ledigen jungen Damen. „Zu dunkel“ ist eine der Antworten. Er benutzt daher heimlich Hautaufheller, will aber als nicht idealer Bräutigam die ideale Frau, was natürlich eine nicht aufgehende Gleichung ist. Seine Mama weiß das.

Dieses Mutter-Sohn-Geplänkel dient aber zu mehr als dem privaten Kennenlernen der Hauptfigur. Es bildet den Rahmen für die allgemeine Thematik, die des Patriarchats. Das ist sowohl ein reales Problem in Indien, aber auch ein bisschen ein Modethema, bei dem man vorsichtig sein muss und wo man sich das große Ganze angucken sollte. Totalitäre Frauenherrschaft im Politischen oder Privaten ist schließlich auch nicht beglückender. Man schaue sich bei uns hier im Westen nur das eindeutig psychopathisch gepolte Gender-Matriarchat an. Es sollte eher ganz allgemein um Herrschaft an sich gehen. Aber man muss RAAT AKELI HAI zugestehen, dass hier alles andere als billige und einfache Patriarchats-Kritik geliefert wird. Denn gezeigt werden Patriarchat und Matriarchat in stiller und mörderischer Eintracht vereint, sofort bereit, die Töchter für die Söhne zu opfern.

Dienstag, 20. Oktober 2020

Hansal Mehtas SHAHID – Die Beschleunigung der Justiz

 

Hansal Mehtas auf Tatsachen beruhender Hindi-Film SHAHID (2013) beginnt mit einem Mord, den man nicht sieht, sondern nur hört. Der Mord an einem offensichtlich Ahnungslosen, der seine Mörder gerade noch freundlich hineingebeten hat. Kurz danach fallen Schüsse. Am Ende des Films, als dieser Augenblick wiederholt wird, sieht man die Mörder nur als verschwommene Schemen.

Dass dieser Mord im Jahre 2010 an dem Anwalt Shahid Azmi einer mit Ansage war, davon handelt SHAHID auch. Denn ernst zu nehmende Drohungen gegen ihn hatte es schon lange gegeben. Und alles im Prinzip nur, weil Shahid seine Arbeit als Anwalt korrekt ausführt, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen ohne Zynismus, ohne aufs Geld zu schielen, ohne die Verdrehung von Tatsachen und Beweisen, ohne manipulierte Zeugen. Er verteidigt bevorzugt Menschen, gegen die es keine ausreichenden Beweise gibt und die daher als unschuldig zu gelten haben.

SHAHID schildert ein Land mit einem an sich absolut funktionierenden Rechtssystem, das aber einerseits zu langsam arbeitet und wo andererseits in gewissen Fällen Teile der Bevölkerung und auch des Staatsapparates nicht der Meinung sind, dass die Prinzipien des Rechtsstaates konsequent Anwendung finden sollten. Das gilt vor allem für die Anti-Terror-Gesetze. Und viele von Shahids Klienten sind nun einmal individuelle Kollateralschäden der Anti-Terror-Ermittlungen und sich daraus ergebender Verhaftungen. Mit seinen erreichten Freisprüchen blamiert er ein unter Druck stehendes Ermittlungs- und Anklagesystem, das zur Not auch manipuliert. SHAHID demonstriert dies anschaulich anhand von zwei beispielhaften, dramaturgisch verdichteten Fällen. Ungemütlich für Shahid wird es besonders, als er Angeklagte der schlimmen islamischen Terrorattentate von 2006 verteidigt.

SHAHID beruht auf gründlichen Recherchen, wobei auch mit der Familie gesprochen wurde. Shahid Azmi macht das, was ihm richtig erscheint, ein bisschen auch, als könnte er die eigenen Wunden damit heilen. Denn er hat genug eigene Erfahrungen. Als junger Mann mit Brüdern und Mutter übersteht er 1992 schwere anti-islamische Ausschreitungen. Danach sieht man ihn in einem Ausbildungslager von Kaschmir-Terroristen. Aber dort ist er nur kurz, denn daraus flieht er, als er anschaulich den wahren Kopf-ab-Sadismus dieser Menschen vorgeführt bekommt. Aber die Spur seiner Verbindung verschwindet nicht und wegen einer Telefonnummer auf dem Handy eines Terroristen kommt er ins Gefängnis. Dort gerät der leicht naive junge Mann fast an die Dschihad-Rattenfänger, die Nachwuchs und Neuzugänge mit schönen, sanften Worten und geschliffener Rhetorik für später rekrutieren. Davor wird er bewahrt von zwei Helfern, einem Professor und einem unschuldig eingesperrten Mann, die ihn ermuntern weiter zu lernen und zu studieren. Und tatsächlich schafft er es, wieder draußen und als unschuldig rehabilitiert, Anwalt zu werden.

Rajkummar Rao, der hier seine große Durchbruchsrolle hatte, macht bis zum Schluss keinen Helden aus Shahid. Am Anfang wirkt er bloß wie ein verwirrter großer Junge, der auf naive Weise wütend wird und dies fast in Terrorismus kanalisiert hätte. Aber eine gewisse Getriebenheit bleibt, und die nutzt er für seine Arbeit. Das Justizsystem ist zu langsam? Er beschleunigt es mit unbestechlicher Logik. Er bringt Tempo, Energie, Ungeduld und Empörung in diese träge, manchmal auch bewusst träge, Ermittlungsbürokratie. Seine besondere Art kann privat aber ebenso unerwartet, direkt verstörend auf die Menschen in seiner Umgebung wirken. Einen Heiratsantrag stellt er ganz unvermittelt in einer nicht sehr gepflegten Lokalität. Er bekommt jede Hilfe seiner traditionellen Familie, verschweigt aber die Heirat mit einer modernen, geschiedenen jungen Frau. Aber im Endeffekt ist ihm die Arbeit immer wichtiger als das Persönliche. Er kann nicht aufhören, und Rao spielt dies eher als unaufhörliche innerlich notwendige Zwangshandlung denn als irgendwie bewussten Heroismus.

Diese Darstellung der Figur Shahid passt zu dem sehr improvisiert gedrehten Film mit seinem rauen Stil und der alles andere als gelackten, einheitlichen Lichtsetzung. SHAHID ist ein sehr angespannter Film, ruhelos, mit leichter Nervosität, ohne jedoch hektisch zu sein. Die Lebensstationen gehen ziemlich eilig ineinander über und es gibt mit intensivierter Dramatik eine Konzentration auf das Wesentliche. Die Kamera ist beweglich, anpassungsfähig. Kleine, kaum merkbare Jump Cuts in derselben Einstellung, mal ein Stück näher, dann ein Stück weiter, sorgen für eine gedankliche Fragmentierung, obwohl alles zeitlich chronologisch erzählt wird. Zu Recht hat Editor Apurva Asrani Drehbuch-Credits bekommen, denn tatsächlich trägt diese Erzählweise mit ihrem regelmäßigen, aber unaufhörlich pulsierenden Rhythmus, unerhört viel zu Inhalt und Atmosphäre bei.

Samstag, 26. September 2020

Raj Kumar Guptas GHANCHAKKAR – Geld und Eifersucht

GHANCHAKKAR (2013) ist der einzige der fünf Spielfilme von Raj Kumar Gupta mit echten, starken Komödien-Elementen. Eigentlich hat er ja bisher vorwiegend sehr ernste Thriller-Dramen gedreht – fiktiv authentisch oder sogar direkt inspiriert von wirklichen Ereignissen – auch wenn sein bisher bestes Werk, der Steuerfahndungs-Film RAID (2018) mit Ajay Devgn, ausgeprägt absurd-komische Momente hat, wenn man etwa als Zuschauer aus dem Staunen über die erfindungsreichen Schwarzgeldverstecke auf dem Anwesen nicht herauskommt.

GHANCHAKKAR (2013) ist einer dieser schönen Filme, die zwischen den Stühlen sitzen und schwer einzuordnen sind, aber auch nicht zum Masala-Film gehören, wo ja so ziemlich alles erlaubt ist. Vielleicht eine Erklärung dafür, dass es leider nicht den eigentlich verdienten Erfolg gab. Es beginnt als Ehekomödie, wird dann zum heiteren Heist-Film und vermischt dann Ehe- und Eifersuchtsdrama mit dem Thriller-Genre, alles gewürzt mit krudem Humor. Ohne die Ehegeschichte wäre GHANCHAKKAR im Übrigen einer von vielen absurden Thrillern, bei denen in den Kritiken grundsätzlich mindestens einmal auf Tarantino verwiesen wird. Wer aber Entsprechendes in Reinform erwartet, der wird tatsächlich enttäuscht, denn lange Zeit dreht sich die Handlung bloß ziemlich still stehend im Kreis, während sich ein Ehedrama entspinnt. Und dann hat es zwischendurch mehr mit Claude Chabrols Eifersuchtsdrama DIE HÖLLE (1994) zu tun als mit oft zum Zynismus neigenden Thrillern.

Im Mittelpunkt steht ein Ehepaar: Emraan Hashmi als echt authentischer Ehemann wie aus dem Bilderbuch: träge und ständig vor dem Fernseher. Vieles lässt er einfach nur resigniert und regungslos über sich ergehen. Vidya Balan ist die muntere, quietschlebendige Ehefrau, die immer etwas overdressed die neuesten Sachen an der Grenze zur Geschmacklosigkeit trägt, denn ihre Nase steckt ständig in Zeitschriften wie Vogue und Femina. Und sie kann sehr böse werden, wenn jemand den Salzgehalt ihres gekochten Essens kritisiert.

Dann bekommt der Mann von zwei kleinen, etwas trotteligen, aber ganz und gar nicht ungefährlichen Gangstern das Angebot eines nächtlichen, sehr einträglichen Bankraubs, zu dem er nicht nein sagen kann. Die Frau gibt immerhin ordentlich Geld aus, und er selbst könnte einen neuen großen Fernseher gebrauchen. Vor allem die Aussicht auf Letzteres lässt sein sonst etwas apathisches Gesicht merklich aufleuchten. Nach dem Coup soll er das Geld aufbewahren. Drei Monate später wollen die anderen beiden das Geld teilen, aber der Mann hat aufgrund eines Unfalls das Gedächtnis verloren. Oder zumindest Teile davon. Das kann sich sehr unterschiedlich äußern, erläutert sein Arzt. Und tatsächlich wird es immer schlimmer mit ihm. Oder tut er nur so? Das fragt ihn selbst seine Frau, die ins Zweifeln geraten ist. Zweifel und Unsicherheit sind bis zum Schluss elementare Bestandteile von GHANCHAKKAR und sorgen für die bis zum Schluss anhaltende innere Spannung.

Raj Kumar Gupta erzählt das alles mit seinem gewohnten einfachen, direkten Realismus ohne Effekte. Es gibt nach und nach eine vorsichtige Steigerung der Intensität, des Rhythmus, ganz unmerklich. Die Suche nach dem vergessenen Geld ist eine ständige, erfolglose, absurde Wiederholung mit leichten Variationen, parallel zu seiner Vergesslichkeit. Mit dem steigenden Druck, endlich das geraubte Geld finden zu müssen, und seiner gleichzeitig immer schlimmeren Vergesslichkeit wird der Mann hilfloser, aber nach und nach auch aggressiver, was ja eigentlich ganz gegen seine Natur ist. Das ist eine Wut als Reaktion auf das Entgleiten seiner Welt. Hashmi ist ausgezeichnet. Und da seine Figur sonst so still ist, überzeugen die Ausbrüche um so mehr. Große Teile des Films sind reines Kammerspiel in der Mittelklasse-Wohnung des Ehepaares. Gupta behält die Zügel bis zum Schluss kontrolliert in der Hand, lässt die Story nicht entgleiten. Also auch wenn die Handlung am Ende in den Irrsinn abgleitet, bleibt alles übersichtlich. Und auf einen blutigen bizarren Höhepunkt folgt ein düsterer Anti-Klimax.

Aber GHANCHAKKAR ist eben auch der erwähnte Ehe- und Eifersuchtsfilm, ein Film über Misstrauen und Wirklichkeit. Denn je mehr der Mann vergisst, um so mehr bastelt er sich die Einzelteile, die er zufällig mitbekommt oder erfährt und die an die er sich erinnert oder nur zu erinnern glaubt, zusammen und trifft doch nie die Wahrheit. Dieses immer psychotischere, nur scheinbar sinnvolle Zusammenfügen einzelner Indizien, ergibt in Wirklichkeit eine total schiefe Fiktion, ein Wahnbild. Er beginnt mit kleinen Einbildungen und verliert sich in einem klebrigen Netz aus reinen Vorstellungen und falschen Schlüssen. Der Stress macht es natürlich nicht besser. Gupta geht hier wie nebenbei, im Rahmen von Genre-Elementen, sehr rational und unsentimental, aber unterlegt von stiller Tragik, mit dem Verlust des Ichs, der Persönlichkeit und der Vergangenheit um. Im weitesten Sinne gehört GHANCHAKKAR natürlich zu den modernen Demenz-Filmen, die aber immer ein bisschen auf die Betroffenheits-Tränendrüse drücken, was ein einfacher Weg ist. Aber auch GHANCHAKKAR erweist sich am Ende als ein trauriger Film.

Dienstag, 22. September 2020

Pradeep Sarkars COLDD LASSI AUR CHICKEN MASALA (Staffel 1) – Beziehungsberatung

Hindi-Regisseur Pradeep Sarkar hat am Anfang seiner Spielfilmkarriere – vorher war er erfolgreicher Werbefilmer – zwei ausgezeichnete Melodramen gedreht, die zu den schönsten Hindi-Filmen der letzten fünfzehn Jahre gehören und die man gesehen haben sollte: PARINEETA (2005) und LAAGA CHUNARI MEIN DAAG (2007). Und nach einem mittelmäßigen Krimi gab er dem Thriller MARDAANI (2014) mit Rani Mukherji genau das richtige subtile emotionale und visuelle Gerüst. Grund genug eigentlich, sich für seine weiteren Filme zu interessieren, aber langsam komme ich leider in Zweifel. Die letzten beiden Produktionen, in denen er Regie geführt hat, sind enttäuschend gewesen.

2018 drehte er mit Kajol die Komödie HELICOPTER ELA über eine Helikopter-Mama, die überall da hingeht, wo ihr Sohn auch hingeht. Und der Film war schwer aufzutreiben, richtig schwer. Um so größer dann die Enttäuschung. Vermutlich gibt es ja Hardcore-Kajol-Fans, die alles toll finden, was sie tut. Die dürfen gerne ihren Spaß haben. Was ich gesehen habe, war aber, dass die Hauptrolle von einer Frau gespielt wird, die aussieht wie Kajol und die so tut, als wäre sie die junge Kajol von KUCH KUCH HOTA HAI (1998), was ja doch eine ganze Zeit her ist. Und so hüpft da ein Kajol-Klon wie ein nicht zu bremsender Gummiball durch den Film. Das kann aber nicht Kajol sein. Denn die ist doch zu intelligent für so was. Alles in allem bloß eine Solo-Nummer, wo die eine oder andere Szene mal gelungen ist, aber das große Ganze enttäuscht.

Und dann drehte Sarkar 2019 die Fernsehserie COLDD LASSI AUR MASALA, eine 12-teilige Serie von etwa sechs Stunden über Kochen und Liebe. Eine verbitterte alleinerziehende Mutter arbeitet als Chefköchin in einem Restaurant, das die Besitzerin wegen zu viel Stress gerne verkaufen möchte. Gesagt, getan, es wird übernommen von einem internationalen, indischen Spitzenkoch, der ganz und gar zufällig der Ex-Mann der Köchin und Vater ihres Sohnes ist, den er noch nie zu Gesicht bekommen hat. Das wäre im Hollywood der 1940er eine „Comedy of Remarriage“ geworden. Heutzutage als Spielfilm eine unschlagbares Rezept für einen gut durchgekochten Feelgood-Film. In der modernen TV-Version ist es eine Soap mit Schmunzeleinlagen.

Die Handlung bietet eigentlich allenfalls Stoff für einen 2-Stunden-Bollywood-Film plus eine halbe Stunde Musik und Tanz. Das wäre vielleicht ganz nett geworden und vielleicht auch ein bisschen witziger. Aber bei 12 Folgen muss natürlich alles gedehnt werden. Die Szenen. Die Dialoge. Die Probleme. Überhaupt die ganze Handlung. Die Zweiteilung des Bollywood-Films wird hier verwandelt in eine Story mit ständigen Rückblenden, die nie aufhören und im Grunde doch immer wieder dasselbe zeigen. Für solch eine dramaturgische Folter hat man das Wort „Tautologie“ erfunden. Alles wird ohne Leerstellen direkt und platt serviert. Mein Wille, bis zum Ende durchzuhalten, um zu sehen, was Sarkar aus so etwas gemacht hat, wurde argst strapaziert. Manchmal, wenn die Beteiligten nicht aufhörten zu reden, malte ich mir aus, wie ein psychopathischer Humorist durch ein Fenster springt und allen einfach den Mund zuhält. Hätte ich Asthma, hätte ich vielleicht einen Anfall gekriegt.

Dabei ist alles durchaus elegant und schön gefilmt. Es könnte bestimmt viel kitschiger sein. Und auf das Essen hat man mit Hilfe von realen Kochprofis richtig viel Sorgfalt verwendet. Die Schauspieler sind sympathisch. Da erkennt man einige gute Ansätze, die das Serienformat an sich aber von alleine ruiniert. Das ist eben das moderne Serienproblem. Jede Form von Stil oder erzählerischer Ökonomie verschwindet unter dem Strom des endlosen und sinnlosen Erzählflusses. Kaum ist da mal ein Augenblick, der überzeugt, der echt wirkt, dann hört er nicht mehr auf. Er hört einfach nicht auf und alles verwandelt sich in unerträgliche Unnatürlichkeit und Gestelztheit und die Schauspieler wirken wie unfähige Amateure. Und dass es am Ende nicht auf das einfache Happy End zusteuert, hat ja auch nichts mit Ehrlichkeit zu tun. Man muss alles für eine mögliche zweite Staffel offenhalten.

Aber eigentlich zielt meine Kritik am Ziel vorbei. Denn eigentlich ist das weder ein Film noch eine Serie, sondern eine moderne Beziehungsberatung, auch wenn man am Sinn der Psycho-Operation zweifeln kann. Der obligatorische männliche Freund der weiblichen Hauptfigur ist ein Psychiater und so unterhalten sie sich auch ständig.